Bereits mit seinem Inkrafttreten vor mehr als 150 Jahren war der Paragraf 218 Strafgesetzbuch (StGB) umstritten und umkämpft. Der Zugang zu einem sicheren, medizinisch betreuten Schwangerschaftsabbruch unterlag schon immer großen rechtlichen Schwankungen. Zugleich war der Abbruch Gegenstand des ideologischen Wettstreits zwischen den beiden deutschen Staaten DDR und BRD. Spätestens mit der Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs in den ersten drei Monaten 1972 galt die DDR als das Musterland der Gleichberechtigung. Bis heute wird dieses Gesetz im Kampf gegen die gegenwärtigen Paragrafen 218 und 219 herangezogen, um die Rückständigkeit Deutschlands hinsichtlich der reproduktiven Rechte der Frauen anzuprangern. Eine genaue Betrachtung der rechtlichen Regelung und alltäglichen Praxis des Schwangerschaftsabbruchs erfolgt jedoch selten. Besonders die beiden Jahrzehnte vor der Gesetzesnovelle von 1972 finden in der öffentlichen und feministischen Wahrnehmung kaum Beachtung. Dabei sind sie für das Verständnis der Handhabung des Schwangerschaftsabbruchs unerlässlich.
1945 BIS 1950: ZWISCHEN BEVÖLKERUNGSPOLITIK UND LINDERUNG DER NOT
In Sachsen galt von 1945 bis 1950 die Indikationsregelung, wonach ein Schwangerschaftsabbruch in den ersten Monaten straffrei durchgeführt werden konnte, wenn eine ethische, medizinische oder soziale Indikation vorlag. Der Schwangerschaftsabbruch musste von der betroffenen Frau beantragt werden und bedurfte der Genehmigung des Ehemanns. Anhand der Angaben im Antrag und Gutachten von Fürsorgerinnen und Mediziner/innen entschied die Gutachterkommission, ob eine dieser Indikationen vorlag oder nicht. Mit dieser Gesetzgebung vollzog die SED eine Abkehr von der Forderung ihrer Vorgängerpartei, der KPD, den Schwangerschaftsabbruch aus dem Strafgesetzbuch zu streichen und den Frauen das freie Recht auf körperliche Selbstbestimmung zu garantieren.1 Stattdessen verfolgte sie eine Politik der „kontrollierten Selbstbestimmung“: Einerseits wollte die Regierung den Lebensumständen der Frauen Rechnung tragen. Insbesondere die soziale Indikation empfanden viele Frauen als eine (überlebens-)notwendige Möglichkeit, eine ungewollte Schwangerschaft zu beenden. Anderseits sollte die biologische Reproduktion der Gesellschaft nicht gefährdet werden. Die Ernennung von Gutachterkommissionen gab der Regierung die Möglichkeit, in das Gebärverhalten der Frauen regulierend einzugreifen. Vor diesem Hintergrund sollten die Kommissionen nicht ergebnisoffen mit den Frauen beraten, sondern sie von einer Fortsetzung der Schwangerschaft „überzeugen“. Schließlich zeigen insbesondere die Debatten im Sächsischen Landtag 1947, dass auch bei den SED-Genoss/innen ein patriarchales Frauenbild fortbestand. Abgeordnete wie Elise Thümmel betrachteten Mutterschaft als einen integralen Bestandteil bzw. als „höchste Vollendung“ des Frauseins.2
Die soziale Indikation stellte die häufigste Begründung für einen Schwangerschaftsabbruch dar, gefolgt von der medizinischen und ethischen Indikation. Die häufigsten in den Anträgen und Einsprüchen genannten Gründe für einen Abbruch waren körperliche und mentale Erschöpfung als Folge des Zweiten Weltkriegs sowie der Verantwortung für das Sichern des alltäglichen (Über-)Lebens. Weiterhin waren der Mangel an Wohnraum und an Dingen des täglichen Bedarfs, insbesondere für Neugeborene, wesentliche Argumente für einen Schwangerschaftsabbruch. Zwar war den Mitgliedern der Gutachterkommissionen die „Bürde der Überlebensarbeit“,3 die hauptsächlich die Frauen in der Nachkriegsgesellschaft trugen, durchaus präsent. Dennoch bewilligten sie weniger als die Hälfte der gestellten Anträge mit sozialer Indikation. Die geringe Genehmigungsquote zeigt, dass bei sozialer Indikation weniger die individuelle Notlage der Frau im Mittelpunkt stand, sondern die gesellschaftliche Situation ausschlaggebend war.4
1950 BIS 1972: ZURÜCK ZUR RESTRIKTIVEN NORMALITÄT
Das Gesetz über den Mutter- und Kinderschutz und die Rechte der Frau vom 27. September 1950 bedeutete eine Rückkehr zur restriktiven Normalität des Schwangerschaftsabbruchs. Die bis dahin in den jeweiligen Ländern bestehenden Indikationen wurden abgeschafft. Der nun für die gesamte DDR geltende Paragraf 11 erlaubte Abbrüche nur bei einer medizinischen und eugenischen Indikation. Das bereits zwischen 1947 und 1949 praktizierte Antragsverfahren bestand fort. Ungewollt schwangere Frauen mussten weiterhin einen Abbruch bei der örtlichen zuständigen Kommission beantragen.
