Andreas Horn, geboren 1952, Pfarrer, verheiratet, 3 Kinder
Andreas Horn war Gast bei einer öffentlichen Veranstaltung von Weiterdenken am 7. Mai 2009 im Stadtmuseum Dresden unter dem Titel:
Ende der Lügen
Die Wahlfälschung im Mai 1989, Wahlkontrolle und Opposition
Das Interview führte die Journalistin Claudia Hempel (http://www.claudia-hempel.com/)
Das komplette Interview kann hier nachgelesen werden (pdf-Datei, 99 kB).
Wo waren Sie am 9. November 1989, am Tag der Maueröffnung?
Ganz genau kann ich mich nicht mehr erinnern, aber vermutlich hatte ich Konfirmandenunterricht und habe das erst im Laufe des nächsten Tages und auch da erst am Abend erfahren.
Ich weiß noch, dass mich ein Verwandter anrief, aber ehrlich gesagt, habe ich es ihm nicht richtig geglaubt. Ich dachte, wer weiß, am Ende ist das ein Gerücht, was da durch die Medien geht. Aber es sich ja bestätigt. Ich habe es dann noch einmal ausführlich im Deutschlandfunk gehört.
Was ging Ihnen dabei zuerst durch den Kopf?
Mein Gefühl war geteilt. Einerseits war da schon große Freude, das ist überhaupt keine Frage, denn es gab schon den sehnlichen Wunsch danach, dass die Grenze durchbrochen wird, dass die Grenze weg kommt. Andererseits hatte ich auch ein klein wenig Zweifel – ist das jetzt der richtige Moment? Lenkt uns diese geöffnete Grenze nicht nur von den Aufgaben ab, die vor uns liegen? Ich habe mir vorgestellt: Was wird passieren? – Alle fahren rüber, alle nutzen die Gelegenheit und keiner kümmert sich mehr um die dringlichen Aufgaben. Wir waren ja vollauf damit beschäftigt, darüber nachzudenken, wie es politisch weitergehen soll.
Hatten Sie mit der Maueröffnung gerechnet?
Man hat damit gerechnet, dass bestimmte Regeln formuliert werden, zu welchen Anlässen und wie lange die Menschen in den Westen reisen können, dass es aber am Ende darauf hinauslief, dass es gar keine Einschränkungen gibt, damit haben wir nicht gerechnet.
Durften Sie vor dem 9. November 1989 schon reisen?
Ja, ich war vorher zweimal im Westen zu einem persönlichen Anlass in der Familie. Es gab ja die Möglichkeit unter bestimmten Bedingungen zu reisen, wie runde Geburtstage, Hochzeiten, Taufen oder Beerdigungen . Und so war ich schon zweimal im Westen.
Kirche im Sozialismus
[To view the Player you will need to have Javascript turned on and have Flash-Player 9 or better installed.]
0) { var arrTmp = new mtSubMedia("Kirche im Sozialismus", "/data/audio/horn.mp3"); var iTest = arrSub.unshift(arrTmp); } // title, description, mediasource, imgsource, pagesource, pubdate, subtitles arrMedia[0] = new mtMedia("Kirche im Sozialismus", strDescription, "/data/audio/horn.mp3", "", "http://" + strWebsite + "/web/demokratie-zeitgeschichte-412.html", "", arrSub); if (arrMedia.length > 0) { // arrPages[0] = mtPage(pageitems) -- getPageItems(iIndex, iPageId) arrPages[0] = new mtPage(getPageItems(0, -1)) ; strMediaURL = arrMedia[0].mediasource; strPageURL = arrMedia[0].pagesource; } var flashvars = {}; flashvars.mediaURL = strMediaURL; flashvars.teaserURL = ""; flashvars.fallbackTeaserURL = ""; flashvars.allowSmoothing = "false"; flashvars.autoPlay = "false"; flashvars.buffer = "6"; flashvars.showTimecode = "false"; flashvars.loop = "false"; //flashvars.controlColor = "0x99ff33"; //flashvars.controlBackColor = "0x000000"; flashvars.scaleIfFullScreen = "true"; flashvars.showScalingButton = "false"; flashvars.defaultVolume = "50"; //flashvars.indentImageURL = "indentImage.png"; flashvars.crop = "false"; flashvars.overlayid = "412"; var params = {}; params.menu = "false"; params.allowFullScreen = "false"; params.allowScriptAccess = "samedomain"; params.wmode = "transparent"; var attributes = {}; attributes.id = "nonverblaster"; attributes.name = "nonverblaster"; attributes.bgcolor = "#383D38"; //attributes.className = "nonverblaster"; swfobject.embedSWF(strPlayerURL, "audioPlayer-412", "608", "50", "9.0.0", "/data/flash/expressinstall.swf", flashvars, params, attributes); registerForJavaScriptCommunication("nonverblaster"); //createNodesForOverlay (oMtMedia, iPageId) createNodesForOverlay (arrMedia[0], 412); try { if (eventTracker) eventTracker(strMediaURL); } catch (e) {} // ]]]]> //-->
0) { createNodesForTeaser(0, -1, true); } // ]]]]> //-->
Wie sind Sie in der DDR aufgewachsen?
