Handelt es sich bei rechten Protesten der Corona-Leugner:innen um zivilen Ungehorsam? Huyen Vu und Michael Nattke verteidigen das Konzept dagegen. (Seite 1)
Einleitung
Es ist unstrittig, dass Bürger:innen in Diktaturen oder Autokratien ein Recht auf Widerstand gegen den Staat und seine Vertreter:innen haben. Insbesondere die deutsche Geschichte lehrt mit Blick auf die Verbrechen des Nationalsozialismus, dass es weder eine Pflicht noch ein Recht der Bürger:innen auf Gehorsam geben kann. Die Theorie des zivilen Ungehorsams im demokratischen Rechtsstaat steht jedoch vor der Tatsache, dass es nachvollziehbare, transparente und einklagbare Verfahren gibt, um Ungerechtigkeiten auf legalem Wege zu beseitigen. Einzelne Theoretiker:innen sprechen von einer „Friedenspflicht“,1 welche in jenem demokratischen Rechtsstaat existiere, der in seiner Verfassung die Menschenrechte deklariert.
Die zentrale Frage einer Theorie des zivilen Ungehorsams ist aus diesem Grund die nach seiner Rechtfertigung. Zahlreiche Denker:innen haben sich in den letzten Jahrzehnten dieser Frage gewidmet und ausgeführt, unter welchen Bedingungen, in welcher Funktion, mit welchen Inhalten und Zielen und mit welcher Praxis der kalkulierte Regelbruch im demokratischen Rechtsstaat denkbar ist und legitimiert werden kann.
Wenn in aktuellen Debatten darüber geredet wird, dass Akteur:innen des rechten politischen Spektrums den zivilen Ungehorsam für sich entdeckt haben, dann lohnt sich ein gründlicher Rückgriff auf ebendiese Rechtfertigungen des zivilen Ungehorsams im demokratischen Rechtsstaat. Ausgehend von unterschiedlichen Bedeutungen und Bedingungen des zivilen Ungehorsams werden im vorliegenden Beitrag Legitimationsgrundlagen ausgearbeitet, anhand derer dargelegt wird, wie die Diskussionen um einen vermeintlichen zivilen Ungehorsam von rechts zu bewerten sind. Die Autor:innen leiten mit Blick auf jüngste Aktivitäten der extremen Rechten daraus ab, wann von zivilem Ungehorsam im demokratischen Rechtsstaat gesprochen werden kann und wann nicht.
Ausgehend von unterschiedlichen Bedeutungen und Bedingungen des zivilen Ungehorsams werden im vorliegenden Beitrag Legitimationsgrundlagen ausgearbeitet, anhand derer dargelegt wird, wie die Diskussionen um einen vermeintlichen zivilen Ungehorsam von rechts zu bewerten sind.
Ideen des zivilen Ungehorsams
Die ersten theoretischen Überlegungen zu zivilem Ungehorsam finden sich bereits bei dessen historischen Präzedenzfällen: Henry David Thoreaus Steuerboykott, Mahatma Gandhis Widerstand gegen die britische Kolonialmacht und Martin Luther King Jr. als Stimme der Bürgerrechtsbewegung in den USA. Darauf aufbauend haben sich zahlreiche Theoretiker:innen zivilem Ungehorsam konzeptionell angenähert.
Geprägt durch eine Phase US-amerikanischer Geschichte, in der die Bürgerrechtsbewegung und Proteste gegen den Vietnamkrieg den politischen Alltag aufwühlten, beschäftigte sich Hannah Arendt mit den Bedingungen des zivilen Ungehorsams. Ziviler Ungehorsam ist nach Arendt eine Form des politischen Handelns und damit nur unter den Bedingungen von Pluralität von Menschen, also Gemeinschaft, und Öffentlichkeit möglich.2 Verständlich wird dies durch die Abgrenzung von zivilem Ungehorsam zu Handlungen aus Gewissensgründen. Das Gewissen wird bei Arendt als subjektiv charakterisiert, da es sich aus dem reinen „Interesse am eigenen Selbst“3 speist und damit nicht zwangsläufig das Gemeinwohl im Blick hat. Zudem ist das Gewissen nicht politisch in dem Sinne, dass es unter Abwesenheit von Pluralität und öffentlicher Meinungsbildung entstanden ist. Bei zivilem Ungehorsam geht es somit weniger um individuelle Interessendurchsetzung, sondern vielmehr um „organisierte Minderheiten, die durch eine gemeinsame Meinung zusammengehalten werden“.4 Arendt spricht hier von Interessengemeinschaften, die sich in deliberativen Prozessen durch vorhergehende Abstimmungsprozesse und Übereinkünfte herausgebildet haben.5 Wo solche ungehorsamen Gruppen gehindert werden, als Handelnde aufzutreten, wird die soziale Ordnung gestört, was dem Beginn der Zerstörung des politischen Lebens gleichkäme.
Bei zivilem Ungehorsam geht es somit weniger um individuelle Interessendurchsetzung, sondern vielmehr um „organisierte Minderheiten, die durch eine gemeinsame Meinung zusammengehalten werden“.
