Keine Demokratie ohne die Rechte Marginalisierter

Die Ursachen des autoritären Sogs liegen im Gestern und in der hartnäckigen Weigerung, Einwanderung als Realität und als Normalität zu akzeptieren. Unsere Gesellschaft braucht eine Vision für gleichberechtigten Zugang zu allen gesellschaftlichen Orten und Gütern, für Pluralität und für Inklusion im weitesten Sinn.

Bunte Schatten spielen mit ihren Händen.

Dieser Beitrag ist Teil unseres Dossiers "Politik im autoritären Sog". Sie können das vollständige Dossier hier als PDF herunterladen.

Wo nicht von vornherein Ignoranz oder allmähliche Abstumpfung zu verzeichnen sind, gibt es immer noch ein gewisses Erstaunen über die mobilisierende Kraft autoritärer Politikentwürfe. Parteien wie die Alternative für Deutschland und «Volks»-Bewegungen wie die Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes (Pegida) schwemmen vermeintliche Konzepte zur Lösung aller Probleme in den Mainstream; Massendemonstrationen – die vorerst unverdächtiger wirken – gegen «Genderwahn», «Verschwulung», «Frühsexualisierung» oder Schwangerschaftsabbrüche werden ebenso vom Mainstream aufgesaugt. Nach wie vor scheint es eine Überforderung zu geben, was das Verständnis dieser Phänomene angeht, wo sie nicht unzweifelhaft als «rechtsextrem» identifiziert werden.

Im Amalgam des Rechtspopulismus kommt den Themen Flucht und Asyl schon auf den ersten Blick eine zentrale Bedeutung zu: Die vermeintliche «Flüchtlingskrise» oder als ihr Synonym «das Jahr 2015» dienen als Erklärung für die Wahlerfolge der AfD und die Massenmobilisierungen in Dresden und an anderen Orten. Allerdings zeigen die Bundestagswahl 2017, aber auch die darauffolgenden Landtags-, die Europaparlaments- und die Kommunalwahlen im Frühjahr 2019 sowie vor allem auch die Landtagswahlen im Herbst 2019, dass

a) diese Analyse des Erfolgs viel zu kurz greift und
b) der Sog, den der autoritäre Rechtspopulismus erzeugt hat, zu einem Handlungsdruck bei den anderen Parteien geführt hat, der zu nicht minder autoritären Politiken führt.

Die «Krise», die durch flüchtende Menschen «ausgelöst» worden sein soll, wird innerhalb derselben Logik durch möglichst repressive Maßnahmen im Bereich Asyl- und Migrationspolitik überwunden. Viele dieser Maßnahmen sind nicht nur aktionistische Schnellschüsse, sie stehen auch unmittelbar im Widerspruch zu Maßnahmen, die der allseits beklagten Landflucht, dem demographischen Wandel sowie dem Mangel an Fachkräften entgegenwirken würden.(1)

Steht die autoritäre Migrationspolitik auf dem Boden des Grundgesetzes?

Der Entzug bzw. die Einschränkung von Rechten sind alltägliche Realität, wie zuletzt in der Diskussion über und dann in der Einrichtung von AnkER-Zentren deutlich wurde. Elementare Menschenrechte werden in den Lagern mit der niedlichen Abkürzung im Namen noch stärker außer Kraft gesetzt als vorher. Schutzsuchende sollen aus den «Zentren für Ankunft, Entscheidung und Rückführung» gar nicht mehr auf Landkreise verteilt werden, sondern das gesamte Asylverfahren dort durchlaufen – und ggf. auch direkt von dort abgeschoben werden. In vielerlei Hinsicht ist dies eine Zuspitzung der «Residenzpflicht», die seit 1982 (in Westdeutschland) den physischen Aufenthalt mit einer räumlichen Beschränkung belegte und damit die Bewegungsfreiheit elementar einschränkt. Bayern und Sachsen weigern sich nach wie vor, diese EU-weit einmalige Begrenzung wenigstens auf das gesamte Bundesland auszuweiten.(2)

Vor einem Abschiebegefängnis halten zwei Leute ein Transparent. Darauf steht: "Abschiebehaft gehört abgeschafft".

Die ständige staatliche und halb-staatliche Kontrolle, unabhängig davon, wie die Lager genannt werden, verhindert sowohl eine angemessene medizinische, psychologische, rechtsanwaltliche Versorgung als auch – über Monate und Jahre – die gesellschaftliche Teilhabe. Insbesondere weil der besondere Schutzbedarf (3) gar nicht oder nur ausgesprochen unzureichend erhoben und festgestellt wird, ist die isolierte und isolierende Unterbringung immer auch ein Instrument, die Inanspruchnahme eines wirksamen Rechtsschutzes zu verhindern.

Dabei zeigen alle Erfahrungen, dass eine schlechte Behandlung und die systematische Ausgrenzung von Hunderttausenden niemals zum gewünschten Ergebnis geführt haben. Die Bevormundung durch die Ausgabe von Sachleistungen anstelle von Bargeld, die Kriminalisierung und generelle Ausweitung von Haftgründen oder ein abgesenktes Existenzminimum führen ganz offenbar weder zu mehr «Sicherheit» noch zu mehr «freiwilligen» Ausreisen, sondern nur zu einer andauernden Erfahrung von Entrechtung, die ein Ankommen in der hiesigen Gesellschaft verzögern und bisweilen sicher auch verunmöglichen. Damit werden menschenrechtliche Standards in Frage gestellt, Grund- und Freiheitsrechte als verhandelbar präsentiert und gesellschaftliche Fehler der 1950er, 1960er, 1970er, 1980er, 1990er und der 2000er Jahre wissentlich wiederholt.

Die individuelle Prüfung eines jeden Asylantrags ist kein Privileg, dass der Staat einzelnen geben oder nehmen darf. Sie ist ein Recht, das besser nicht ausgehebelt wird.