Nun, ich stamme aus einer tradierten Pfarrersfamilie und habe meine Kindheit im Vogtland verbracht. Allerdings wollte ich selbst zunächst gar nicht Pfarrer werden, sondern Architekt. Das war mein feststehender Berufswunsch seit der Kindheit. Das hing mit meinem Onkel aus Wolfsburg zusammen. Zu ihm hatte ich eine sehr enge Beziehung und er war Architekt. Ich war dort als Kind häufig, auch für längere Zeit.
Ich hatte mich an der TU Dresden beworben, wurde aber abgelehnt, weil ich den Wehrdienst verweigert habe. Das wurde mir auch damals sehr deutlich so gesagt.
Als Pfarrerskind hatte man bestimmt eine gewisse Außenseiterposition in der DDR?
Spätestens in der Schule hat sich das deutlicher bemerkbar gemacht. Ich war in der 1.Klasse bei den Pionieren. Dann bin ich ausgetreten. Das war natürlich eine Entscheidung meiner Eltern, aber das galt dann auch für alle anderen Organisationen. Es wurde in der Familie entschieden, dass sowohl ich, als auch meine Geschwister dort nicht Mitglied sind.
Sind noch mehr Schüler in Ihrer Klasse christlich erzogen wurden?
Ja, ich würde mal sagen, zwei Drittel der Schüler unserer Klasse gingen in die Christenlehre. Die fand unmittelbar im Anschluss an den Unterricht statt, aber ich hatte deutlich den Eindruck, dass die Schule Druck ausübt, um diese Anzahl zu verringern.
Wie war es später? Sie sind von einem vogtländischen Dorf in die Großstadt Dresden umgezogen. Das bedeutete eine andere Schule, andere Lehrer, andere Mitschüler.
1963 sind wir umgezogen, da war ich in der 4. oder 5. Klasse. Das war eine große Umstellung, eine völlig neue Erfahrung. Wir haben uns aber relativ schnell in Dresden eingelebt. Auch in der Schule. Ich hatte eine tolle Klassenlehrerin, das war eine Physiklehrerin und ich hatte bei ihr von Anfang an das Gefühl, sie behandelt mich wie die anderen Schüler, das lief sehr fair, fast könnte man sagen, sie hat mich ein wenig auch in Schutz genommen, wenn man es von heute so betrachtet.
Sie wollten Architekt werden, das ging nur mit Abitur. War es schwer einen Platz auf der Erweiterten Oberschule zu bekommen?
Ich spürte irgendwann, ich muss gut sein in der Schule, damit ich Abitur machen kann. Ich bin dann aber nach der 8.Klasse ganz einfach ohne weitere Gespräche, ohne Druck oder Sonstiges ganz normal auf die Erweiterte Oberschule gewechselt, das war die Romain-Rolland-Oberschule in Dresden. Das war überhaupt nicht schwierig. Ich habe einfach einen Antrag gestellt und es klappte. Ich weiß nicht, woran das liegt. Vielleicht habe ich es bestimmten Lehrern zu verdanken oder der Schule oder auch, dass immer mal wieder bewusst ein Nicht-FDJ-Mitglied zugelassen wurde, damit man nach Außen die Toleranz des Staates demonstrieren konnte. Ich weiß es nicht.
Trotzdem Sie den Wehrdienst verweigert haben, hat es mit der Erweiterten Oberschule geklappt. War das auch der Bonus Pfarrerskind?
