STATION 3: Das Novemberpogrom in Pirna

Zitat von Esra Jurmann zum Novemberpogrom in Pirna 1933

Die Familie Jurmann war eine von mindestens zwölf jüdischen Familien in Pirna. Wolf Jurmann stammte aus einer Lübecker Kaufmannsfamilie und hatte zwei Söhne: Manfred und Esra. In Pirna besaß Wolf Jurmann seit 1926 ein Geschäft für Textilwaren und Bettfedern und zog damit 1929 an den Marktplatz 14. Mit der Macht-übernahme durch die NationalsozialistInnen 1933 begann der systematische Ausschluss der etwa 500.000 Jüd*innen aus der deutschen Gesellschaft. Diskriminierung und Verfolgung gehörten zu ihrem Alltag – auch in Pirna. Am 1. April 1933 begann unter großem Propagandaaufwand der erste deutschlandweite Boykott jüdischer Geschäfte. Deutsche sollten nicht mehr bei Jüdinnen*Juden einkaufen. SS- und SA-Mitglieder verprügelten die Inhaber*innen und zerstörten Regale und Waren. Ilse Engler, eine Jüdin, die in Pirna lebte, schreibt über ihre Mutter:

»Ihre Tapferkeit am 1. April 1933, am Anfang des praktizierten Boykotts der ­jüdischen Geschäfte, ist mir unvergeßlich. Unerschrocken wischte sie die ­Schmierereien der SA-Leute ab, trotz angedrohter Schläge.«1

Neben Händler*innen bezog sich der Boykottaufruf auch auf jüdische Handwerker*innen, Anwält*innen und Ärzt*innen. Nach dieser Boykott-Aktion vom 1. April 1933 wurden mehr als 2.000 antijüdische Verordnungen, Erlasse und Gesetze verabschiedet, die es erlaubten, Jüdinnen*Juden gesellschaftlich, wirtschaftlich und politisch auszugrenzen, zu enteignen, zu deportieren und zu ermorden.

In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 fanden im gesamten Deutschen Reich die Novemberprogrome statt. Die Gewaltaktionen wurden von der NS-Führung zentral organisiert und gelenkt, auf lokaler und regionaler Ebene von Angehörigen der SS und der SA ausgeführt. Auch in Pirna wurden in den frühen Morgenstunden des 10. November Geschäfte zerstört. Esra Jurmann schreibt:

»Ich ging am 10. November 1938, nachdem ich der Schule verwiesen wurde, in das Geschäft meines Vaters. Am Morgen, als ich in die Schule kam, bekam ich ›Blicke‹, neugierig, interes­siert, anders als sonst. Als Herr Gulemann, der Klassenlehrer, mich nach Hause schickte, wußte ich, daß etwas Außer-ordent­liches geschehen war. Was, wußte ich nicht.«2

In Deutschland wurden in dieser Nacht insgesamt 400 Menschen ermordet oder in den Suizid getrieben. Über 1.400 Synagogen, 7.500 Geschäfte und Wohnungen wurden zerstört, jüdische Friedhöfe verwüstet. In den Tagen danach wurden von der Gestapo etwa 30.000 jüdische Männer verhaftet und in Konzentrationslager verschleppt. Hunderte von ihnen wurden dort ermordet oder kamen zu Tode.

Auch Wolf Jurmann wurde verhaftet und ins Konzentrationslager Buchenwald gebracht. Er wurde am 14. Januar 1939 aus der Haft in Buchenwald entlassen, musste aber sein Geschäft aufgeben, die entstandenen Schäden bezahlen und Pirna verlassen.

Die Familie Jurmann zog nach Dresden und bereitete sich auf eine gemeinsame Auswanderung vor. Nach langen Vorbereitungen sollte Großbritannien das Ziel werden. Wolf Jurmann reiste im August 1939 nach England, um dann die Familie nachholen zu können. Mit dem Beginn des Zweiten Weltkriegs war dieser Plan aber dahin und die Familie blieb getrennt. Im Januar 1942 wurden Manfred und Esra Jurmann mit ihrer Mutter und 1.000 anderen Jüdinnen*Juden aus Dresden und Leipzig nach Riga deportiert. Nur der junge Esra Jurmann überlebte und konnte nach der Befreiung durch die Rote Armee zu seinem Vater nach London. In seiner Familie wurden 27 Menschen von den Deutschen in der Shoah ermordet.

