"Die Linke hat Jüdinnen*Juden im Stich gelassen"

Interview

mit Nicholas Potter, Mitherausgeber von „Judenhass Underground – Antisemitismus in emanzipatorischen Subkulturen und Bewegungen“

Eine Frau trägt in selbstgebasteltest Schild mit der Aufschrift: Same Shit, Different Century – gegen jeden Antisemitismus

Nicholas Potter

Lieber Nicholas, du hast gemeinsam mit Stefan Lauer das Buch „Judenhass Underground“ herausgegeben. Wie kam es dazu?

Stefan und ich fühlen uns diversen Subkulturen und sozialen Bewegungen im linken Spektrum verbunden. Wir verstehen uns beide als politisch links, feministisch, antirassistisch – und wir sind auch ganz klar gegen jeden Antisemitismus. Doch vor allem bei Letzterem gibt es in diesen Szenen immer wieder einen blinden Fleck. Über die Jahre haben wir hautnah erlebt, wie antisemitische Anfeindungen und Boykottversuche ganze Szenen zerreißen. Und wir hören von Jüdinnen*Juden, was das mit ihnen macht. Viele fragen sich, wo ihr Platz in diesen Szenen sein soll. Das war der Anlass, ein Buch zu Antisemitismus in all diesen Subkulturen und Bewegungen zu schreiben. Dafür haben wir viele tollte Autor*innen und Gesprächspartner*innen zusammengetrommelt, die ihre Szenen sehr gut kennen, die ihr emanzipatorisches Potenzial sehr schätzen. Wir wollten sehen: Wo gibt es Unterschiede und wo Gemeinsamkeiten, wenn es um Antisemitismus geht? Und vor allem: Wir wollten mit dem Buch eine Debatte auslösen.

Wir hatten euch zu einer Lesung eingeladen im Rahmen der Ausstellung „zusammentun – solidarisch gegen rechts“. Wir wollten damit Antisemitismus in der gesellschaftspolitischen Linken nicht nur als falsche Ideologie, sondern auch als fehlende Solidarität diskutieren. Euer Buch ist noch vor dem Massaker der Hamas in Israel am 7. Oktober erschienen. Seitdem beklagen Jüdinnen_Juden weltweit fehlende Solidarität. Sie fühlen sich allein gelassen, auch und gerade von einer sich emanzipatorisch verstehenden Linken. Wie würdest du die Situation beschreiben?

Viele linke Jüdinnen*Juden haben sich als Teil einer internationalen Linken begriffen, die sie nach dem 7. Oktober vollkommen im Stich gelassen hat. Als zum Beispiel die #MeToo-Kampagne viral ging, war in der Linken klar: Wir glauben Frauen, die von sexualisierter Gewalt, von Vergewaltigungen berichten. Der 7. Oktober hat gezeigt: Diese Solidarität gilt offenbar nicht für israelische Frauen, die von systematischen Vergewaltigungen der Hamas erzählen. Nun sprechen auch freigelassene Geiseln von sexuellem Missbrauch während ihrer Gefangenschaft in Gaza.

Ein weiteres Beispiel ist die internationale Clubszene: Seit Jahren feiert die Boykottbewegung BDS dort Erfolge, indem sie DJs dazu bringen, Israel fernzubleiben. Das Feindbild in der Szene: Israel. Doch selbst nach dem brutalen Angriff auf das Psytrance-Festival Supernova in der Negevwüste, bei dem 364 Raver*innen ermordet und 40 nach Gaza verschleppt wurden, schweigen große Teile dieser Szene. Ihre Solidarität gilt alleine der Zivilbevölkerung Gazas, die übrigens auch enorm unter diesem Krieg leidet. Für die Ermordeten, Entführten und Überlebenden des Festivals: nichts. Akteur*innen der israelischen Technoszene haben mir gesagt: Sie fühlen sich von der eigenen Szene, zu der sie zugehörig fühlten, verraten. Mehr doch: Einige DJs feiern sogar den Terror der Hamas als legitimen Widerstand gegen Besatzung.

Selbst feministische Gruppen leugnen, dass die Hamas-Kämpfer bei dem Angriff massenhaft vergewaltigt haben, und ziehen die Aussagen der Betroffenen in Zweifel – eigentlich ein No-Go in feministischen Bündnissen. Denn parteilich auf Seiten der Opfer sexualisierter Gewalt zu stehen, gilt als feministischer Standard. Wie kann das passieren? Lässt sich das durch Antisemitismus erklären?