Wahrscheinlich ja. Die meisten Gespräche wurden darüber geführt, ob die Schüler drei Jahre zur Armee gehen sollen. Dieses Gespräch wurde aber mit mir gar nicht geführt, weil ich von vornherein schriftlich erklärt habe, dass ich den Wehrdienst ablehne und Bausoldat werde. Diese Entscheidung ist mir allerdings später bei der Bewerbung für das Studium zum Stolperstein geworden.
Wie das?
Nun, ich hatte ein Bewerbungsgespräch und dort wurde mir sehr deutlich gesagt, dass ich nicht Architektur studieren kann, weil ich den Wehrdienst verweigere.
Hatten Sie Wut auf den Staat?
Natürlich hatte ich auch Wut auf diesen Staat. Aber diese Wut bestand in so einer Kontinuität, dass mir dieser Moment der Ablehnung jetzt gar nicht als so ein besonders emotionaler Moment in Erinnerung geblieben ist. Diese Wut passte sich wie ein Puzzlestück in eine lange Kontinuität ein und hat eher das Gesamtgefühl der Ablehnung gegenüber diesem Staat verstärkt. Also die Ablehnung dieses Staates als System.
Wie ging es weiter?
In dieser Situation hat mein Vater mir den Vorschlag gemacht: Du könntest ja in Leipzig an der kirchlichen Hochschule anfangen und Theologie studieren.
Ich bin allerdings nicht sehr sprachbegabt und ich wusste, wenn man Theologie studiert, muss man Latein, Hebräisch und Griechisch lernen. Darauf hatte ich überhaupt keine Lust und ich hatte auch keine genauere Vorstellung von einem Theologiestudium. Und am Ende, erinnere ich mich, bin ich nach Leipzig gefahren, ohne eigentlich zu wissen, was da jetzt genau auf mich zukommt.
Ab wann hatten Sie denn in dem Studium, das Sie sich ja nicht selbst ausgesucht haben, Feuer gefangen?
Eigentlich sofort, nachdem ich alle Sprachprüfungen bestanden hatte. Da wurde dieses Studium eine ganz spannende Sache für mich. Gerade die Entwicklung einer freien Diskussionskultur war mir vorher in dieser Weise nicht bekannt. Ich habe das zwar aus der Kirchgemeinde ein wenig gekannt, aber auf so hohem Niveau ist mir das vorher nie begegnet. Also dass in Vorlesungen auch über Philosophen der westlichen Welt diskutiert wurde, das kannte ich so vorher noch nicht. Marcuse, Adorno, Jaspers, Horkheimer. Das war für mich faszinierend und ich habe mit zunehmender Begeisterung Philosophie studiert.
Was hat Sie an der Philosophie interessiert?
Die Philosophie hat uns gezwungen über bestimmte Dinge, auch politische, nachzudenken. Wie stellen wir uns unsere Zukunft vor? Kann es einen Sozialismus mit menschlichem Antlitz geben?
Also der Sozialismus spielte in der Theologie schon eine Rolle?
Ja, unbedingt. Ich meine, das war doch unsere Lebensrealität. Ich kann mich noch gut an ein Buch erinnern von Milan Machowitz, das war ein Marxist, der sich intensiv mit dem Christentum auseinandergesetzt hat. Das war ein Buch, das ich intensiv durchgearbeitet habe. Das war für mich spannend und das hatte ich so vorher noch nie gehört. Ein Marxist, der einen anderen Sozialismus anstrebt und sich gleichzeitig sehr intensiv mit dem Christentum auseinandersetzt. Wir hatten auch Marxismus als Unterrichtsfach. Das fand extern statt, bei einem marxistischen Hochschullehrer, der für die Theologiestudenten den Unterricht gemacht hat. Das war für ihn ein schweres Brot. Dreißig Theologiestudenten, die alle kritisch dachten und diese Theorie als Diskussionsstoff betrachteten, das war für ihn sehr schwierig.
Haben Sie an die Möglichkeit eines christlichen Wertemodells im Sozialismus gedacht?
Das war für uns zumindest nicht ausgeschlossen. Ein Sozialismus, der demokratisch funktioniert, der vielleicht auch seine atheistische Weltanschauung vertritt, aber in einer völlig anderen Praxis, als wir es in der DDR erlebt haben. Unsere Idee damals war, die DDR oder die sozialistischen Staaten insgesamt müssen so verändert werden, dass sie demokratische Mindestprinzipien einhalten. Freie Meinungsäußerung. Ein Freiraum für die Kirche, die öffentlich auftreten darf und ein völlig anderes Rechtssystem. Das war der Gedanke: Es muss in einem sozialistischen Staat ein unabhängiges Rechtssystem geben. Unabhängige Richter, die unabhängig von der Weltanschauung und unabhängig von der politischen Einstellung ein Urteil treffen. Es war doch offensichtlich, dass das in der DDR überhaupt nicht funktionierte. In so einem Staat war für uns Kirche als gleichberechtigte Instanz denkbar. In der Endkonsequenz habe ich das aber immer im Zusammenhang mit der Wiedervereinigung gesehen. Davon habe ich geträumt.