Quellen:

Eingangszitat: Hugo Jensch: Als Nazis die Macht übernahmen

1 Hugo Jensch: Als Nazis die Macht übernahmen

2 Hugo Jensch: Als Nazis die Macht übernahmen

Ausgrenzung und Verfolgung von Jüdinnen und Juden

»Wenn du mich nach dem Schlimmsten fragst, das ich erlebt habe, dann kann ich mit einem einzigen Satz antworten: Der Augenblick, in dem ich von meinen Eltern getrennt wurde.«1

Hédi Fried

»Der Welt muss von der Schandtat dieser Barbaren erzählt werden, so dass sie von den kommenden Jahrhunderten und Generationen verabscheut werden können. Und ich bin es, der veranlassen soll, dass dies geschieht. ­Keine Vorstellungskraft, gleich­ gültig wie ­gewagt, könnte möglicherweise verstehen, was ich gesehen und miterlebt habe. Noch könnte es irgendein Stift dieser Welt, gleichgültig wie gewandt, richtig beschreiben. Ich habe vor, alles genau darzustellen, so dass die ganze Welt wissen kann, wie die ›westliche Kultur‹ war. Ich litt darunter, Millionen ­Menschen in ihren Untergang zu führen, so dass viele Millionen Menschen vielleicht davon erfahren könnten. Aus diesem Grund lebe ich. Das ist mein einziges Ziel im Leben.«2

Jankiel Wiernik, 1944

Die NationalsozialistInnen grenzten Jüdinnen*­Juden mit Verordnungen und Gewalt aus allen Gesellschafts- und Lebensbereichen im Deutschen Reich aus. Viele wurden zur Flucht gezwungen – mehr als die Hälfte der 500.000 Jüdinnen*Juden in Deutschland flüchtete bis 1938 ins Ausland. Nach 1938 war eine Flucht jedoch kaum mehr möglich. Im Jahr 1939 begann der Zweite Weltkrieg, der auch ein Vernichtungskrieg gegenüber den Jüdinnen und Juden war. Bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs wurden sechs Millionen deutsche und europäische Jüdinnen*Juden in Konzentrations- und Vernichtungslagern im okkupierten Europa, auf Todesmärschen oder durch Zwangsarbeit ermordet. Wenige Tage nach dem Boykottaufruf jüdischer Geschäfte, Arztpraxen, Anwaltskanzleien und Handwerksbetrieben am 1. April 1933 wurde am 7. April 1933 das »Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums« verabschiedet. Dieses Gesetz verbot es Jüdinnen*Juden, weiterhin als Beamt*innen zu arbeiten. Kurz danach wurde dieses Gesetz auf andere Berufsgruppen übertragen. So war es Jüdinnen*Juden nicht mehr möglich, im Öffent­lichen Dienst, in freien Berufen sowie in Universitäten und Schulen zu arbeiten. Sie durften auch nicht mehr in nichtjüdischen Kulturein-richtungen tätig sein. Ihnen wurde durch das Verbot die Existenzgrundlage entzogen, was viele in die Armut trieb.

Nach den Novemberpogromen 1938 wurde es Jüdinnen*Juden verboten, Einzelhandelsgeschäfte und Handwerksbetriebe zu führen. Ihr Vermögen wurde eingezogen; Grundeigentum, Wertpapiere und Schmuck wurden zwangsverkauft. Sie durften Bibliotheken, Kinos, Theater, Museen und Schwimmbäder nicht mehr besuchen. Sie durften sich nicht mehr auf Parkbänke setzen. Sie durften  nicht mehr Auto fahren und ein Auto besitzen. Jüdische Kinder durften nicht mehr in öffentlichen Schulen lernen. Für Jüdinnen*Juden war nahezu alles verboten.