Ohne Antisemitismus kann ich mir das nicht erklären. Wenn man jüdische Israelis zu einem ideologischen Feindbild erklärt hat, dann kann man sie offenbar nur noch als Täter*innen und nie als Betroffene sehen. Die Heuchelei finde ich entsetzlich. Jüdische Feminist*innen haben deshalb die Kampagne „Me Too Unless You’re a Jew“ ins Leben gerufen – Me Too, es sei denn, man ist Jüdin. Gleichzeitig vermisse ich eine tatsächlich feministische Kritik an dem aktuellen Krieg. Lasst uns kritisieren, dass israelische Frauen systematisch vergewaltigt worden sind, lasst uns dafür einsetzen, dass die weiblichen Geiseln sofort freigelassen werden müssen, weil wir ansonsten eventuell in wenigen Monaten mit den ersten vollendeten Schwangerschaften rechnen müssen. Aber lasst uns auch kritisieren, dass Frauen und Kinder in Gaza am allermeisten unter der Herrschaft der Hamas und den Luftangriffen der IDF leiden, dass sie in einer wirklich furchtbaren Situation sind, wo es kaum Hygieneartikel gibt, geschweige denn eine sichere medizinische Infrastruktur für Geburten.

Israel wird von einer rechten Regierung regiert, die weltweit in der Kritik steht. Die israelische Gesellschaft ist jedoch sehr vielfältig, gerade auch politisch. Die Demokratiebewegung, die gegen die autoritäre Justizreform der Regierung protestiert, fordert schon lange deren Rücktritt. Viele Freund*innen und Angehörigen der Geiseln der Hamas äußern sich ebenso kritisch. Diese Menschen scheinen in der aktuellen Debatte kaum gesehen zu werden – müssten sie nicht die Bezugspunkte für Bewegungen sein, die sich als solidarisch und emanzipatorisch begreifen?

Viel zu oft wird der Nahostkonflikt nur schwarz-weiß gesehen. Emanzipatorische Bewegungen sollen sich aber auch mit der mutigen Demokratiebewegung in Israel solidarisieren, die schon lange vor dem 7. Oktober für einen Stopp der geplanten Justizreform und gegen die Netanjahu-Regierung protestiert. Wir müssen die progressiven demokratischen Kräften vor Ort stärken – so wie wir das eigentlich in jedem anderen Land auch tun würden. Dass Israel aber oft pauschal abgelehnt und dämonisiert wird, ohne jegliche Nuance, spricht Bände. Als emanzipatorische Bewegungen müssen wir uns übrigens genauso mit queeren Menschen in der Westbank solidarisieren, die enormer Repression und Gewalt ausgesetzt sind. Wir müssen auch die mutigen Proteste in Gaza gegen die Herrschaft der Hamas begrüßen. Solidarität darf nicht eindimensional bleiben. Wir brauchen dynamische Allianzen, die mit diesem dichotomen Denken brechen.

Buchcover Judenhass Underground
Das Buch "Judenhass Underground" ist im Hentrich&Hentrich Verlag erschienen.

Das Anliegen eures Buches habe ich so verstanden, dass es um solidarische Kritik geht. Wie geht solidarische Kritik? Und ist das angesichts so tiefer Gräben und eklatanter Ignoranz noch ein möglicher Weg?

Unsere Kritik ist solidarisch gemeint, weil wir selbst aus diesen Subkulturen und sozialen Bewegungen kommen. Wer ernsthaft Antisemitismus bekämpfen will, muss in den eigenen Reihen anfangen. Das ist der große Unterschied zu rechten und konservativen Akteur*innen, die immer nur Antisemitismus bei den anderen, vor allem bei Migrant*innen sehen wollen – und nie bei sich selbst. Und unsere Kritik ist solidarisch, weil wir nämlich betonen, dass die Kämpfe gegen Rassismus und Antisemitismus nicht gegeneinander ausgespielt werden dürfen. Denn Nazis haben ein rassistisches und ein antisemitisches Weltbild. Die Ideologie der Attentäter von Halle und Hanau war sowohl rassistisch als auch antisemitisch. Der Verschwörungsmythos des „Großen Austausches“ ist das auch: Muslime würden Europa überfremden, gesteuert von den jüdischen Strippenziehern. Aber klar: Kritik kann weh tun, soll sie auch. Wir legen bewusst die Finger in die Wunde.

