Handelt es sich bei rechten Protesten der Corona-Leugner:innen um zivilen Ungehorsam? Huyen Vu und Michael Nattke verteidigen das Konzept dagegen. (Seite 3/3)
Anhand einiger Beispiele soll nachfolgend kurz skizziert werden, warum die Aufrufe oder das Handeln zu politisch motivierten Regelbrüchen von rechts keinen zivilen Ungehorsam darstellen. Die Argumentation beruft sich dabei auf die bisherigen Ausführungen, die sich auf diverse wissenschaftliche und philosophische Arbeiten zur Theorie des zivilen Ungehorsams beziehen.
Aufruf des Verschwörungsideologen Bodo Schiffmann zu zivilem Ungehorsam in Zusammenhang mit den Coronamaßnahmen
Auf einer Demonstration, die sich gegen die staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung der Coronapandemie richtete, hielt der Arzt Bodo Schiffmann im Juli 2020 in Heilbronn eine Rede und rief zum zivilen Ungehorsam auf. Bezugnehmend auf eine Situation, in welcher er in einem Geschäft etwas zu kaufen versuchte, ohne dabei einen Mund-Nasen-Schutz zu tragen, der zu diesem Zeitpunkt Pflicht war, sagte Schiffmann in seiner Ansprache:
„So werden Sie in Deutschland behandelt, wenn Sie sich gesetzeskonform verhalten. […] Das muss aufhören! Und hier muss endlich mal ein bisschen ziviler Ungehorsam! Es macht sehr viel Spaß, ohne Attest und Maske darauf hinzuweisen, dass wir aus sonstigen Gründen darauf verzichten können. Unsere sonstigen Gründe sind auch meine politische Einstellung, weil ich bin Querdenker.“
Schiffmann ist sich dabei der Regelverletzung bewusst und es kann davon ausgegangen werden, dass er auch bereit ist, die rechtlichen Folgen zu tragen. Diese dürften bei diesem Regelverstoß darin liegen, dass er in einigen Geschäften nicht bedient wird oder ihm der Zutritt verweigert wird. Alle anderen Prinzipien, die der zivile Ungehorsam mit sich bringt, werden nicht erfüllt.
Was Schiffmann in seiner Rede als zivilen Ungehorsam bezeichnet, ist der Verzicht auf einen Mund-Nasen-Schutz in Bereichen, in denen ein solcher vorgeschrieben ist. Er möchte damit gegen ein Unrecht demonstrieren, dass er durch die Verpflichtung zum Mund-Nasen-Schutz empfindet. Zweifellos ist seine Handlung ein symbolischer Protest und die Protestmittel sind begrenzt. Schiffmann ist sich dabei der Regelverletzung bewusst und es kann davon ausgegangen werden, dass er auch bereit ist, die rechtlichen Folgen zu tragen. Diese dürften bei diesem Regelverstoß darin liegen, dass er in einigen Geschäften nicht bedient wird oder ihm der Zutritt verweigert wird. Alle anderen Prinzipien, die der zivile Ungehorsam mit sich bringt, werden nicht erfüllt. Schiffmann orientiert sich nicht an universellen moralischen Prinzipien. Diese könnten in Zusammenhang mit der Covid-19-Pandemie ausschließlich die Gesundheit und das Leben von Menschen sein.
Ebenso findet kein Einsatz für Minderheiten statt. Im Zusammenhang mit Covid-19 könnten zum Beispiel Menschen, die einer Risikogruppe angehören und dadurch besonders gefährdet sind, eine Minderheit sein, für deren Interessen sich die Mehrheit einsetzen könnte. Schiffmanns Aufruf ist ganz im Gegenteil dazu geeignet, dieser Minderheit zu schaden. Am Ende seiner Rede sagt Schiffmann: „Diese Regierung muss weg! Und diese Regierung muss zur Rechenschaft gezogen werden und muss Rechenschaft ablegen, wie sie dazu kamen, wie sie profitiert haben und wer davon alles profitiert!“ Es kann also zumindest angezweifelt werden, dass die Legalität der demokratischen Ordnung von Schiffmann anerkannt wird. Es ist davon auszugehen, dass der Aufruf von Bodo Schiffmann keinen zivilen Ungehorsam darstellt.
