Alles anders?! - Landwirtschaft neu denken

Welche Rahmenbedingungen brauchen Landwirt*innen, um nachhaltige und für alle bezahlbare Produkte erzeugen zu können? Mit Agrarökonom Sebastian Lakner, Eva Köhler (Solawi Kola Leipzig) und der ehem. Landwirtschaftsministerin Sachsen-Anhalts, Claudia Dalbert, sprachen wir über Ansätze und Bedingungen einer sozialökologischen Transformation der Landwirtschaft.

Blick auf das Podium auf der Bühne. Im Vordergrund die Aufnahmetechnik des Livestreamings

Der Druck auf kleine und mittlere Landwirtschaftsbetriebe ist enorm und mündet in Deutschland bereits seit Jahren in einen Überlebenskampf. Wer keine passende Nische oder eigene Wege der Vermarktung findet, kann neben großen Agrarkonzernen kaum noch bestehen. Große Betriebe erzeugen enorme Mengen an Lebensmitteln und sichern damit die Ernährung großer Bevölkerungsteile. Der dafür zu zahlende Preis für Umwelt, Klima und Gesundheit ist hoch und wird bis heute nicht von den Verursacher*innen gezahlt: verschmutztes Wasser, ausgelaugte Böden, aussterbende Insekten, verschwindende Lebensräume. Den Preis zahlen wir alle. Und die Landwirtschaft zerstört ihre eigenen Grundlagen.

Außergewöhnliches Engagement einzelner Landwirt*innen und Akteur*innen zeigt, dass es auch anders geht: nachhaltige und bezahlbare Erzeugnisse werden produziert. Doch nicht selten waren die politischen Rahmenbedingungen mehr Hindernis als Anreiz. Deshalb besprachen wir am 19. September 2022, was sich an den Rahmenbedingungen konkret ändern muss.

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Für Eva Köhler, Diplom-Agraringenieurin sowie Vorstands- und Gründungsmitglied der Solidarischen Landwirtschaft KoLa Leipzig, zeige es sich angesichts der vielen aktuellen Krisen, dass das Prinzip "Der Markt regele das" nicht funktioniere.

"Ich denke, Klimaschutz und Kapitalismus funktionieren nicht zusammen. Wir müssen mehr über Umverteilung reden, über viel mehr Solidarität (...). Wir müssen viel mehr an Menschen denken, die weniger Geld haben." (Eva Köhler)

Eva Köhler im Gespräch

Mit der Genossenschaft sei eine ökonomische Alternative geschaffen worden. Immerhin produziert KoLa als Ostdeutschlands größte Gemüsegenossenschaft mit und für über 1.100 Mitglieder in und um Leipzig. Sie bieten ein gestaffeltes Preissystem für unterschiedlich gefüllte Geldbeutel der Menschen an. Ihre solidarische Landwirtschaft sei auch ein Beispiel für die Demokratisierung von Wirtschaft: Die Mitglieder sind das höchste Entscheidungsgremium. Der Vorstand wird für jeweils 3 Jahre gewählt. Die Verantwortung wird auf viele Schultern verteilt. So lassen sich auch Risiken leichter aushalten. Doch die Bedingungen, unter denen sie wirtschaften, seien sehr hart. Es reiche am Ende für etwas mehr als eine schwarze Null: Gehaltserhöhungen im Zuge der Inflation seien in dieser Situation sicher wünschenswert aber schwer zu realisieren.

Mittig Sebastian Lakner während eines Redebeitrags

Agrarökonom Sebastian Lakner nahm in seinen drei Thesen vor allem die Agrarpolitik der letzten Jahre ins Visier, um über die Landwirtschaft der Zukunft zu sprechen:

(1) Wir brauchen in der Agrarpolitik mehr „Leadership“ und mehr Mut zum Risiko
Die bisherige Agrarpolitik der letzten 30 Jahre sei eine lange und teure Geschichte des Scheiterns und der Frustration. Es gebe nur wenige Reformen, die echten Fortschritt gebracht haben. Daher brauchen wir in der Förderpraxis effizientere und zielgerichtetere Lösungen. Viele wichtige Maßnahmen werden durch zu hohe rechtliche Barrieren und komplizierte Bürokratie behindert. Wir geben zu viel Geld für weitgehend sinnfreie Maßnahmen aus.

Lakner appelliert an die Agrarpolitiker*innen, mutig „alte Zöpfe“ (va. Direktzahlungen) abzuschneiden, offensiver zu kommunizieren, ihre Politik zu erklären, inklusiv zu handeln und für neue Lösungen zu werben. Die Verwendung von Steuergeldern sollte sich in Zukunft ausschließlich am Prinzip „öffentliches Geld für öffentliche Leistungen“ orientieren.