Ihr seid sehr viel mit dem Buch unterwegs. Welche Erfahrungen macht ihr bei den Lesungen? Wer kommt und wer kann noch mit wem diskutieren?

Vor allem seit dem 7. Oktober haben wir das Gefühl, dass unsere Buchveranstaltungen für viele Besucher*innen als eine Art Therapierunde funktionieren. Viele sind fassungslos, dass die bestialische Gewalt der Hamas in ihren Szenen nicht klar verurteilt wird, dass Antisemitismus freien Lauf hat. Aber es gibt noch viele Menschen in linken Bewegungen, die sowohl Rassismus als auch Antisemitismus anprangern wollen. Das zeigt auch die rege Teilnahme an unseren Veranstaltungen, die rappelvoll sind. Diskutieren kann im Prinzip jede*r, solange er oder sie sich an den Spielregeln des demokratischen Diskurses hält. Kritische Fragen begrüßen wir, das gehört dazu. Aber leider bleibt es manchmal nicht nur dabei: Wir werden niedergebrüllt, beleidigt, gar bedroht. In der Regel dauern diese Störaktionen nicht besonders lange, weil das Publikum solche Versuche, die Veranstaltung zu unterbrechen, selbst lautstark kritisiert. Das Publikum lässt sich den sachlichen Diskurs und inhaltlichen Austausch nicht nehmen. Das finde ich super. Diesen Diskurs aggressiv verhindern zu wollen, ist Teil eines autoritären Turns innerhalb Teilen der Linken, von dem Antisemitismus auch ein Aspekt ist. Ich sehe unter manchen Akteur*innen zum Beispiel auch eine zunehmende Pressefeindlichkeit. Sie verabschieden sich von demokratischen Werten.

Ich könnte mir übrigens niemals vorstellen, zu einer Veranstaltung über Rassismus hinzugehen, um sie niederzubrüllen und rumzuschreien. Dass das aber bei Veranstaltungen zu Antisemitismus keine Seltenheit ist, untermauert nur unseren Punkt in „Judenhass Underground“. Beim Thema Antisemitismus ist das offenbar für einige ein hinnehmbares Verhalten – und das sagt viel über ihr ideologisches Weltbild.

Antisemitismus wird ja nicht zeitnah verschwinden. Was können Bildungseinrichtungen wie die Böll-Stiftungen dennoch jetzt tun?

Unsere Aufgabe als Journalist*innen ist es, das Problem zu beleuchten, zu dokumentieren. Jetzt sind Pädagog*innen gefragt. Denn immer wieder wird uns klar: Es gibt sehr viel Unwissen, was Antisemitismus angeht. Gleichzeitig meinen viele ganz genau zu wissen, was eben antisemitisch ist – und vor allem was nicht –, ohne sich damit richtig auseinandergesetzt zu haben. Weil klar ist: Die allerwenigsten wollen nach Selbstbild Antisemit*innen sein. Wir müssen aber stattdessen endlich das tun, was bei anderen Diskriminierungsformen zu Recht selbstverständlich ist: Nämlich betroffenen Jüdinnen*Juden zuhören. Und dabei nicht in die Falle tappen, einzelne Perspektiven als Kronzeugen zu universalisieren. Es gibt eine Vielfalt an jüdischen Perspektiven. Aber was wir seit dem 7. Oktober von sehr vielen Jüdinnen*Juden aus vielen Ländern hören, ist, dass sie Angst haben. Und das bildet sich auch in den rasant steigenden Statistiken zu antisemitischen Straftaten weltweit ab.

Wer ernsthaft Antisemitismus bekämpfen will, muss in den eigenen Reihen anfangen. Das ist der große Unterschied zu rechten und konservativen Akteur*innen, die immer nur Antisemitismus bei den anderen, vor allem bei Migrant*innen sehen wollen – und nie bei sich selbst.

