Zeitzeug_innengespräche zu 1989

Dissidenz, Hoffnung und Transformation - Gespräche mit Akteurinnen und Akteuren von Opposition und Wende 

20 Jahre 1989 bedeutet für den Stiftungsverbund, die Akteure der Zeit zu Wort kommen zu lassen und zu befragen, um ein differenziertes Bild der vielen Motive Bewegungen, Hoffnungen und Formen zu zeichnen und widerspiegeln zu können. 1989 ist dabei für uns ein Scharnier für eine längere Phase von Dissidenz, politischem Engagement und gesellschaftlicher Transformation.

Mit den Gesprächen entsteht ein Puzzle von Demokratie und Werteorientierungen, dass die vielen Ansätze und Ideen darstellt. Die Gespräche verdeutlichen die Vielschichtigkeit, die Unterschiedlichkeit und Pluralität, die sich wieder unter dem Verständnis von Demokratie zusammenfindet.

Die Gespräche wurden 2009 in unterschiedlichen Formen geführt und dokumentiert. Manche enstanden in längeren Interviews und sind hier in Auszügen dokumentiert, manche entstanden als journalistische Gespräche nach öffentlichen Veranstaltungen, einige kamen im Rahmen eines Schüler_innenprojektes zu stande. Die Gespräche werden laufend ergänzt.
Zum einen wird in den Gesprächen die Geschichte vor und nach 1989 lebendig erzählt, so dass Jüngere oder Unbeteiligte diese Geschichte erfahren, bsser verstehen oder interpretieren können. Dabei wird auch die Relevanz von politische Haltungen und Engagement für die Gegenwart deutlich.

Interviews

Heute bin ich glücklich, aber unzufrieden

Ulrich Patzer, geb. 1937, Dipl. Geophysiker, 3 erwachsene Kinder, verheiratet, kam 1957 zum Studium nach Leipzig. Mit Beginn der achziger Jahre war er in einer Umweltgruppe in der Gesellschaft für Natur und Umwelt im Kulturbund aktiv und engagiert sich bis heute für den Radverkehr in und um Leipzig.   Haben Sie damals daran gedacht, die DDR zu verlassen? Es waren sehr pragmatische Gründe, die mich in der DDR gehalten haben. In den 50er Jahren habe ich gerade studiert. Da habe ich mir gesagt, jetzt machst du erst einmal das Studium fertig, denn wenn du jetzt rüber gehst, musst du Studiengebühren bezahlen, woher willst du die nehmen? Hier hatte ich mein Stipendium und mein Auskommen. Und deswegen bin ich hier geblieben. Tja und nach dem Mauerbau bin ich nicht mehr gefragt wurden, ob ich abhauen will oder nicht. Das heißt, später wollte ich auch nicht mehr weg. In den Vorwendezeiten bin ich auch erst auf den Nikolaikirchhof gegangen, als die Rufe kamen: Wir bleiben hier. – Und nicht die Rufe: Wir wollen raus. Das Friedensgebet und alles drum herum, das ist ja auch von denen, die abhauen wollten, instrumentalisiert wurden. Das wird ihnen ja von manchen kirchlichen Kreisen heute noch ein bisschen übel genommen – und wie ich finde, zu Recht – dass sie das benutzt haben, um auf sich aufmerksam zu machen, damit sie möglichst bald rauskommen. Ich habe mir gesagt, wenn dem Staat die Jugend wegrennt, dann hat er sowieso keine Chance mehr. Da muss sich etwas ändern und wir bleiben hier.

Jaromír Boháč

Jaromír Boháč absolvierte ein Studium für Ökonomie, bevor er 1968 endlich  Fächer seiner Wahl studieren konnte: Bohemistik und Germanistik. Im Mittelpunkt seiner Arbeit im Museum und im Kreisarchiv in Cheb (Eger) stand die Geschichte und Landeskunde des Egerlands. Nach 1989 gehörte er zu den Förderern der deutsch-tschechischen Zusammenarbeit.    Die Tschechoslowakische Staatsbürgerschaft besaßen nur meine Mutter, wegen Vater, und mein Groβvater, weil er Sozialdemokrat war. Alle anderen galten als Staatenlose. 1951 wurden plötzlich alle Deutschen eingebürgert. Ab 1962 konnte man, glaube ich, auch wieder in das nicht-sozialistische Ausland reisen. Sofort entstand eine große  Auswanderungswelle. Langsam verschwand die deutsche Welt aus der Tschechoslowakei. Ein anderer Grund war, dass die Leute alt geworden waren. Mein Großvater war damals auch schon sechzig. Sie trafen sich jeden Sonntag in der Kneipe „U Polze Pepiho“ zum Frühschoppen. Es ging dort immer ganz lustig zu. Die deutsche Welt zeichnete diese besondere Geselligkeit aus. Mit der ersten Auswanderungswelle Anfang der sechziger Jahre fing sie an zu verblassen. Nach der letzten Welle 1969 war diese Welt verschwunden. Ich weiß es: 1975 saßen drei verlassene, alte Männer traurig am Tisch beieinander. Sie waren die letzten. Sie murmelten nur noch halbe Sätze. Der Lebensspaß, der sozial-sprachliche Kontext, war inzwischen völlig verloren gegangen. Die Welt war auf diese drei kleinen Figuren zusammengeschrumpft, die auf den Tod warteten und sich den Untergang ihrer Welt gegenseitig bestätigten.