(2) Ohne ökonomisch tragfähige Alternativen wird die sozial-ökologische Transformation zu mehr Artenvielfalt, Umwelt- und Klimaschutz in der Landwirtschaft nicht gelingen
Für eine Transformation brauchen Betriebe interessante Einkommensalternativen. Klimaschutz und Naturschutz auf dem Betrieb müsse sich für Betriebe rechnen. Hierfür brauche es auch Innovationen und neue Produkte. Leistungen der Landwirtschaft im Umweltbereich müssen besser zertifiziert und kommuniziert werden. Hierzu brauchen wir Wissensvermittlung und fachliche Beratung. Zur Transformation gehört auch, dass wir uns sachlich mit den neuen technologischen Möglichkeiten auseinandersetzen.

(3) Die sozial-ökologische Transformation in der Landwirtschaft ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, bei der alle Beteiligten Schwarz-Weiß-Denken überwinden müssen
Gräben zwischen Stadt und Land sind zu überwinden und für die echten Leistungen der Landwirtschaft solle geworben werden. Hierzu gehöre auch eine neue qualitative Ernährungskultur, eine Umstellung der Ernährungsgewohnheiten (ua. weniger Fleisch) und die Bereitschaft der Konsument*innen für qualitiv hochwertige Lebensmittel auch einen höheren Preis zu bezahlen. Hierzu gehöre jedoch auch, dass mentale Barrieren im Berufsstand überwunden und extremistische Positionen bekämpft werden. Dies kann nur mit einem breiten Kompromiss gelingen, wie ihn z.B. die Zukunftskommission Landwirtschaft erzielt hat.

Starke politische Leitplanken und gemeinsames Handeln seien enorm wichtig für Veränderungen, betonte auch Claudia Dalbert. Veränderungen gingen nur, "(...) wenn die Politik klar sagt, was sie will! Das Rumgeier nützt keinem, auch den Landwirten nicht! Die haben einen Betrieb. Die wollen wissen, was sie planen sollen, wie es in 10, 20 Jahren aussehen soll."

Claudia Dalbert bei Redebeitrag

Als positives Beispiel für mehr Miteinander führte sie ein Modellprojekt aus ihrer Amtszeit als Landwirtschaftsministerin in Sachsen-Anhalt an - das sog. Niederländische Modell: Hier bilde sich ein freiwilliges Kollektiv: In dem Modellprojekt waren es damals über 20 Landwirt*innen. Naturschutzbehörden und BUND seien auch dabei gewesen. Das Kollektiv überlegte gemeinsam, was die drei wichtigsten Naturschutzmaßnahmen seien und welche Flächen dafür vorgesehen werden können. Auch der Antrag erfolge gemeinsam. Der bürokratische Aufwand und die Gefahr der sog. Anlastung (es müssen Gelder zurückgezahlt werden, da die Angaben im Antrag mit der Fläche nicht übereinstimmen) sinken erheblich. Das sei für die Landwirt*innen attraktiv gewesen.

"Die meisten Landwirtinnen und Landwirte wollen ja etwas für den Naturschutz tun, aber es muss sich rechnen und es muss auch machbar sein. Es darf nicht kompliziert sein." (Claudia Dalbert)

Sebastian Lakner betonte, dass die Ökonomie für das Erreichen ökologischer Ziele sehr wichtig sei und brachte zwei unterschiedliche Beispiele: Innovationen und Konsum nachhaltiger Produkte.

Unternehmerische Innovationen - wie es sie z.B. bei der Bewirtschaftung wieder vernässter Moore gebe, etwa bei der Nutzung von Schilf oder Torfmoos -, bergen wirtschaftliches Potential und kommen gleichzeitig dem Klimaschutz zugute. Aktuell würden sich die Produkte, als auch die Märkte für diese Produkte erst entwickeln. Aber wenn sich die neuen Produkte am Markt tragen, werde die Produktion auch für andere Betriebe interessant. Und der Klimaschutz profitiere enorm.

Neben innovativen Produkten sei es auch und gerade in der aktuellen Krisensituation wichtig, ökologisch wirtschaftende Betriebe weiterhin durch den eigenen Konsum zu unterstützen.

Hier knüpfte Claudia Dalbert direkt an und kritisierte die Preispolitik des Lebensmittel-Einzelhandels:

"Wir haben ein Problem mit dem Einzelhandel, weil der Lebensmittel-Einzelhandel natürlich die Hand auf die Preise hat und bei den Bauern nicht viel ankommt. Das ist ein ganz dickes Brett, was auch nicht einfach zu bohren ist." (Claudia Dalbert)

Konsens bestand am Ende bei allen, dass Direktzahlungen künftig an Natur- und Klimaschutzleistungen gebunden werden müssen und nicht länger nach Flächengröße verteilt werden dürfen. Eva Köhler ergänzte, dass in der Politik Klimaschutz oberste Priorität erhalten müsse. Auch sehe sie eine große soziale Ungerechtigkeit - etwa bei der Land- und Ressourcenverteilung oder bei Privilegien in der Landwirtschaft -, die aufgelöst werden müsse. Gemeinschaftliche Strukturen müssten gestärkt werden.