Migrationsgegner:innen blockieren einen Bus mit Geflüchteten und hindern diesen an der Weiterfahrt
Anfang Februar 2016 versammelten sich im Dorf Clausnitz in Sachsen etwa 100 Bürger:innen, um die Zufahrtsstraße zu einer Unterkunft für Geflüchtete zu blockieren. In einem ankommenden Bus befanden sich etwa 20 Geflüchtete, darunter Familien mit Kindern. Die aufgebrachte Menge stellte sich dem Bus in den Weg und skandierte dabei: „Wir sind das Volk!“ Die Menschen im Bus wurden durch die Blockade so eingeschüchtert, dass sie ihn nicht verlassen wollten. Nur weil die anwesenden Polizeibeamt:innen die Geflüchteten aus dem Bus zerrten, sind diese in die Unterkunft gelangt. In rechten Medien wurde die Aktion später als ziviler Ungehorsam gefeiert. Alle Strafverfahren gegen die Teilnehmer:innen der Blockade wurden später gegen Zahlung einer Geldstrafe eingestellt. Mehrere Angeklagte betonten, dass die Zustimmung zur Zahlung der Geldstrafe kein Schuldeingeständnis sei.
Der Protest wendet sich gegen Geflüchtete, die in Clausnitz ihre Unterkunft beziehen wollten. Die Protestierenden sprechen den Menschen ihr Menschenrecht auf Asyl ab und stellen sich gegen universelle moralische Prinzipien.
Auf den ersten Blick bedienen sich die Beteiligten einer klassischen Aktionsform aus dem Repertoire des zivilen Ungehorsams – der Blockade. Fraglich ist, ob der Protest dennoch nur auf einer symbolischen Ebene Wirkung erzielte. Zwar gab es keine direkten Zusammenstöße zwischen den Blockierer:innen und den Menschen im Bus, jedoch mussten im Nachhinein mehrere Geflüchtete notärztlich behandelt werden, weil sie durch die Protestierenden eingeschüchtert wurden und zusammengebrochen sind. Außerdem gibt es große Zweifel, dass die demokratische Ordnung anerkannt wird. Herleiten lässt sich dies durch die Missachtung der ersten beiden Legitimationsgrundlagen zivilen Ungehorsams, der Orientierung an universellen moralischen Prinzipien und der Beachtung der Schutzbedürftigkeit von Minderheiten.
Der Protest wendet sich gegen Geflüchtete, die in Clausnitz ihre Unterkunft beziehen wollten. Die Protestierenden sprechen den Menschen ihr Menschenrecht auf Asyl ab und stellen sich gegen universelle moralische Prinzipien. Die Blockierer:innen handeln allein nach egoistischen Einzelinteressen, aber keinesfalls gemeinwohlorientiert. Die Minderheit sind in diesem Fall die Geflüchteten, deren Schutzbedürftigkeit bei der Blockade in Clausnitz nicht nur missachtet, sondern ihnen auch abgesprochen wird. Nur zutreffend sind die beiden Umstände, dass der Protest öffentlich war und die rechtlichen Folgen der Gesetzesübertretung in der Hinsicht anerkannt wurden, da die verhängten Geldstrafen gezahlt wurden. Zusammengefasst kann auch in diesem Fall nicht von zivilem Ungehorsam gesprochen werden.
Fazit
An dieser Stelle lohnt ein Blick auf die Wortbedeutung von „zivil“. Entlehnt aus lateinisch cīvīlis bedeutet das Wort so viel wie „den Bürger betreffend“ und „gemeinnützig“. In Bezug auf zivilen Ungehorsam meint der Begriff nicht nur die zivile, das heißt nichtmilitärische und gewaltlose Wahl der Protestmittel und dass Bürger:innen als handelnde Subjekte auftreten. Vielmehr umschreibt er eine „Art ziviler Bindung an den Gegner […], wie angespannt und umstritten diese auch sein mag, und ist unvereinbar mit dem Versuch, einen Feind zu zerstören oder ihn permanent aus der politischen Gemeinschaft auszuschließen“.30
Die Frage der Legitimierung des zivilen Ungehorsams ist somit eine fortwährende und nicht endende Auseinandersetzung über Definitionen, Macht und Deutungshoheiten.