Die fortwährende Erweiterung der Liste «sicherer» Herkunftsstaaten, die Einführung schwammiger Kategorien wie «gute/schlechte Bleibeperspektive» und die Ankündigung von immer mehr Abschiebungen auch in Kriegs- und Krisengebiete werden – zumindest diskursiv, weil sie real ja häufig genug gar nicht durchgesetzt werden können – so oft wiederholt, dass selbst zwischenstaatliche Verpflichtungen wie die Rettung aus Seenot zwischenzeitlich in Verruf geraten, und zwar weit in die Mitte der Gesellschaft hinein. (4) Dabei ist allen Beteiligten klar, dass kein Staat für alle Menschen, die in ihm leben, pauschal als «sicher» gelten kann – und dass ein Parlamentsbeschluss im Deutschen Bundestag für die realen Lebensbedingungen einzelner Menschen in einem «sicheren Herkunftsstaat» keinerlei Konsequenzen zum Besseren hat.

Demonstration von People of Color mit Transparent "Kein Mensch ist illegal"

Die auf den ersten Blick erkennbare systematische Diskriminierung von Rom*nja beispielsweise in Balkanstaaten, die Diskriminierung von queeren Menschen in den meisten Ländern der Welt oder die Gewalt (bis hin zum Mord), mit der sie konfrontiert sind, aber auch die systematische Schlechterbehandlung einzelner religiöser Gruppierungen, die es nur ausnahmsweise in die hiesigen Medien schaffen, verdeutlichen ein ums andere Mal, warum das individuelle Recht auf Asyl aus gutem Grund im Grundgesetz verbrieft ist. Die kollektive Abfertigung von Asylsuchenden, weil sie aus einem Land kommen, dessen Bevölkerungsmehrheit keine gravierenden Menschenrechtsverletzungen befürchten muss, widerspricht dem Geist und dem Text der Verfassung. Die individuelle Prüfung eines jeden Asylantrags – ohne Ansehen der «Bleibeperspektive» (und ob diese «schlecht» oder «gut» ist) – ist kein Privileg, das der Staat einzelnen geben oder nehmen darf. Sie ist ein Recht, das besser nicht ausgehebelt wird.

Die Vorgeschichte: Migrations-Abwehr als Leidkultur

Jedoch reichen die Traditionslinien der autoritären Migrationsabwehr wesentlich weiter zurück als die relativ junge Erfolgsgeschichte des Rechtspopulismus. Emanzipatorische Gegenstrategien werden sich an den Herausforderungen dieser hartnäckigen Traditionslinien bewähren müssen. Denn das Problem sind nicht die Flüchtenden, die ein besseres Leben für sich und ihre Angehörigen suchen. Das Problem heißt Rassismus – und der sucht sich immer neue «Schuldige».

Bevor der Rechtspopulismus parteiförmig organisiert war – ob nun als Pro Deutschland, als Alternative für Deutschland oder eine ihrer (bisher erfolglosen) Abspaltungen – und sich völkisch-national präsentierte, hatte der Boulevard-Journalismus im Nachgang der «Finanzkrise» den «faulen Südländern» in Italien, Spanien, Portugal und vor allem Griechenland attestiert, «über ihre Verhältnisse» zu leben. Parallel dazu human-genetisierte Thilo Sarrazin, dass die «muslimische» Einwanderung anders als die «jüdische» nicht zu mehr Intelligenz und Produktivität geführt habe. (5)

Davor waren es die Kriegsflüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien sowie Menschen aus ehemaligen europäischen Kolonien, die wegen der anhaltenden Konsequenzen jahrzehnte- und jahrhundertelanger Ausbeutung, Gewalt und zahlreicher Genozide aus ihren Ländern flüchteten. Es waren die Rom*nja, die Diskriminierung und Gewalt auf dem Balkan entkommen wollten, und Menschen, die im Rahmen der Vertragsarbeit in die DDR gekommen oder als Nachkommen ehemaliger Gastarbeiter*innen in der BRD geboren waren.

Vietnamesische Näher:innen arbeiten in der DDR
Vietnamesische Näher:innen in der DDR

Beide Republiken, sowohl die Bundesrepublikanische als auch die Deutsche Demokratische, verfolgten von Beginn an eine autoritäre Migrationspolitik. Im Grunde genommen ging es nie um die Menschen, das Individuum, sondern um die wirtschaftlichen Interessen des jeweiligen Staates. So waren die Einwanderungsvorausetzungen von Anfang an selektiv und geprägt von autoritären Regeln, die nicht die Menschen, sondern die Interessen der Wirtschaft und des Gewerbes in den Mittelpunkt stellten. Viele der Anwerbeländer, mit denen Verträge zur «Gast-» bzw. zur «Vertragsarbeit» abgeschlossen wurden, waren autoritäre politische Systeme. Die DDR warb zunächst nur für die Aus- und Weiterbildung Arbeitskräfte an. Da aber auch im realen Sozialismus Arbeitskräfte fehlten, wurden für die schlecht bezahlten und/oder gefährlichen Tätigkeiten Arbeitskräfte aus den sogenannten Bruderstaaten angeworben. Die Aufenthaltsdauer war auf zwei, später fünf Jahre begrenzt und Familie durfte man nicht mitbringen. Die Angeworbenen lebten in abgeschotteten Baracken oder Wohnblöcken und konnten nur mit einer Genehmigung Kontakt zu Deutschen aufnehmen. Schwangerschaft war nicht vorgesehen und stellte einen Grund zur Ausweisung dar.

Auch die Bundesrepublik warb nicht nur um männliche Arbeitskräfte, Frauen durften ins Land, wenn ihre Urinprobe keine Schwangerschaft erkennen ließ. Das Aufheben des Rotationsprinzips und das Verlängern der Aufenthaltsdauer erfolgte weniger aus humanitären Gründen, vielmehr sprach sich die Wirtschaft dafür aus. Und auch im Westen lebten die Arbeitsmigrant*innen in Baracken, in menschenunwürdigen Verhältnissen. Proteste gegen die Arbeits- und Lebensbedingungen, sogenannte «Wilde Streiks», wurden in der Bundesrepublik oft sehr schnell zerschlagen. Menschen wurden ausgewiesen und/oder verloren ihren Arbeitsplatz. Nur einige wenige beispielhafte Arbeitskämpfe endeten für alle Arbeitnehmer*innen erfolgreich, dann wenn Gewerkschaften politisch verantwortlich handelten.