Es gibt außerdem enorme Wissenslücken, was das Thema Nahostkonflikt angeht. Zu viele leiten eine Handlungsstrategie aus einem Missverständnis des Konflikts ab: Wer glaubt, dass Israel schlimmer als Nazideutschland ist, findet jeden Angriff gegen den jüdischen Staat gerechtfertigt. Und wer glaubt, dass Israelis nur weiße Kolonialist*innen aus Europa ohne jeglichen Bezug zur Region sind, die sich eines Tages dazu entschieden haben, einem indigenen Volk ihr Land zu rauben, will dieses Unrecht wieder rückgängig machen. Gespräche haben mir immer wieder gezeigt: Viele kennen die genaue Entstehungsgeschichte Israels nicht, sie wissen zum Beispiel nicht, dass der junge jüdische Staat immer wieder von den arabischen Nachbarländern angegriffen wurde. Oder dass rund 900.000 Jüdinnen*Juden aus den Nachbarländern vertrieben worden sind und dass ihre Community – die Mizrahim – heute ein bisschen mehr als die Hälfte der jüdischen Israelis bildet. Ein Drittel der Bevölkerung von Baghdad war übrigens früher jüdisch, heute leben dort weniger als fünf Jüdinnen*Juden – hier redet aber so gut wie keine*r von Apartheid oder ethnischer Säuberung.

Ich würde nochmal weiter ausholen aus Perspektive der politischen Bildung. Der Umgang mit Antisemitismus ist oft inkonsequent. Die Universitäten, etwa die FU Berlin stehen hier massiv in der Kritik. Dazu kommen Fehler und Unbeholfenheit: Beispielsweise wird eine Fotoausstellung über muslimisches Leben in Berlin abgesagt, weil ihr der „Gegenpol“ fehle, man hätte gleichzeitig jüdisches Leben zeigen müssen. Mein Eindruck ist, da versuchen Leute, alles richtig zu machen und nicht angreifbar zu sein, aber einen Begriff von Antisemitismus erkenne ich nicht. Andersherum gibt es berechtigte Absagen, die denkbar schlecht begründet werden – etwa nur formell. Wie kommen wir an dieser Stelle weiter?

Wir müssen differenzieren und auch andere Meinungen aushalten. Es gibt aber kein Recht auf antisemitische Propaganda, erst recht nicht mit staatlicher Förderung – ausgerechnet im Land der Shoah. Ich finde es persönlich falsch, wenn Künstler*innen alleine wegen eines vor zehn Jahren unterschriebenen BDS-nahen offenen Briefes plötzlich ausgeladen oder gecancelt werden. Stattdessen fände ich Dialog hier angemessener: Warum hat die Person diesen Aufruf unterschrieben? Sieht sie das heute immer noch so? Kann man da aufklären, was an dem Inhalt problematisch sein könnte?

Es ist ein Drahtseilakt: Wir brauchen klare Grenzen gegen Antisemitismus, der keinen Platz in unserer Gesellschaft und unserer Kulturwelt haben darf. Aber wir dürfen diesen Kampf nicht von Rassist*innen instrumentalisieren lassen, die (post-)migrantische Personen unter Generalverdacht stellen, antisemitisch zu sein. Es ist absurd, dass eine Fotoausstellung über muslimisches Leben in Berlin abgesagt wurde, weil es nicht gleichzeitig auch eine Ausstellung zu jüdischem Leben gab. Und dass gleichzeitig die documenta, auf der eindeutig und zutiefst antisemitische Bilder und Propaganda gezeigt wurden, nicht abgebrochen wurde.

Vielen Dank für das Interview!

Nicholas Potter ist britischer Journalist und arbeitet bei der Amadeu Antonio Stiftung in Berlin. Er schreibt für diverse Medien wie die taz, Tagesspiegel, Haaretz und Jüdische Allgemeine über die extreme Rechte, Antisemitismus, Rassismus, Subkulturen, Bewegungen und mehr. Zuvor war er Theaterredakteur beim Exberliner Magazine. Er studierte am King’s College London und der Humboldt-Universität zu Berlin.

Interview: Hannah Eitel

Zum Buch

Niemand will Antisemit sein. Erst recht nicht in Bewegungen mit einem progressiven, emanzipatorischen Selbstbild. Judenhass geht aber auch underground – ob Rapper gegen Rothschilds, DJs for Palestine oder Punks Against Apartheid. BDS, die Boykottkampagne gegen den jüdischen Staat, will nahezu jedes Anliegen kapern, von Klassenkampf bis Klimagerechtigkeit. Altbekannte Mythen tauchen in alternativer Form wieder auf, bei Pride-Demos, auf der documenta oder beim Gedenken an rassistischen Terror. Und viele Jüdinnen*Juden fragen sich, wo ihr Platz in solchen Szenen sein soll.

Das Buch ist im Leipziger Hentrich & Hentrich Verlag erschienen.