Wie kommen wir zu einer lebenswerten, sozial gerechten und ökologischen Zukunft? Wo liegen Schlüssel zur Veränderung? Welche Hindernisse gibt es? Darüber sprachen wir mit Fabian Scheidler, Cécile Lecomte und Anna Cavazzini.
Klimakrise, Corona-Krise, Menschenrechtskrise, Wirtschaftskrise, EU-Krise, Rechtsstaatlichkeitskrise, Armutskrise, Umweltkrise...
Eine Welt im Krisenmodus. Selten war der Druck zum Handeln unübersehbarer als heute und mutiges, zukunftsgewandtes Handeln in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft so gefragt.
Doch statt ambitionierter Ziele bleibt es leider auch aktuell bei Rhetorik: So beteuerten die G20-Staaten bei ihrem letzten Zusammenkommen im November 2021 das 1,5 Grad-Ziel; konkrete Ziele und Zeitangaben oder gar Maßnahmen blieben sie weitestgehend schuldig. Große Erwartungen liegen nun in der aktuell noch laufenden Klimakonferenz in Glasgow. Hier gab es in den ersten Tagen hoffnungsvoll stimmende Ankündigungen, wie etwa Wälder besser schützen und die Landwirtschaft nachhaltiger gestalten zu wollen. Unterfüttert sind diese Absichtserklärungen bislang kaum, Fristen zur Umsetzung viel zu lang und es wird allein auf Freiwilligkeit gesetzt. Und so werden wohl auch sie verklingen, wie etwa das bereits im Jahr 2014 in New York formulierte Ziel zum Waldschutz, seitdem sich die Abholzung noch beschleunigt hat.
Alles anders!? Zukunft neu denken - BoellSachsen
Direkt auf YouTube ansehenDie Moderatorin Charlotte Hitzfelder vom Konzeptwerk Neue Ökonomie Leipzig kam am 4. November 2021 im UT Connewitz (Leipzig) mit Fabian Scheidler (Journalist & Autor), Cécile Lecomte (Umweltaktivistin) und Anna Cavazzini (Europaabgeordnete) ins Gespräch, was jetzt zu tun sei und wo die Schlüssel zur Veränderung liegen. Wie finden wir zu einer lebenswerten, sozial gerechten und ökologischen Zukunft? Worauf ließe sich aufbauen? Wie gewährleisten wir auf dem Weg dahin, dass alle Menschen gehört werden und mitgestalten können? Wie lässt sich der Druck der Straße in Parlamente und Regierungen tragen? Muss Zukunftspolitik marktfähig sein oder wird sie anderen Kriterien folgen müssen? Welche wären das aus ökologischer und sozialer Sicht? Welche Zielkonflikte könnten entstehen und wie könnten sie aufgelöst werden?
Die folgenden Thesen wurden anfangs von Fabian Scheidler vorgestellt und anschließend diskutiert. Im Anschluss konnte das Publikum über die Thesen abstimmen. These 2 und 3 lagen nach der Abstimmung in der Gunst des Publikums vorn.
Die drei Thesen des Abends von Fabian Scheidler:
- Wir werden mit großer Wahrscheinlichkeit entscheidende Kippunkte im Erdsystem überschreiten, möglicher Weise noch in diesem Jahrzehnt (Amazonas, Grönlandeis, Westantarktis, Permafrost u.a.), mit der Folge, dass unkontrollierbare Rückkopplungseffekte einsetzen und Teile der Erde unbewohnbar werden. Eine politische Trendwende, die das noch abwenden könnte, ist nicht absehbar, weder in Deutschland noch in einem anderen großen Industrieland. Der Grund für diese Krise und das epochale Politikversagen liegt in der Funktionsweise unseres ökonomischen und politischen Systems und der dazugehörigen Ideologien. Die Biosphärenkrise ist eine Zivilisationskrise.
- Der real existierende Kapitalismus kann nur durch staatliche Subventionen existieren. Das betrifft insbesondere die destruktivsten Branchen (fossile Energien, Auto- und Flugzeugbranche, industrielle Landwirtschaft, Militär, Großbanken u.a.). Ein Schlüssel für eine systemischen Umbau liegt in einem radikalen Umbau dieses Subventionssystems, hin zu zukunftsfähigen Branchen und ökonomischen Institutionen, die nicht Kapitalakkumulation und Wachstum verpflichtet sind, sondern dem langfristigen Gemeinwohl.
- Es wird keinen geordneten Übergang zu einer anderen Ordnung geben, sondern eine lange, zunehmend chaotische Phase mit tiefen Brüchen (Finanzkrisen, ökologische Desaster, Energiekrisen, möglicher Weise auch Ernährungskrisen und weitere Pandemien). An jeder Bruchstelle werden Weichen gestellt, die darüber entscheiden, welche Optionen in der darauf folgenden Krise noch zur Verfügung stehen. Für eine sozialökologische Transformation braucht es Strategien und Bündnisse, um auf solche Kippunkte vorbereitet zu sein.
In der Diskussion ging es nicht nur um (Riesen)Versäumnisse in der Politik und systemisches Versagen. Immer wieder kam ziviler Ungehorsam, aber auch die Rolle sozialer Bewegungen und breiter Bündnisse zur Sprache, um den Druck "der Straße" auf Politik und Wirtschaft zu erhöhen und möglichst den Druck der Straße in die Institutionen zu ziehen: etwa in Verwaltungen, die dann bspw. ihre Arbeit bei klimaschädlichen Vorhaben verweigern könnten.