Ein Gastarbeiter aus Mosambik arbeitet in Mittweida in einer Fabrik.
Gastarbeiter:innen aus Mosambik in Mittweida

Von Bundeskanzler Helmut Schmidt ist im Zusammenhang mit einem Engpass im Gastgewerbe der Satz überliefert: «Mir kommt kein Türke mehr über die Grenze.» (6) Die Rückkehrförderung unter seinem Nachfolger Helmut Kohl, aber auch die Asylrechtsverschärfungen in den 1980er Jahren wurden nicht von «Extremen» oder im Rahmen eines «Rechtspopulismus» vorbereitet und durchgeführt, auch wenn sie Zeichen in entsprechende Spektren sendeten. Christian Lochte etwa, seinerzeit Chef des Verfassungsschutzes in Hamburg, wies 1986 auf den Zusammenhang zwischen der regierungsseitigen Stigmatisierung und der eskalierenden Gewalt «auf der Straße» hin:

Wenn die Asylanten-Diskussion weiter zugespitzt werde, warnte der Christdemokrat bei einem Vortragsabend der Gesellschaft für Wehrkunde, könnten neue Anschläge auf Ausländer die Folge sein. Mysteriöse Brandstiftungen in türkischen Läden, Skinhead-Überfälle auf Ausländer, Leuchtkugel-Attentate auf Flüchtlingslager – solche Vorfälle signalisieren Verfassungsschützern seit Monaten schon ein Aufflackern rechtsradikaler Aktivitäten. Die in Westdeutschland lebenden Gastarbeiter, fürchtete auch die Bonner Ausländerbeauftragte Liselotte Funcke, könnten «in den Sog einer neu belebten Fremdenfeindlichkeit geraten.» [...] «Werden im Ermittlungsverfahren Folterpraktiken angewendet, weil man etwa infolge unterentwickelter Kriminaltechnik in besonderem Maße auf Geständnisse angewiesen ist», konstruieren dann die Bundesverwaltungsrichter unter Umständen, «so tragen derartige Übergriffe nicht aus sich heraus politischen Charakter». (7)

Oft wird vergessen, dass nicht nur die Einengung des Begriffs der «politischen Verfolgung», sondern auch die Einführung der Lagerunterbringung für Asylsuchende oder die Einführung der Visumspflicht für Menschen aus den Hauptherkunftsländern schon vor dem «Asylkompromiss» 1993, der durch die Einführung eines Artikels 16 aim Grundgesetz zur de-facto-Abschaffung des Grundrechts auf Asyl führte, Realität in (West-) Deutschland waren. (8) Bis zum Zuwanderungsgesetz (2005) war nicht einmal auf der symbolischen Ebene klar, dass die Bundesrepublik ein Einwanderungsland ist.

Migrationsabwehr in den deutschen Republiken

Die Bundesrepublik war von ihrem Anbeginn an ein Einwanderungsland. Neben der Einwanderung von «Reichs-» und «Volksdeutschen», die als «Vertriebene» oder als Aussiedler*innen aus den Ländern Ost- und Südosteuropas kamen, fand bis zum Mauerbau eine erhebliche Einwanderung aus der DDR statt, danach – im Rahmen der sogenannten Gastarbeit – von Menschen aus vielen verschiedenen Ländern. Während die «Deutschen», auch wenn sie nie eine deutsche Staatsangehörigkeit besessen hatten, als organischer Teil der Gesellschaft betrachtet wurden, war dies für die «Ausländer*innen» nicht vorgesehen.

Die weit ins 19. Jahrhundert reichende Vorstellung, es gebe «Deutsche» qua Abstammung, auch wenn sie nie Deutsche waren, wurde in der Weimarer Republik wegen der Gebietsverluste nach dem Ersten Weltkrieg und in der BRD auch nach dem Zweiten Weltkrieg aufrechterhalten, auch nach Gründung der DDR, obwohl zumindest letztere ein anderes, eigenes Deutschsein vorsah und gestattete, ähnlich wie vorher schon Österreich. Die Zugehörigkeit zum nationalen Kollektiv blieb damit – bis zur Novelle des Staatsangehörigkeitsrechts im Jahr 2000 – vor allem eine Frage der blutsmäßigen Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft von Deutschen. Kinder und Kindeskinder von Gastarbeiter*innen gehörten demnach nicht dazu, auch wenn sie in der Bundesrepublik geboren waren und nie woanders gelebt hatten oder leben würden.

Hungerstreik am Brandenburger Tor. Menschen sitzen und halten Regenschirme als Sichtschutz.
Hungerstreik von Geflüchteten 2013 am Brandenburger Tor

Die faktische Abschaffung des grundgesetzlichen Rechts auf Asyl 1993 resultierte aus einer krassen Welle neonazistischer Gewalt gegen Menschen und Einrichtungen, die auf den Beitritt der DDR zur Bundesrepublik folgte. Der Staat wusste darauf nicht besser zu antworten als durch Restriktionen, die die (potenziellen) Opfer dieser Gewalt am stärksten trafen. Alternativlos schien die Beschäftigung mit der Täter*innen-Perspektive, die vor allem als ostdeutsche dargestellt wurde (9) – wer aber weiß heute vom Verbleib der vielen Opfer? Sind sie noch in der Bundesrepublik? Wurde ihnen medizinisch/ therapeutisch geholfen? Oder wurden die Rom*nja und die ehemaligen vietnamesischen Vertragsarbeiter*innen aus dem «Sonnenblumenhaus» abgeschoben? Solche Fragen spielten und spielen bis heute kaum eine Rolle.