Wann kam der Gedanke an die Wiedervereinigung auf?
Das war erst während des Studiums. Ich habe irgendwann in Geschichte eine Semesterarbeit geschrieben bei dem Dozenten Karl-Heinz Blaschke über das Konkurrenzverhältnis von Österreich-Ungarn-Preußen – und ich erinnere mich sehr genau an die letzten Sätze in dieser Arbeit. Die waren ganz eindeutig darauf gerichtet, als Zielvorstellung eine Einheit Deutschlands wieder herzustellen.
Das hing sicherlich auch mit dem Lehrer zusammen, der einfach in den Vorlesungen von seiner Haltung solche Gedanken auch zugelassen hat.
Wie haben Sie den Einmarsch der Warschauer- Pakt-Truppen in die Tschechoslowakei erlebt?
Ich war damals in Bad Gottleuba mit meinem Vater zu zweit im Urlaub und wir haben das sehr unmittelbar erlebt, weil das Militär dort stand. Das war sehr bedrückend. Und natürlich brach da eine Hoffnung zusammen, denn wir verbanden natürlich mit Dubcek eine Hoffnung, weil wir aus unserer Perspektive damals erkennen konnten – über den Umweg der Westmedien – dass dort ein anderer Geist am Werk ist. Ein Geist, so war damals unsere Sicht, der gewisse demokratische Prinzipien und zugleich eine neue Vision verkörpert. Diese Vision hat man ganz deutlich gespürt. Es ging nicht mehr darum, Macht lediglich zu verwalten, sondern die Urprinzipien der sozialistischen Internationale wieder zum Vorschein zu bringen. So haben wir es damals eingeschätzt. Und diese Hoffnung wurde abrupt begraben.
Nachdem das passiert war, sahen wir keine Hoffnung mehr im Ostblock.
Welche anderen politischen Ereignisse haben Sie in der DDR geprägt?
Wesentlich positiver hat mich 1986 der Olof-Palme-Friedensmarsch geprägt.
Das war in Dresden die erste Demonstration an der ich teilgenommen habe, die eindeutig politischen Charakter hatte und über das, was bis dahin politisch möglich war, nämlich sich mit Kerzen und Gesängen jedes Jahr am 13.Februar zu treffen, weit hinausging. Es wurden Transparente getragen. Ich habe dort zum ersten Mal in meinem Leben ein Transparent gebaut und getragen. Da stand drauf: GEHEN IST BESSER ALS STEHEN. Ich hatte ein paar Schuhe an das Plakat gebändelt.
Zeitgleich fand in Dresden auf dem Theaterplatz eine Kundgebung statt, das wussten wir. Wir Demonstranten versammelten uns an der Reformierten Kirche und wir gingen dann über das Terrassenufer zum Theaterplatz. Dort trafen dann die beiden Gruppen aufeinander. Das war einer der emotional spannendsten Momente, die ich überhaupt erlebt habe. Die Leute auf dem Theaterplatz, die dort aus den Schulen und Betrieben kamen, die hörten dort einem Redner zu und plötzlich tauchten Demonstranten auf mit Schildern und die beiden Gruppen vermischten sich und es gab plötzlich Diskussionen zwischen den beiden Gruppen über den Inhalt der Transparente. Das fing erst einmal mit Olof Palme und Frieden an und wechselte dann aber sofort in eine allgemeine politische Diskussion. Das war nach meiner Erinnerung das erste Mal in Dresden eine öffentliche Veranstaltung in dieser Massivität. Da hat man deutlich gespürt, was da ausgelöst wird. Auch die völlig irritierten Gesichter der Anderen vergesse ich nie, die konnten sich gar nicht vorstellen, dass da plötzlich Leute mit Transparenten umherlaufen und dass das möglich war. Das war ein erster Ermutigungsschub.
Haben Sie jemals an Ausreise gedacht?