Mit dem Ausschluss aus dem öffentlichen und privaten Leben begannen jüdische Organisationen 1933 mit dem Aufbau einer jüdischen Selbsthilfe. Zunächst sollten durch die Organisation kultureller Veranstaltungen, durch das jüdische Pressewesen und die Betätigung in jüdischen Sportvereinen das Gemeinschaftsgefühl und die Würde der Jüdinnen*Juden gestärkt werden. Dann ging es bald aber vor allem um die finanzielle und soziale Unterstützung der immer größer werdenden Anzahl jüdischer  Erwerbsloser. So gründete sich auch 1935 die jüdische Winterhilfe, da Jüdinnen*Juden aus der staatlichen Wohl­fahrtspflege ausgeschlossen worden sind. Außerdem war die Vorbereitung und Durchführung der Auswanderung der Jüdinnen*Juden aus Deutschland ein Hauptaufgabenfeld. Mit Beginn des Zweiten Weltkriegs 1939 wurden die Möglichkeiten der Unterstützung immer geringer. Schließlich ging es mit dem Beginn der Deportationen in die Vernichtungslager darum, einzelne Jüdinnen*Juden zu retten.

Verhaftungen von Jüdinnen*Juden aus Deutschland fanden ab 1933 nahezu täglich statt. Die ersten Massenabschiebungen waren im Oktober 1938 die von 17.000 polnischen Jüdinnen*Juden, die in Deutschland lebten. Sie geschah im Zusammenspiel zwischen Polizei, Reichsbahn, Finanzbehörden und Diplomatie.

Die Situation aller europäischen Jüdinnen*Juden radikalisierte sich mit dem Beginn des Zweiten Weltkriegs 1939. Im Oktober 1941 begannen die systematischen Massendeportationen deutscher Jüdinnen*Juden in die von Deutschland besetzten Gebiete wie Polen, die tschechischen Gebiete, Litauen usw. Jüdisches Leben unter deutscher Besatzung wurde systematisch ermordet und ver-nichtet, in Massenerschießungen, aber auch in den Vernichtungslagern Auschwitz, Belzek, Maidanek, Sobibor, Treblinka und Chelmno. Das waren Orte, die für das Ermorden durch das Vergiften mit Gas gebaut wurden.

Die Jüdinnen*Juden in den überfallenen Gebieten konnten nur durch Flucht und Auswanderung, durch ein Leben in der Illegalität und im Versteck, durch Widerstand oder durch Kampf als Partisan*innen überleben. Nur Wenige überlebten die Todesmärsche, Konzentrationslager und

Zwangsarbeit.3

Quellen:

1 Hédi Fried: Fragen, die mir zum Holocaust gestellt werden. 2019, S. 11

2 Jankiel Wiernik: Ein Jahr in Treblinka. 2014, S. 16

3 www.dhm.de, www.yadvashem.org

 

♦ Zum Schauen:

Die USC Shoah Foundation hat ein sehr ausführliches Interview mit dem in Pirna geborenen Juden Esra Jurmann (1929–2014)geführt. Darin berichtet der Zeitzeuge über seine Erlebnisse.



USC Shoah Foundation: Jewish Survivor Esra Jurmann Testimony

Teil 1: https://www.youtube.com/watch?v=7bw3AiuPbQA

Teil 2: https://www.youtube.com/watch?v=vyJTK5exnso



♦ Zum Lesen:

Das AKuBiZ in Pirna hat die Ausstellung »Jüdisches Leben in Pirna und der Sächsischen Schweiz« erstellt. Die Ausstellung ist in regelmäßigen Abständen in der K2-Kulturkiste zu sehen. Sie kann aber auch ausgeliehen und woanders gezeigt werden. Zusätzlich gibt es eine Broschüre zur Ausstellung, die in der K2 und beim AKuBiZ erhältlich ist.



AKuBiZ

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