Das Grundrecht auf Asyl wurde daraufhin zur Makulatur – und diejenigen, die aufgrund internationaler Abkommen Schutz suchten, fielen fortan in die Zuständigkeit des Asylbewerberleistungsgesetzes. Bis dahin hatte das Bundessozialhilfegesetz gegolten, das Regelsätze, Unterkunft und Krankenhilfe regelte. Es sah fortan nicht nur ein abgesenktes Existenzminimum vor, sondern beispielsweise auch medizinische Versorgung nur dann, wenn das Problem von nicht-sachkundigen Mitarbeiter*innen von Sozialämtern als akut eingeschätzt wurde. Was bei den Geflüchteten «erprobt» wurde, traf nur wenige Jahre später als Bestandteil der Hartz-Reformen wesentlich größere Teile der Bevölkerung – etwa mit Begriffen wie «Arbeitsgelegenheiten», «Aufwandsentschädigung», «Zumutbarkeit», oder mit der Pflicht zur Arbeit, dem Kürzen beziehungsweise Streichen von Leistungen bei Arbeitsverweigerung, dem Fehlen von Kranken- und Rentenversicherung oder Rechtsschutz. (10)

Menschen stehen Schlange vor dem Arbeitsamt.

Sozialpolitik – «Autoritäre Tendenzen in der Sozialpolitik?»

Freie Berufswahl, Gleichberechtigung, Privatssphäre, Menschenwürde – das «Sanktionsregime Hartz-IV» greift in mehrere Grundrechte der Bezieher*innen ein. Hinzu kommt eine allgemeine Stigmatisierung von «Hartz-IV». Sozialpolitik wirkt hier ignorant und entmündigend und folgt autoritär einer Marktlogik. Das betrifft auch Weiterbildung und Beratung. Sigrid Betzelt analysiert die Wirkungsweisen von Hartz-IV und die Verhältnisse zwischen Staat und den Bürger*innen, die eine Grundsicherung in Anspruch nehmen. Sie plädiert für eine Sozialpolitik, die sich an der individuellen Autonomie und den Bedarfen orientiert und die Betroffene an Entscheidungen beteiligt. Sonst drohe der Marktimperativ den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu zerstören und die Demokratie auszuhöhlen. zum Text

Bei diesem Umbau des Sozialstaates, der in den letzten Jahrzehnten vor allem ein Abbau war, und auch beim Umbau der Sicherheitsarchitektur, der vor allem ein Ausbau war, sind Migration und mit Migration assoziierte Themen (11) ein wichtiger Pfeiler, der ansonsten schwer zu vermittelnde staatliche Eingriffe in die Grund- und Freiheitsrechte und etwa die neuen Polizeigesetze (12) in vielen Bundesländern bis in weite Teile der Gesellschaft legitim erscheinen lässt. Auch das Beispiel «Sicherheit» zeigt deutlich, wie Maßnahmen erst gesellschaftlich schwächere Gruppen in ihren Rechten beschneiden und dann die Freiheitsrechte für alle eingrenzen.

Sowohl die «Bonner» als auch die «Berliner» Republik haben Migration immer als eine Art Nutzfaktor gesehen, als temporär notwendige zusätzliche Arbeitskraft, aber auch als Sicherheitsrisiko. Teilhabe einfordernde Arbeitsmigrant*innen wurden entlassen und ausgewiesen. In den 1960er und 1970er Jahren galten die «Wilden Streiks» als Sicherheitsrisiko. In den 1980er und 1990er Jahren waren es die Geflüchteten, die die sozialen Sicherungssysteme gefährdeten – und spätestens mit dem Terroranschlag in den USA «9/11» ist es der «islamische» Terror, vor dem «uns» Vater Staat schützen möchte. Kindern und Kindeskindern vergangener Einwanderungsgenerationen, die sich zum Teil nicht mehr aufgrund der Staatsangehörigkeit als «Gäste» oder «Fremde» aussortieren lassen, wird heute, wenn sie aufbegehren, «PC-Terror» (13) unterstellt. Die Ursachen des autoritären Sogs liegen im Gestern und in der hartnäckigen Weigerung, Einwanderung als Realität und als Normalität zu akzeptieren.

Wie «wir» und «die anderen» gemacht werden

Wie die deutschen Sint*ezza und Rom*nja, Jüd*innen und Schwarze Deutsche gehören heute die Kinder und Kindeskinder der ersten Generation diskursiv nicht zu diesem Kollektiv. Begriffe wie «mit Migrationshintergrund» im Mikrozensus, «nicht-deutscher Herkunftssprache» im Bildungssystem oder die Möglichkeit der Aberkennung der Staatsangehörigkeit, wie sie jüngst im «Migrationspaket» gestärkt wurde, aber auch die x. Debatte über «Integration» erklären Migration zum Sonderfall bzw. zum zeitlich befristeten Phänomen. Die Auslagerung der einen zum Sonderfall führt auf der anderen Seite dazu, dass die «anderen» homogenisiert und ihre «Identität» naturalisiert werden. «Deutschsein» wird zu einer natürlichen, eindeutigen Eigenschaft und Beschaffenheit erklärt, und nur wenn diese erfüllt ist, «gehört man dazu». Wer heute den Erwartungen des «Deutschsein» entspricht, kann morgen wieder zum Nicht-Deutschen werden und «nicht mehr dazu gehören».

Demonstration "Kein Schlussstrich" zur Urteilsverkündung im NSU-Prozess am 11. Juli 2018 in München.

Es ist kein Zufall, dass die Debatten um Leitkultur, Kopftuchträgerinnen und Parallelgesellschaften zur Gründung eines «Heimat»-Ministeriums führen. Es ist kaum ein Zufall, dass nach dem Auffliegen des NSU-Komplexes nicht weniger, sondern mehr Kompetenzen und Ressourcen für Inlandsgeheimdienste gestattet wurden, dass amtlich jede Rede über den «Rechtsextremismus» ergänzt wird um den Hinweis auf «Islamismus». Die fehlende Aufarbeitung des deutschen Kolonialismus und das aktive Vermeiden einer Auseinandersetzung mit Rassismus führen dazu, dass alltägliche, institutionelle und strukturelle Dimensionen von rassistischer Diskriminierung und Gewalt nicht sichtbar werden – bzw. dass sie außerhalb der Communities, die Rassismus alltäglich erleben, nicht gehört werden. Kurz, wer nicht als «deutsch» wahrgenommen wird, muss hart dafür kämpfen, dass die eigene Geschichte nicht verschwiegen wird, die eigene Stimmte gehört wird und Interessen anerkannt werden.