Nein. Das stand außerhalb jeglicher Überlegung. Für uns war klar: Hier ist der Platz, der uns von Gott vorgegeben ist und hier sollen wir wirken. Egal, was passiert.
Woran haben Sie die politischen Veränderungen in den 80er Jahren in der DDR festgemacht?
Der entscheidende Umstand war Gorbatschow. Das war der Moment, der auch meine Haltung verändert hat, im Sinne einer Ermutigung. Also, das was vorher für uns unvorstellbar war, war die SU und wenn sich der höchste Mann dieses Landes für Perestroika und Glasnost einsetzt, dann war das eine neue Möglichkeit. Und wir merkten das auch in jedem Gespräch mit Staatsvertretern, dass sie sich einfach anders verhielten, also verhalten mussten, weil plötzlich die eigene Ideologie nicht mehr stimmte. Also mit dem Satz: „Von der Sowjetunion lernen heißt siegen lernen“, konnte man ja früher jede Diskussion abwürgen. Das war ein Totschlagargument. Doch plötzlich bekam dieser Satz eine ganz neue Bedeutung.
Waren Sie jemals in der DDR wählen?
Nein. Es war in meiner Familientradition einfach selbstverständlich, dass man nicht zur Wahl ging. So bin ich auch nie zur Wahl gegangen.
Allerdings erinnere ich mich an eine ganz andere Situation. Wir wohnten in der Nähe von Leipzig auf einem kleinen Dorf, als ich an der kirchlichen Hochschule gearbeitet habe. Und an einem Wahlsonntag kam plötzlich der Bürgermeister in unsere Wohnung mit der dringenden Bitte an der Wahl teilzunehmen. Er hatte die Wahlurne auch gleich mitgebracht. Ich habe ihm daraufhin dargelegt, warum ich so eine Wahl nicht mit meinem Gewissen vereinbaren könne und daraufhin sagte er: Tun Sie es doch bitte um meinetwillen. Tun Sie mir den Gefallen und werfen Sie den Zettel hier rein!
Haben Sie sich unter Druck gesetzt gefühlt?
Natürlich. Das war eine Erpressung. Ich habe trotzdem nicht gewählt, aber die Situation hat mich noch wochenlang begleitet.
Und doch waren Sie 1989 zwar nicht zur Wahl, aber bei einer Wahlveranstaltung.
Im Frühjahr 1989 war die Situation eine völlig andere, denn schon im Vorfeld stand die Frage im Raum, wie wird diese Wahl vor dem Hintergrund von Gorbatschow, Sputnik-Verbot und Ausreisewelle ablaufen? Alle spürten, dass etwas anders war.
Im Vorfeld der Wahlen gab es ja immer Wahlveranstaltungen und dort war es üblich, dass Beschwerden der Bürger entgegen genommen wurden. Die Wahl wurde also auch als ein Kommunikationsfeld betrachtet, zwischen Bürger und Staat. Man konnte sich dort über bestimmte Dinge beschweren, wie kaputte Dächer oder andere Dinge, welche die Leute auf dem Herzen hatten, die wurden notiert und der eine oder andere Abgeordnete bei den Kommunalwahlen hat sich dann durchaus bemüht, da Abhilfe zu schaffen. Das war ein Ritual.
Und Sie wollten diesen Kommunikationsbedarf nutzen?
Genau. Deshalb bin ich dorthin und habe auf dieser Veranstaltung auch die politische Situation im Grundsatz angesprochen. Ich erinnere mich deshalb auch so genau, weil ich mir das, was ich sagen wollte, auf einem Zettel notiert habe, weil ich damit gerechnet habe, dass danach etwas passiert. Verhaftung oder anderes. Ich wollte nachweisen können, was ich dort gesagt habe.
Was haben Sie dort gesagt?
Das war sinngemäß so: Sicher, solche Fragen wie die kaputten Dächer sind wichtig und das belastet auch die Bürger, aber wir müssen doch irgendwann einmal erkennen, dass die eigentlichen Probleme auf einer ganz anderen Ebene liegen. Wir müssen uns doch die grundsätzlich Frage stellen: Warum gelingt es hier nicht, einen normalen Dialog zwischen den Bürgern und dem Saat herzustellen. Warum gelingt es uns wirtschaftlich nicht, die Häuser in Ordnung zu halten, bis hin zu der Frage, warum gelingt es nicht auch einmal über die Verfahren bei dieser Wahl generell zu sprechen.