Das Publikum gewichtete am Ende die zweite These am höchsten.

zu den Personen:

Prof. Dr. Sebastian Lakner ist Agrarökonom. Aktuell unterrichtet und forscht er an der Agrar- und Umweltwissenschaftlichen Fakultät der Universität Rostock. Seit 2020 hat er hier die Professur für Agrarökonomie inne. Lakner ist Experte bei Fragen zu wirtschaftlichen und ökologischen Auswirkungen der EU-Agrarpolitik. In seiner Forschung beschäftigt er sich darüber hinaus mit der Nachhaltigkeit von Landnutzungssystemen sowie mit Strukturwandel, Produktivität und Effizienz im Ökolandbau.

2004 gründete er das Ingenieurbüro für Naturschutz und Agrarökonomie (INA). Hier werden Lösungen im Umgang mit Konflikten zwischen einer zukunftsfähigen und ökonomisch rentablen Agrarproduktion sowie einer ökologisch angepassten Landwirtschaft erarbeitet. Die meisten Projekte wurden bislang in Sachsen durchgeführt. In seinem Blog „Lakners Kommentare“ betrachtet er aktuelle Themen – wie etwa die Gemeinsame Agrarpolitik (GAP) der EU bzw. die Knappheit von Nahrungsmitteln im Zuge des Kriegs in der Ukraine.

Lakner ist Mitglied in der Österreichischen Gesellschaft für Agrarökonomie (ÖGA) und der European Association for Agricultural Economics (EAAE).

Prof. Dr. Claudia Dalbert war von 2016 bis 2021 Ministerin für Umwelt, Landwirtschaft und Energie des Landes Sachsen-Anhalt. Neben der Stärkung des ländlichen Raums und des massiven Ausbaus des Ökolandbaus beschritt sie auch neue Wege in ihrer Amtszeit. So führte sie in Sachsen-Anhalt das Niederländische Modell ein. EU-Mittel für Agrarumwelt- und Klimaschutzmaßnahmen können danach in den Niederlanden nur noch über gemeinsame Anträge so genannter Collectieven in Anspruch genommen werden. Das ermöglicht sowohl den Landwirt*innen als auch dem Naturschutz mehr Flexibilität in der Gestaltung und Umsetzung von Maßnahmen vor Ort einerseits. Andererseits zeigte sich eine höhere Wirksamkeit der Maßnahmen.

Als Mitglied gestaltete Claudia Dalbert von 2012 bis 2020 die Arbeit der Heinrich-Böll-Stiftung mit. Seit 2018 sitzt Claudia Dalbert im Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung Sachsen-Anhalt. Ihre Arbeit als Professorin für Psychologie an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg endete mit dem Beginn ihrer Amtszeit als Ministerin.

Eva Köhler (Dipl. Agr.-Ing.) engagiert sich seit der Jugend in der kapitalismuskritischen Ökologiebewegung. Sie studierte Ökologische Landwirtschaft in Eberswalde & in Wien. Sie ist Vorstands,- und Gründungsmitglied von KoLa Leipzig. Als Vorstandsmitglied liegt ihr Fokus auf demokratischen, solidarischen Strukturen & Klimaschutz.

Felix Kolb (Moderation) arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Strukturwandel und Nachhaltigkeit (HALIS) der Martin-Luther-Universität Halle/Wittenberg. Der studierte Humangeograph widmet sich in seiner Forschung raumkonstituierenden Aspekten von Eigentumsstrukturen sowie zivilgesellschaftlichen Mitbestimmungselementen im anstehenden Strukturwandel in Mitteldeutschland und darüber hinaus. Neben den gegenwärtigen Dynamiken am Boden- und Immobilienmarkt gehören auch kleinteilige Wirtschaftskreisläufe im Bereich der Ernährungswirtschaft sowie alternative Nahrungsnetzwerke zu seinem Forschungsinteresse. Felix Kolb ist Sprecher der AG-Forschung des Leipziger Ernährungsrates.

Die Veranstaltung wurde im Rahmen des aktuellen Verbundprojekts „Wirtschaften mit Zukunft* ökologisch – demokratisch – sozial“ und in Zusammenarbeit mit dem Ernährungsrat Leipzig e.V. durchgeführt.