Die «Sorgen» und «Ängste» der «besorgten Bürger*innen» hingegen werden zentriert und damit das hierarchische Verhältnis zwischen Norm und Abweichung ein ums andere Mal wiederhergestellt. Die Trennung von Religionsgemeinschaften und Staat wird, wie die Akzeptanz sexueller und geschlechtlicher Vielfalt, problematische Geschlechterverhältnisse, mangelnde Sensibilität fürs Tierwohl oder ein sorgloser Umgang mit der Umwelt «den Migranten» als Defizit zur Last gelegt. Darüber wird rassistische Stigmatisierung bestätigt – und die Weißwaschung von «uns» immer von Neuem vollzogen.

Der Umstand, dass es in der Bundesrepublik eine massive Verzahnung von Römisch-Katholischer Kirche bzw. der Evangelischen Landeskirchen mit dem Staat gibt, (14) dass queere Menschen im Alltag – auch seitens des Staates – zum Teil massiven Diskriminierungen ausgesetzt sind, (15) all das lässt sich bequem ausblenden, je mehr diese sozialen Probleme an die (migrantischen/muslimischen/osteuropäischen/...) «Anderen» ausgelagert werden, um dann – auch mit staatlichen Mitteln – behoben zu werden – sowohl mit präventiven Angeboten als auch Interventionen, etwa durch Ermittlungsbehörden oder Gerichte.

Frauen demonstrieren als "Handmaids" verkleidet wie in der Serie "The Handmaid's Tale"

Geschlechterpolitik – «Geschlecht als Kampfarena»

Untersuchung, Attest, verpflichtende Beratung – Politiken gegenüber Frauen, Transpersonen und Interpersonen tragen oft autoritäre Züge. Der Gemeinschaft wird mitunter mehr Kompetenz über höchstpersönliche Entscheidungen zugesprochen, die das Leben oder den eigenen Körper betreffen, als den Betroffenen. Und doch sind Geschlechterpolitiken heute freiheitlicher, wie etwa die «Ehe für alle». Gleichzeitig treten antifeministische Allianzen in den Widerstand gegen begonnene Liberalisierungen, Vielfalt in Geschlechterpolitiken und Aufklärung. Juliane Lang sieht darin auch eine Reaktion auf den «progressiven Neoliberalismus». Sie fordert, emanzipatorische Geschlechterpolitiken mit Machtverhältnissen und sozialer Ungleichheit zusammenzudenken. zum Text

Der diskursiven Ausbürgerung als erhaltenswertem Dauerzustand bedienen sich dabei ausgerechnet auch rechtspopulistische Spektren anhand der Themen Antisemitismus, Sexismus sowie Trans- und Homofeindlichkeit. Dort, wo es der ethnisch-kulturellen Gemeinschaftsideologie dient, öffnen sich – zumindest oberflächlich – Gelegenheitsfenster für Frauen, Jüd*innen und queere Menschen, von denen ein Teil das Angebot tatsächlich auch wahrnimmt fürderhin autoritär-repressive Maßnahmen des Staates zur Disziplinierung der vermeintlich Zurückgebliebenen zu befürworten und mit dem Segen der ehemals progressiven sozialen Bewegung zu legitimieren. (16) Dabei ist der hierarchischen Einteilung der Gesellschaft grundsätzlich mit Skepsis zu begegnen.

Eine neue Staatsraison?

Anfang April 2016 empfing der damalige französische Präsident François Hollande die BILD-Zeitung zu einem Interview. Er gab ihr einen Satz mit auf den Weg, der seitdem unzählbar oft und erstaunlich wortgleich wiederholt wird: «2016 darf sich nicht wiederholen, was 2015 geschehen ist.» (17) Als kollektive Beschwörungsformel wird seitdem verkündet, «2015» dürfe sich «nicht wiederholen». Der Satz ist zum Wesenskern deutscher Politik geworden. Nach einem Tweet von Horst Seehofer, damals Bayerischer Ministerpräsident, stellte auch Angela Merkel als Parteivorsitzende der CDU auf dem Bundesparteitag Ende 2016 in Essen fest: «Eine Situation wie die des Spätsommers 2015 kann, darf und soll sich nicht wiederholen.»18 Seitdem äußerten sich in hunderten nur leicht veränderten Variationen Bundes- und Landesregierungsmitglieder, Fraktionsvorsitzende der Regierungs-, aber auch von Oppositionsparteien, Vereine und Verbände und alle, die sich expressis verbis um die Zukunft des Landes sorgen, mit demselben Satz: «2015 darf sich nicht wiederholen.»

eine endlose Spiirale

Eine neue Staatsraison?

Ursula von der Leyen, Bundesverteidigungsministerin: «So etwas wie 2015 darf es nicht noch einmal geben»

Christean Wagner, Mitbegründer des «Berliner Kreises», einem Netzwerk konservativer Abgeordneter in den Unionsparteien: «Bei der Flüchtlingspolitik stehe ich eindeutig bei dem, was hier auch Herr Ramsauer gesagt hat. Es darf sich 2015 nicht wiederholen.»

Alexander Dobrindt, Landesgruppenchef CSU im Deutschen Bundestag: «Das Jahr 2015 darf sich nicht wiederholen.»

Sahra Wagenknecht, Fraktionsvorsitzende DIE LINKE im Deutschen Bundestag: «Der Kontrollverlust, den es im Herbst 2015 gab, hat dieses Land verändert, und zwar nicht zum Besseren. Das darf sich nicht wiederholen.»

Michael Kretschmer, Sächsischer Ministerpräsident: «Wir wollen, dass sich die Situation von 2015 nicht wiederholt.»

Armin Schuster, MdB CDU: «Wir haben aus 2015 unsere Lektion gelernt. Wir gehen davon aus, dass sie wiederkommen könnte.»