Wie haben die Leute im Raum reagiert?
Da war erst einmal ein großes Schweigen und auch große Betroffenheit, aber plötzlich war es so, als wenn man aus einem Fass einen Stöpsel zieht. Da meldeten sich dann zeitgleich mehrere und stellten einfach diese Grundsatzfrage: Was ist in diesem Land los? Warum wollen so viele Menschen ausreisen? Warum ist denn so vieles kaputt?
Wie haben Sie sich danach gefühlt?
Es ging mir danach erst einmal gut. Ich hatte das erste Mal für mich selbst auch das Empfinden, es ist wichtig, dass auch ich mich einmische, um die öffentliche Diskussion zu ermöglichen. Dort hatte ich das Gefühl, das ist meine Aufgabe, denn ich war ja durch die Kirche eine geschützte Person und aus dieser Position heraus konnte ich andere ermutigen.
Wie kam es schließlich zu der Idee die Kommunalwahlen am 7. Mai 1989 zu beobachten?
Der Gedanke war vielleicht schon früher da, aber man hat es nie gemacht. Wahrscheinlich weil man dachte, das hat keinen Sinn. Aber plötzlich hatte man das Gefühl, vielleicht macht es ja jetzt Sinn. Es gab meines Wissens keine Stelle, die Einsatzpläne gemacht hätte, wer was kontrolliert. Und trotzdem war am Ende in fast jedem Wahllokal einer dabei, der sich Notizen gemacht hatte.
Wo waren Sie?
Ich war selbst bei der Wahl nicht dabei. Ich hatte, ehrlich gesagt, Hemmungen an einer Wahlauszählung teilzunehmen bei einer Wahl, an der ich nicht beteiligt war. Ich habe lange geschwankt, aber am Ende habe ich mich dagegen entschieden.
Wie ging es nach der Wahl weiter?
Ich habe viele Zettel mit den einzelnen Ergebnissen von Gemeindemitgliedern und auch von Leuten, die ich gar nicht kannte, bekommen. Daraus habe ich meine eigenen Hochrechnungen angestellt. Nach meinen Berechnungen waren die einzelnen Zahlen in den Wahllokalen korrekt, bis auf die Frage, wie man einen einzelnen Wahlzettel bewertet. Dort gab es immer Diskussionen. Normalerweise war es so, dass, wenn nicht alle Namen durchgestrichen waren, es als Ja-Stimme gilt. Das wusste aber niemand, denn es war nirgends offiziell bekannt gegeben. Ich hatte selbst mal an die Zeitung geschrieben, mit der Bitte, mir mitzuteilen, wie eigentlich eine Nein-Stimme aussieht. Auch in der Wahlveranstaltung habe ich diese Frage gestellt, sie wurde mir aber nie beantwortet.
Ich habe dann von zwei Wahllokalen die Ergebnisse in einem Schaukasten veröffentlicht. Das hatte ich vorher noch nie gemacht, daran sieht man, die Situation hatte sich deutlich verändert.
Warum haben Sie das gemacht?
Ich wollte eine öffentliche Diskussion in diese Richtung lenken. Über diese Wahl muss gesprochen werden. Es war ja offensichtlich, dass hier Wahlfälschung vorliegt und das wollte ich öffentlich machen.
Wie kamen Sie zur Gruppe der 20?
Ich war am 8.Oktober bei der Demonstration auf der Prager Strasse. Der Demonstrationszug wurde plötzlich geteilt und es eine große Zahl von Demonstranten wurde von der Polizei eingekesselt, da war ich nicht dabei. Ich war außerhalb auf der Altmarktseite. Ich konnte nur von außen sehen, dass da irgendwas passierte. Da war dann Frank Richter, der Kaplan der Katholischen Kirche und parallel dazu gab es ja schon Gespräche zwischen dem Oberbürgermeister und Superintendent Ziemer und Landesbischof Hempel, sie haben zur gleichen Zeit im Rathaus miteinander gesprochen. Und draußen auf der Strasse hat sich dann die Gruppe der 20 gebildet.
Wie genau ging das vor sich?
Frank Richter hatte einen Polizeiobermeister um ein Gespräch gebeten. Das wurde nicht abgelehnt und daraufhin rief er in die Runde, wer an diesem Gespräch teilnehmen wolle, sollte sich melden. Da meldeten sich ganz viele und so hat Frank Richter ungefähr 20 Namen, das waren ja ein paar mehr, auf einem Zettel notiert.