In diesem Beitrag wurden die ideengeschichtlichen Ausführungen unterschiedlicher Denker:innen zu zivilem Ungehorsam diskutiert und Legitimationsgrundlagen herausgearbeitet, die anhand zweier Fälle geprüft worden sind. Konzeptionell ging es den Autor:innen dieses Beitrages darum, einen Dialog zwischen Theorie und Praxis herzustellen. Ziviler Ungehorsam ist eine politische Praxis, die im Kontext der Zeit aufgefasst wird. Regelbrüche, die gestern als antidemokratische Anmaßung empfunden wurden, gelten heute als mutiger Beitrag der Demokratisierung. Die Frage der Legitimierung des zivilen Ungehorsams ist somit eine fortwährende und nicht endende Auseinandersetzung über Definitionen, Macht und Deutungshoheiten. Ein weiteres Ziel dieses Beitrags ist daher die Abgrenzung des Konzepts des zivilen Ungehorsams von dem, was es nicht ist. Wenn Einzelne oder Protestgruppen demokratische Grundwerte angreifen, dann kann dies nicht unter der Bezeichnung des zivilen Ungehorsams passieren. Hinter diesem Begriff verbirgt sich seit jeher emanzipatorisches Potential. Es geht um nicht weniger als um das Aufleben und die Erneuerung von Demokratie.
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Literatur
Arendt, Hannah (1989 [1970]): Ziviler Ungehorsam (1970). In: Zur Zeit. Politische Essays, hg. v. Marie Luise Knott, München, S. 119–160.
Balibar, Étienne (2011): „Menschenrechte“ und „Bürgerrechte“. Zur modernen Dialektik von Freiheit und Gleichheit. In: Die Revolution der Menschenrechte. Grundlegende Texte zu einem neuen Begriff des Politischen, hg. v. Christoph Menke/Francesca Raimondi, Berlin, S. 279–305.
Balibar, Étienne (2012): Gleichfreiheit. Politische Essays. Berlin.
Braune, Andreas (Hg.) (2017): Ziviler Ungehorsam. Texte von Thoreau bis Occupy. Stuttgart.
Brownlee, Kimberley (2015): Conscience and Conviction: The Case for Civil Disobedience. Oxford.
Celikates, Robin (2016): Rethinking Civil Disobedience as a Practice of Contestation – Beyond the Liberal Paradigm. In: Constellations, 23, S. 37–45.
Celikates, Robin (2019): Constituent power beyond exceptionalism: Irregular migration, disobedience, and (re-)constitution. In: Journal of International Political Theory, 15, S. 67–81.
Dworkin, Ronald (2017 [1983]): Ethik und Pragmatik des zivilen Ungehorsams. In: Ziviler Ungehorsam. Texte von Thoreau bis Occupy, hg. v. Andreas Braune, Stuttgart, S. 249–278.
Frankenberg, Günter (1984): Ziviler Ungehorsam und Rechtsstaatliche Demokratie. In: JuristenZeitung 39, S. 266–275.
Habermas, Jürgen (1983): Ziviler Ungehorsam – Testfall für den demokratischen Rechtsstaat. Wider den autoritären Legalismus in der Bundesrepublik. In: Ziviler Ungehorsam im Rechtsstaat, hg. v. Peter Glotz, Frankfurt a. M., S. 29–53.
Habermas, Jürgen (1985): Recht und Gewalt – ein deutsches Trauma. In: Die neue Unübersichtlichkeit. Kleine politische Schriften V, hg. v. Jürgen Habermas, Frankfurt a. M., S. 100–117.
Habermas, Jürgen (1987): Eine Art Schadensabwicklung. Kleine politische Schriften VI. Frankfurt a. M.
Isensee, Josef (2017 [1983]): Ein Grundrecht auf Ungehorsam gegen das demokratische Gesetz? Legitimation und Perversion des Widerstandsrechts. In: Ziviler Ungehorsam. Texte von Thoreau bis Occupy, hg. v. Andreas Braune, Stuttgart, S. 229–248.
Rawls, John (2017 [1971]): Eine Theorie der Gerechtigkeit. In: Ziviler Ungehorsam. Texte von Thoreau bis Occupy, hg. v. Andreas Braune, Stuttgart, S. 98–128.
30Celikates (2019): 71.