Joachim Herrmann, Bayerischer Innenminister: «Eine Situation wie 2015 darf sich nicht wiederholen.»

«2015» ist zum Dreh- und Angelpunkt deutscher Politik geworden. An der Frage, wie man es mit dem vermeintlichen Staatsversagen in diesem Jahr hält, entscheidet sich, auf welcher Seite einer Bruchlinie man sich wiederfindet, die vereinfacht gesagt nur noch zwischen Universalismus (die Mobilen, die heute hier und morgen dort wohnen, arbeiten, leben können und für die Verankerung neuer Kollektivrechte in nationalen Verfassungen stehen) und Partikularismus (die bornierten Fans von Sicherheiten, die nur der Nationalstaat anbieten kann) unterscheiden will.

Die Perspektiven von «Betroffenen» stärken

Im Kontext der Bewegungen von Schwarzen Frauen, Frauen of Color, «behinderten» Frauen, Migrantinnen und Jüdinnen sind in der Bundesrepublik Einwände gegen die weiß-christlich-deutsche Frauenbewegung entwickelt worden, die deren Repräsentationspolitik in Frage stellten, später auch im Kontext von queeren Bewegungen. Davon lässt sich bis heute lernen. Spätestens seit den 1980er Jahren ist klar: Es ist entscheidend, wer in wessen Namen spricht. (19)

Seitdem sich die Stimmen marginalisierter Gruppen nicht mehr vollkommen verleugnen lassen, werden die Grundfesten der Gesellschaftsordnung – wenigstens in Bezug auf Geschlechter-Verhältnisse und Race Relations – herausgefordert wie nie zuvor. Deswegen wundert es nicht, dass jeder kleine Fortschritt, der errungen wird, mit einer massiven populistischen Kampagne beantwortet wird. Der aggressive Antikommunismus vergangener Jahrzehnte hat sich in eine aggressive Anti-Political-Correctness-Welle verwandelt, die Emanzipation durch Regression beantwortet wissen will. (20) Diejenigen, die die Norm verkörpern, an der sich alles messen soll – vor allem auch, wer «dazu gehört» (und wer nicht) – wissen allzu gut, dass alle «betroffen» sind von der diskriminierenden Einteilung der Gesellschaft: die einen zu ihrem Nachteil, die anderen zu ihrem kurzfristigen Vorteil.

Das Problem des Rechtspopulismus, der die anderen Parteien und Spektren vor sich hertreibt, ist nicht erst mit den rasch wachsenden Erfolgen von Pegida oder denen der AfD entstanden.

Deswegen wird jedes Aufbegehren gegen reale Ungleichbehandlung bei formaler Gleichberechtigung mit massivem Zum-Schweigen-Bringen marginalisierter Stimmen beantwortet: «Das war nicht so gemeint» oder «Sei nicht so empfindlich», heißt es dann im individuellen Gespräch. Oder es entsteht gar nicht erst ein Gespräch, weil beispielsweise das Verwenden rassistischer Sprache nicht als illegitim gilt (21) oder die allzu politische Betätigung zur Aberkennung der Gemeinnützigkeit führt, mit der nicht nur Umweltorganisationen, sondern auch antifaschistische und antirassistische Organisationen konfrontiert sind.

Frauen recken die Fäuste in die Luft.

Vertreter*innen von jüdischen, muslimischen, migrantischen, Schwarzen Menschen, Menschen aus der Roma-Community sowie akademische Vertreter*innen insbesondere des intersektionalen Feminismus und der Critical Race Theory (22) kritisieren seit Jahrzehnten, dass die Grenzen des Sagbaren und Machbaren immer weiter verschoben werden, insbesondere seit der sogenannten Walser-Bubis-Debatte (23) , aber auch angesichts des kommerziellen Erfolgs der Bücher von Thilo Sarrazin. Allein «Deutschland schafft sich ab» wurde in einer großen Tageszeitung und einer großen Wochenzeitschrift vorabgedruckt – und der Autor war danach zu Gast in fast jeder Fernsehsendung und wurde als «Integrationsexperte» herumgereicht. Das Problem des Rechtspopulismus, der die anderen Parteien und Spektren vor sich hertreibt, ist nicht erst mit den rasch wachsenden Erfolgen von Pegida oder denen der AfD entstanden.

Autoritäre Politik-Konzepte werden – mit Hinweis auf die Sicherheit, die Finanzierbarkeit des Sozialstaats, den inneren Frieden im Land – seit Jahrzehnten propagiert. Was Migrant*innen, ob nun geflüchtete oder zum Arbeiten angeworbene, zuerst ereilt, verbreitert seinen Wirkungsgrad und wird dann zu einem «gesellschaftlichen» Problem. Das darf uns aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Problem nicht erst dort beginnt, wo die weiß-deutsch-christliche Bevölkerung anfängt, sich Sorgen zu machen, weil die «Demokratie» gefährdet ist.

Unsere Erfahrungen sind, weil sie zu unserem Alltag gehören, keine bedauerlichen Einzelfälle oder Fälle, die nur einem politischen Spektrum zugeschrieben werden können.

Es wäre hilfreich, die Perspektiven der unmittelbar und zuerst «Betroffenen» frühzeitig ernst zu nehmen und gemeinsam mit ihnen Strategien zu entwickeln, die sich nicht auf die Abwehr einer politischen Partei oder einer mehr oder minder großen Bewegung konzentrieren. Was uns als ganzer Gesellschaft gelingen muss, ist eine Vision zu entwickeln, die positiv formuliert, wofür wir alle miteinander stehen wollen – für gleichberechtigten Zugang zu allen gesellschaftlichen Orten und Gütern, für Pluralität und für Inklusion im weitesten Sinn.