Im Oktober 1983 führte die bundesdeutsche Friedensbewegung eine Aktionswoche gegen die Stationierung von atomaren Mittelstreckenraketen durch. Jürgen Habermas spricht in diesem Zusammenhang von der erstmals gegebenen Chance, dass die politische Öffentlichkeit einen „bisher tabuisierten Grenzbereich radikaldemokratischer Willensbildung“6 ungezwungen wahrnimmt. Bereits im Vorfeld dieser Aktionen veröffentlichte er einen Aufsatz,7 welcher diese Form des unkonventionellen Protestes zu einem notwendigen Bestandteil der politischen Kultur einer rechtsstaatlichen Demokratie erhebt. Habermas definiert den zivilen Ungehorsam zunächst in Anlehnung an die weit verbreitete Definition von John Rawls, wonach es sich um eine öffentliche, gewaltlose, aber gesetzwidrige Handlung handelt, die gewöhnlich eine Änderung der Gesetze oder Regierungspolitik herbeiführen soll. Auch Habermas legt, ähnlich wie Rawls, besonderen Wert darauf, dass die Protesthandlung des zivilen Ungehorsams in ausschließlich symbolischem Charakter, also gewaltfrei, zu begreifen ist und die Identifikation mit den Verfassungsgrundsätzen einer demokratischen Republik erhalten bleibt. Es geht lediglich um kalkulierte Regelverletzungen, um auf die Einsichtsfähigkeit und den Gerechtigkeitssinn der Mehrheit einzuwirken. Der Entschluss zu Widerstand in Form von zivilem Ungehorsam resultiert daraus, dass man sich nicht damit zufrieden geben will, dass institutionelle Revisionsmöglichkeiten8 einer für illegitim gehaltenen Regelung ausgeschöpft sind. Ziviler Ungehorsam beruht folglich auf Prinzipien, die in der Verfassung selbst verankert sind. Demnach ist für Habermas der zivile Ungehorsam ein moralisch begründeter, öffentlicher Protest mit symbolischem Charakter, der eine vorsätzliche Verletzung von Rechtsnormen beinhaltet und die Anerkennung der rechtlichen Folgen mit einschließt.9
Demnach ist für Habermas der zivile Ungehorsam ein moralisch begründeter, öffentlicher Protest mit symbolischem Charakter, der eine vorsätzliche Verletzung von Rechtsnormen beinhaltet und die Anerkennung der rechtlichen Folgen mit einschließt.
Habermasʼ und Rawlsʼ Ausführungen zu zivilem Ungehorsam werden oftmals als liberales oder konstitutionelles Modell10 rezipiert, in dessen Nähe sich auch Arendts Ideen verorten lassen. Kritik gegen diese kommt sowohl von Stimmen, die sich für die Wahrung der bürgerlichen Friedenspflicht aussprechen,11 als auch von jenen, die zivilen Ungehorsam bewusst als politische Praxis außerhalb der bestehenden Rechts- und Verfassungsordnung definieren und daher das Festhalten am Status quo konstitutioneller Ansätze infrage stellen. So befindet Robin Celikates diese Ansätze als konzeptionell zu eng gefasst, wodurch die politische Praxis des zivilen Ungehorsams übermäßig eingeschränkt wird. Neben der Kritik an den einzelnen Elementen der Definition von Rawls und Habermas geht es Celikates besonders um die Öffnung des Konzepts des zivilen Ungehorsams. Er schlägt eine minimalistische Definition vor und sieht in zivilem Ungehorsam eine vorsätzlich rechtswidrige und prinzipienbasierte kollektive Protestaktion, mit der Bürger:innen (im weitesten Sinne) das politische Ziel verfolgen, bestimmte Gesetze, Politiken oder Institutionen zu ändern.12 Die Fragen bezüglich der Öffentlichkeit des Protests, der Gewaltfreiheit, der Gewissensbestimmtheit usw. werden bewusst offen gelassen, weil es sich um normative Fragen handelt, die nicht auf der Ebene der Definition geklärt werden können. Celikates will mehr das radikaldemokratische und transformative Potential von zivilem Ungehorsam betonen, wonach dieser als „demokratische Praxis kollektiver Selbstbestimmung“13 betrachtet werden kann und so zur stetigen Neugründung von Demokratie führt.
Weiterlesen: Legitimationsgrundlagen des zivilen Ungehorsams
1Isensee (2017 [1983]): 232ff.
2Arendt (1989 [1970]): 122.
3Ebd.: 128.
4Ebd.: 123.
5Ebd.: 122.
6Habermas (1985): 270.
7Habermas (1983).
8Zu den in der Verfassung verankerten Möglichkeiten, politische Entscheidungen zu revidieren, gehören zum Beispiel die Teilnahme an Wahlen und das Recht auf Opposition.
9Habermas (1983): 35.
10Braune (2017).
11Siehe Diskussion zu autoritärem Legalismus in Habermas (1987): 43.
12Celikates (2016): 39.
13Ebd.: 41.