Fabian Scheidler brachte einen postkapitalistischen Green New Deal ins Gespräch, charakterisiert durch ein größer ausgestattetes Finanzvolumen, einer anderen Verteilung dieses Geldes und Schrumpfung statt Wachstum.
So wäre etwa eine sektorielle Umschichtung des zur Verfügung stehenden Geldes zugunsten von Kultur, nachhaltiger Bildung, Gesundheit sowie an gemeinwohlorientierte und dezentrale Institutionen, die nicht der Kapitalakkumulation dienen (wie etwa Genossenschaften) wichtig. Unternehmen, die sich noch aktuell an Subventionen bereichern würden, gingen dann leer aus. Und: Worüber aktuell kaum jemand reden möchte: Auch Verzicht und Schrumpfung gehören dazu (etwa bei Autos und Flugzeugen).
Anna Cavazzini: Statement für die Veranstaltung "Alles anders?! Zukunft neu denken" - BoellSachsen
Direkt auf YouTube ansehenDie Europaabgeordnete Anna Cavazzini, die sich leider nur via Videobotschaft zuschalten konnte, verwies auf Anstrengungen auf europäischer Ebene, die erste bedeutende Verbesserungen mit sich bringen können: etwa das Lieferkettengesetz und das Recht auf Reparatur.
Für Cécile Lecomte reichen all die bisherigen Angebote seitens Politik und Wirtschaft nicht aus. Sie fordert einen "System Change". Angesichts der Herausforderungen reichen "Maßnähmchen" nicht aus, es bedürfe grundlegender Änderungen. Ohne Verzicht oder Modelle wie Sharing oder Commoning gehe es künftig nicht. Es reiche eben auch nicht aus, mal eine Straße dem Autoverkehr in der Stadt zu entziehen. Der Autoverkehr müsse weitestgehend komplett aus der Stadt verbannt werden und das sozial verträglich und inklusiv, so dass niemand ausgeschlossen wird.
Mit Sorge schauen Lecomte und Scheidler auf den starken Lobbyismus, der zumindest aktuell dringend benötigte Weichenstellungen und vorwärtsgewandte Politik mit ambitionierten Zielen torpediere. Während der Druck der Straße teils zum Erliegen kam, konnten Lobbyist*innen die "ruhige Zeit" der Corona-Einschränkungen gut nutzen, um ihren Einfluss auf die Politik auszubauen.
Ein spannender Abend, der am 2. Dezember mit dem Fokus auf Wirtschaft mit dem Politikwissenschafter Prof. Ulrich Brand, der Ökonomin Dr. Katharina Reuter und dem Europaabgeordneten Sven Giegold fortgesetzt wird.
zu den Personen:
Fabian Scheidler studierte Geschichte, Philosophie und Theaterregie. Seit 2001 arbeitet er als freischaffender Autor für Printmedien, Fernsehen, Theater und Oper. Im Jahr 2009 erhielt er den Otto-Brenner-Medienpreis für kritischen Journalismus.
2015 erschien Fabian Scheidlers Buch "Das Ende der Megamaschine. Geschichte einer scheiternden Zivilisation", das in mehrere Sprachen übersetzt wurde. 2017 folgte "Chaos. Das neue Zeitalter der Revolutionen". Im März 2021 erschien im Piper Verlag "Der Stoff, aus dem wir sind. Warum wir Natur und Gesellschaft neu denken müssen".
Anna Cavazzini ist seit 2019 Mitglied des Europäischen Parlaments in der Fraktion Die Grünen/EFA. 2020 übernahm sie den Vorsitz des Ausschusses für Binnenmarkt und Verbraucherschutz. Globale Gerechtigkeit, Europa, Umwelt- und Verbraucherschutz sind ihre Schwerpunkt-Themen. Zuvor arbeitete sie als Referentin u.a. für Brot für die Welt, Campact e.V., für das Kabinett des Präsidenten der UNO Generalversammlung (New York), das Auswärtige Amt in Berlin sowie als wissenschaftliche Mitarbeiterin der Europaabgeordneten Ska Keller. 2009 schloss sie ihr Masterstudium der Internationalen Beziehungen ab.
Cécile Lecomte studierte Betriebswirtschaftslehre und Französisch auf Lehramt. Nach ersten Jahren als Lehrerin widmete sie sich wenig später gänzlich der Politik. Sie ist seit Jahren aktivistisch und journalistisch in vorwiegend umweltpolitischen Bewegungen engagiert. Ihre thematischen Schwerpunkte liegen auf Klima/Umwelt (Antiatom, Energiewende, Verkehrswende) und Ableismus. Die Aktionskletterkünstlerin trägt den Spitznamen "Eichhörnchen", weil sie ihre Leidenschaft (Klettern) und politisches Engagement für subversive Polit-Happenings verbindet, die nicht selten auf große mediale Aufmerksamkeit stießen. 2014 erschien ihr Buch "Kommen Sie da runter! - Kurzgeschichten aus dem politischen Alltag einer Kletterkünstlerin" im Verlag Graswurzelrevolution.
Die Veranstaltungsreihe wurde in Kooperation mit weiteren Landesstiftungen und der Heinrich-Böll-Bundesstiftung im Rahmen des aktuellen Verbundprojekts „Wirtschaften mit Zukunft* ökologisch – demokratisch – sozial“ und in Zusammenarbeit mit dem Konzeptwerk Neue Ökonomie e.V. durchgeführt.