Dabei ist es sicher wichtig herauszufinden, warum manche Menschen dazu neigen, rechtspopulistische Antworten auf soziale Fragen zu finden, das darf aber den Fokus nicht von denen nehmen, deren Stimme maßgeblich sein muss für die Frage, was zu tun ist: die Stimme der Marginalisierten. Ihre Erfahrungen – unsere Erfahrungen – sind, weil sie zu unserem Alltag gehören, keine bedauerlichen Einzelfälle oder Fälle, die nur einem politischen Spektrum zugeschrieben werden können. Das ist gar nicht möglich, weil sie sich immer einreihen in eine Reihe von Vorerfahrungen in der Kita, in der Schule, bei der Ausbildung, auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt, im Freizeitbereich, am WG-Tisch, im Sportstudio oder in der Disco – oder den Fernsehnachrichten, wo von Racial Profiling, einem antimuslimischen Mord im Gerichtssaal, einem geplanten Massaker in einer Synagoge oder von Abschiebungen gesprochen wird, die erleichtert werden sollen. Selbst dort, wo solche Nachrichten als das benannt werden, was sie sind – nämlich rassistisch oder antisemitisch –, werden sie als Einzelfälle erzählt, die sie eben für manche Menschen nicht sind und auch nicht sein können.

Verschiedene Menschen sind unterwegs.

Nicht zuletzt deswegen ist es wichtig, sowohl auf internationaler als auch auf nationaler, regionaler und lokaler Ebene strukturelle und institutionelle Machtgefälle und Ausschlüsse endlich zu erörtern und zu beseitigen. Dabei sind die Stimmen der Betroffenen konsequent zu stärken (Empowerment) bzw. ihre vorhandene Stärke als Expertise gelten zu lassen. Nur auf diese Weise können auch bisher allzu oft getrennt geführte Kämpfe zusammengeführt werden und in tragfähigen breiten Allianzen resultieren, in denen Ressourcen geteilt werden, in denen es keinen Paternalismus seitens wohlmeinender «Unterstützungsinitiativen» gegenüber «Betroffenen» gibt und in denen die Verschachtelung von Herrschaftsverhältnissen nicht nur «mitgedacht», sondern zur Ressource für Solidarität und Zusammenarbeit wird (wie etwa bei den großen We‘ll Come United- und Unteilbar-Demonstrationen 2018 und 2019, aber auch in den regionalen und lokalen Bündnissen, die in der Folge entstanden sind).

Zur Stärkung marginalisierter Perspektiven gehört sicher aber auch eine gesamtgesellschaftliche Revision des Begriffs der «politischen Verfolgung», wie er seit dem Kalten Krieg die Debatten um das Recht auf Asyl prägt. Zum Zeitpunkt, als dieser Begriff im heutigen Sinn entstanden ist, lag die Shoa gerade ein paar Jahre zurück. Je mehr Menschen aus Deutschland – und später dem deutschen Machtbereich – hatten flüchten wollen, desto größer wurde die Ablehnung einer Aufnahme in anderen Ländern. Ein internationales Abkommen auf Gegenseitigkeit, wonach, leicht verkürzt, jeder Mensch Anspruch auf eine individuelle Prüfung eines Asylantrags hat, ist zum einen vor diesem Hintergrund zu sehen. Zum anderen aber begann bald nach dem Zweiten Weltkrieg der Kalte Krieg, was zu der Erwartung führte, Menschen, die die Sowjetunion oder ihren Einflussbereich verlassen wollten, sollten in den «Westen» gehen können. Beide Entstehungszusammenhänge hatten also vor allem eine Relevanz für Europa sowie Nordamerika.

Ein sehr großer Teil der Welt war zu dem Zeitpunkt, als die Genfer Flüchtlingskonvention verhandelt wurde, kolonisiert. Es gab für die Länder im Globalen Norden keinen Anlass, mögliche Fluchtgründe aus diesen Gebieten im Verhandlungsergebnis zu berücksichtigen. So diente der Begriff «politische Verfolgung» lange Zeit sowohl als Grund für die Gewährung von Asyl als auch als Grund für die Versagung von Asyl. Dass die Jahrzehnte und Jahrhunderte andauernde Ausbeutung von ganzen Kontinenten, der schonungslose Raubbau an Menschen und natürlichen Ressourcen etwas eminent Politisches ist, muss hier nicht ausgeführt werden. Und dennoch meint der Begriff bis heute etwas anderes: dass eine Regierung Staatsangehörige ihres Landes aus politischen Gründen verfolgt. Hunger, Klimawandel, Bürgerkriege, Armut und viele andere ganz reale und politische Gründe, ein Land zu verlassen, werden nicht nur in Deutschland fast vollkommen ignoriert. Wer nicht staatlich verfolgt wird, soll entweder gar nicht erst einreisen – oder möglichst schnell abgeschoben werden.

Auch wenn die vollständige Entkolonisierung in weiten Teilen noch aussteht, braucht es weitere Asylgründe, die den Situationen der Menschen von heute gerecht werden. Es sollte allen möglich sein zu gehen, wenn sie gehen wollen (oder müssen) – und es sollte allen möglich sein zu bleiben, wo sie eine sichere, auskömmliche Perspektive für sich sehen. Angesichts der machtvoll durchgesetzten Asymmetrien weltweit und innerhalb einer jeden Gesellschaft wäre dies ein kleiner Fortschritt.