Was erinnern Sie von diesem Gespräch?
Emotional war das hoch brisant. Zum ersten Mal saßen im allerheiligsten Haus der Staatsmacht für die Stadtebene der OB und Bürger der Stadt. Ganz einfache Bürger der Stadt. Ich kannte keinen von denen. Sie waren aber in einem Punkt alle einer Meinung und der hieß: Wir erwarten Rechtsstaatlichkeit.
Können Sie heute sagen, alle meine Wünsche sind in Erfüllung gegangen?
Alle nicht, einer ist in Erfüllung gegangen. Aber einer ist auch schon etwas und das ist ein entscheidender. Das hängt vielleicht nicht in erster Linie mit der Wiedervereinigung zusammen.
Aber mindestens genauso wichtig ist die wieder errungene Demokratie. Also diese friedliche Revolution, die von den Bürgern der DDR selbst errungen wurde. Die Bürger dieses Landes haben ganz entschieden dazu beigetragen, dass es eine Revolution war und dass es eine friedliche Revolution war und darauf bin ich stolz.
Ich bin auch darauf stolz, dass die Kirche einen so entscheidenden Anteil hatte, dass sie das alles vorbereitet hat.
Inwiefern vorbereitet?
Vorbereitet im Sinne von Demokratie lernen, denn in der Kirche wurde Demokratie gepflegt, das konnte man auch daran erkennen, dass die runden Tische fast überall von Kirchenvertretern geleitet wurde, es gab keine andere Institution, die das leisten konnte.
Und der Verzicht auf Gewalt war eine so tradierte und so starke Bedingung. Das war nicht selbstverständlich, denn Rachegedanken waren ja durchaus bei den Menschen da, gerade in Bezug auf die Stasi. Und dass das so möglich war, das ist ein Wunder.
Wo sehen Sie sich heute?
Ich würde sagen, deutlicher in der Mitte der Gesellschaft. Natürlich ist auch heute noch die Kirche ein besonderer Ort, der aber viel mehr Bestandteil der Gesellschaft ist. Gut, bestimmte politische Dinge haben wir früher oft in der Kirche diskutiert, weil die Opposition keinen Raum hatte, also waren die Mensche auch in der Kirche präsent. Heute spielt sich das auf einer ganz anderen Ebene ab, draußen auf den Straßen oder in anderen Räumen. Man muss nicht mehr in die Kirche gehen, um eine politische Frage in Freiheit und mit demokratischen Spielregeln zu entscheiden. Dazu ist der Kirchenraum als geschützter Raum nicht mehr nötig.
Sind Sie ein politischer Mensch?
Parteipolitisch nicht. Politisch in dem Sinne, dass ich denke, dass eine Kirchgemeinde politisch sein muss. Also zum Beispiel der Autobahnbau - wie wirkt sich so eine Autobahn auf unseren Ortsteil Leubnitz aus? Das war damals eine sehr kleinteilige und detaillierte Arbeit.
Funktioniert der Kapitalismus für Sie?
Ich würde erstmal sagen: Er funktioniert. Der Sozialismus hat nicht funktioniert, so viel weiß ich und ich würde sagen, das hängt damit zusammen, dass der Kapitalismus ein realistischeres Menschenbild hat. Das ist sehr problematisch, weil wir Menschen problematisch sind, aber das ist sein Vorzug. Er geht realistisch mit den menschlichen Interessen um, also auch mit dem menschlichen Egoismus. Aber er ist deshalb nicht für mich der Weisheit letzter Schluss.
Wo sind die Grenzen Ihrer Kapitalismusakzeptanz?
Ich halte es für extrem problematisch, dass man, wie kürzlich passiert, eine Bank als systemrelevant bezeichnet. Wieso eigentlich? Systemrelevant ist die Verfassung und das ist die Trennung von Legislative, Exekutive und Justiz. Oder die Freiheit des Wortes oder die Freiheit der Medien. Aber die Freiheit einer Bank? Damit wird der Staat erpressbar. Ein Staat muss die Freiheit haben eine Bank zu retten oder nicht zu retten.
Sehen Sie für sich eine Chance dort zu intervenieren?
Das kann ich sicherlich nicht lösen, aber es gibt regelmäßige Gespräche zwischen Kirche und Staat und dort muss die Kirche dieses Problem formulieren. Dort sehe ich Handlungsbedarf. Gerade als Pfarrer.