Quellen

  • 1. Zu den Auswirkungen des jüngst beschlossenen «Migrationspakets», das aus der Änderung von sieben Gesetzen besteht und in einem Eilverfahren verschiedet wurde, vgl. Informationsverbund Asyl & Migration (Hg.): Asylmagazin, Heft 8–9/2019. Beilage «Das Migrationspaket».
  • 2. Vgl. zu den Bayerischen Vorbildern dieser Einrichtungen und zu einer menschenrechtlichen Einschätzung Schießl, Sascha: Ankerzentren: Normalfall Lager? Die Institutionalisierung der Abgrenzung. In: ProAsyl (Hg.): Heft zum Tag des Flüchtlings 2018. Online: https://www.proasyl.de/ wp-content/uploads/2018/05/PRO_ASYL_Broschuere_TDF18_online_Mai18.pdf.
  • 3. Vgl. Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen, insbesondere § 21. Online: https://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=OJ:L:2013:18 0:0096:0116:DE:PDF.
  • 4. Sinnbildlich für die diskursive Rahmung autoritärer «Lösungen», die im «demokratischen» Lager angekommen steht das «Pro und Contra» der Wochenzeitung Die Zeit unter dem Titel Oder soll man es lassen? Private Helfer retten Flüchtlinge und Migranten im Mittelmeer aus Seenot. Ist das legitim? Online: https://www.zeit.de/2018/29/seenotrettung-fluechtlinge-privat-mittelmeer-pro-contra.
  • 5. Alan Posener (2.9.2010): Thilo Sarrazins Obsession mit den Juden. Die Welt. Online: https://www. welt.de/debatte/kommentare/article9333263/Thilo-Sarrazins-Obsession-mit-den-Juden.html.
  • 6. Nina Grunenberg (5.2.1982): Die Politiker müssen Farbe bekennen. Die Zeit. Online: https://www. zeit.de/1982/06/die-politiker-muessen-farbe-bekennen.
  • 7. o.N. (25.8.1986): Der Druck muß sich erst noch erhöhen, DER SPIEGEL. Online: https://www. spiegel.de/spiegel/print/d-13520281.html.
  • 8. Vgl. z.B. Pieper, Tobias: Flüchtlingspolitik als Lagerpolitik. In: Kasparek, Bernd und Schodder, Mareike (Hg.): Dossier der Heinrich-Böll-Stiftung: Grenz- statt Menschenschutz? Asyl- und Flüchtlingspolitik in Europa, S. 49–51. Online: https://www.boell.de/sites/default/files/assets/boell. de/images/download_de/Dossier_Asyl-_und_Fluechtlingspolitik.pdf.
  • 9. Dabei fand nur drei Tage nach dem «Kompromiss» der rassistische Anschlag in Solingen statt, bei dem fünf Menschen ihr Leben verloren und der viele andere ein weiteres Mal traumatisierte. Dieser Anschlag muss zweifelsfrei als «Siegesfeier» westdeutscher Neonazis verstanden werden, die das Wechselspiel zwischen ihrer Gewalt und dem Handeln der Regierung verstanden hatten.
  • 10. Siehe dazu auch Sigrid Betzelt, Autoritäre Tendenzen in der Sozialpolitik?, in diesem Band.
  • 11. «Terror», «Islamismus», türkischer/kurdischer Nationalismus, Erosion gemeinsamer Werte etc.
  • 12. Siehe dazu Heiner Busch, Der Staat als Gefährder, in diesem Dossier.
  • 13. „Politische Korrektheit“. Damit wird diskriminierungsfreie Sprache beschrieben. Das beinhaltet etwa das Recht, sich selbst zu benennen und benannt zu werden. Geschlechtersensible Sprache gehört beispielsweise dazu. Gegner_innen behaupten, es gäbe einen „Terror der politischen Korrektheit“, der Denkvorschriften beinhalte.
  • 14. Polke-Majewski, Karsten (4.12.2013): Trennt euch! Die Zeit. Online: https://www.zeit.de/ gesellschaft/zeitgeschehen/2013-11/kirche-katholisch-evangelisch-staat-trennung.
  • 15. Wörz, Aaron (12.6.2019): Hass auf die sexuelle Orientierung: Gewalt ist für viele queere Menschen in Sachsen Alltag, Dresdner Neueste Nachrichten. Online: https://www.dnn.de/Region/Umland/ Hass-auf-die-sexuelle-Orientierung-Gewalt-ist-fuer-viele-queere-Menschen-in-Sachsen-Alltag, siehe außerdem Juliane Lang, Geschlecht als Kampfarena, in diesem Band.
  • 16. Yılmaz-Günay, Koray (Hg.) (2014 [2011]): Karriere eines konstruierten Gegensatzes: zehn Jahre «Muslime vs. Schwule». Sexualpolitiken seit dem 11. September 2001. Münster.
  • 17. Diekmann, Kai und Koch, Tanit (5.4.2016): «Die EU entscheidet zu langsam!», BILD-Zeitung. Online: https://www.bild.de/politik/ausland/francois-hollande/die-eu-entscheidet-zu-langsam-45226676.bild.html.
  • 18. o.N. (6.12.2016): «Eine Situation wie im Sommer darf sich nicht wiederholen», DER SPIEGEL. Online: https://www.spiegel.de/politik/deutschland/angela-merkel-bei-cdu-parteitag-fluechtlingskrise-darf-sich-nicht-wiederholen-a-1124599.html.
  • 19. Vgl. etwa Hügel, Ika u.a. (Hg.) (1993): Entfernte Verbindungen. Rassismus, Antisemitismus, Klassenunterdrückung. Berlin.
  • 20. Ella Shohat und Robert Stam weisen auf die Umkehrung CP (Communist Party)/PC hin: Shohat, Ella und Stam, Robert (2012): Race in Translation: Culture Wars Around the Postcolonial Atlantic. New York City.
  • 21. Vgl. etwa das Landesverfassungsgerichtsurteil Mecklenburg-Vorpommerns bezüglich der Verwendung des N-Wortes in einer Landtagsdebatte. Das Gericht hatte Ende 2019 geurteilt, dass ein Ordnungsruf gegen den Vorsitzenden der AfD-Fraktion nicht verfassungskonform gewesen sei, weil das beanstandete Wort nicht geeignet sei, Würde und Ordnung des Parlaments zu verletzen.
  • 22. Zu «Intersektionalität» und «Critical Race Theory» vgl.: de Coster, Claudia/Wolter, Salih/ Yılmaz-Günay, Koray: Intersektionalität in der Bildungsarbeit. In: Kalmring, Stefan und Hawel, Marcus: Bildung mit links! Gesellschaftskritik und emanzipierte Lernprozesse im flexibilisierten Kapitalismus. Online: https://www.vsa-verlag.de/uploads/media/www.vsa-verlag.de-Hawel-Kalmring-Bildung-mit-links.pdf.
  • 23. Brenner, Michael (12.11.2013): 1998: Die Walser-Bubis-Kontroverse. In: Jüdische Allgemeine. Online: https://www.juedische-allgemeine.de/politik/1998-die-walser-bubis-kontroverse.