Das 1950 verabschiedete Gesetz war ein Versuch, eine pronatale Bevölkerungspolitik und eine auf Emanzipation der Frau ausgerichtete Politik in Einklang zu bringen. Zum einen galt es, mit den restriktiven Bestimmungen die Zahl der Schwangerschaftsabbrüche zu verringern und die Geburtenzahlen zu steigern. Paragraf 11 war eingebettet in zahlreiche sozialpolitische Maßnahmen, die die Entstigmatisierung alleinstehender Mütter und die Vereinbarkeit von Familie und Beruf erleichtern sollten. Das in dem Gesetz zugrundeliegende Emanzipationsverständnis war das der erwerbstätigen Mutter. Vor diesem Hintergrund verfolgte die SED in den 1950er und 1960er Jahren eine Qualifizierungs- und arbeitsmarktpolitische Offensive, die die Berufstätigkeit der Frauen erhöhen sollte. Die patriarchale Geschlechterasymmetrie blieb dennoch unangetastet: Frauen waren weiterhin für die (unbezahlte) Haus- und Care-Arbeit zuständig.
Die „zwiespältige Modernität“5 des Mutter- und Kinderschutzgesetzes von 1950 zeigte sich insbesondere in der Regelung des Schwangerschaftsabbruchs. Frauen als Betroffene waren – mit Ausnahme einiger DFD-Vertreterinnen – bei der Ausarbeitung des Gesetzes nicht einbezogen. Ihnen blieb lediglich die Rolle der Antrags- bzw. Bittstellerin. Diese patriarchale Entmündigung zeigt, dass die SED den Frauen einen selbstbestimmten Umgang mit ihrem eigenen Körper und eine verantwortungsbewusst getroffene Entscheidung über den Fortgang der Schwangerschaft absprach. Anstelle der Frau bestimmte ein Gremium aus Ärzt/innen und Vertreter/innen staatlicher Organisationen über den Abbruch oder die Fortsetzung der Schwangerschaft.
Infolge der neuen gesetzlichen Bestimmungen und der geringen Genehmigungsquote nahm die Zahl der eingereichten und genehmigten Anträge auf Schwangerschaftsabbruch im Verlauf der 1950er Jahre rapide ab. Diese rückläufigen Tendenzen zeigen sich auch in Sachsen. Die Abnahme der Anträge auf Schwangerschaftsabbruch war zugleich ein Ausdruck, dass sich die Frauen in der DDR der Rolle der Bittstellerin, die den Staat quasi um Erlaubnis fragen musste, verweigerten. Stattdessen versuchten sie, auf illegalem Wege Schwangerschaften zu beenden, was mit großen gesundheitlichen Risiken und einer hohen Sterblichkeitsrate der Frauen verbunden war. Bis heute ist die Geschichte des illegalen Schwangerschaftsabbruchs, dessen Bedingungen, Strukturen und Akteur/innen in der SBZ/DDR unerforscht. Ebenso reicht das Schweigen der betroffenen Frauen über deren Erfahrungen mit illegalen Schwangerschaftsabbrüchen bis in die Gegenwart.
Die teils dramatischen Folgen des restriktiven Paragrafen 11 und der von Frauen als Widerspruch zur propagierten Gleichberechtigungspolitik empfundenen Regelung führte Mitte der 1960er Jahre zu einer Lockerung. Mit den neuen Instruktionen, die unter anderem eine sozial-medizinische Indikation vorsahen, stieg die Zahl der Anträge erneut rasant an. Die 1965 vorgenommene zögerliche Liberalisierung war ein indirektes Eingeständnis der SED, dass ihre bisherige Politik hinsichtlich des Schwangerschaftsabbruchs gescheitert und eine umfassende Reform der bisherigen Gesetzgebung notwendig war.
1972 BIS 1989/90: ANSCHLUSS AN DIE MODERNE
Am 9. März 1972 führte die SED die Fristenregelung ein. Innerhalb der ersten zwölf Schwangerschaftswochen konnten die Frauen in der DDR ohne Angabe von Gründen einen Schwangerschaftsabbruch durchführen lassen. Der Arzt bzw. die Ärztin waren lediglich verpflichtet, über die möglichen Risiken des Eingriffs aufzuklären und über wirksame Verhütungsmethoden zu informieren.
Für die Einführung der Fristenregelung spielten gleich mehrere Faktoren eine Rolle. Im Vergleich zu anderen sozialistischen Staaten, die für den Schwangerschaftsabbruch längst liberale Gesetze verabschiedet hatten, drohte die DDR ins Hintertreffen zu geraten. Zugleich erhöhte die zunehmende Kritik von Ärzt/innen und Frauen, die das restriktive Antragsverfahren mit der postulierten Gleichberechtigung als unvereinbar kritisierten, den Reformdruck auf die SED-Führung. Ferner konnte die Zahl der illegalen Abbrüche, die Frauen in der DDR immer noch das Leben kosteten, nicht verringert oder gar ganz verhindert werden. Die Leiterin der Abteilung Frauen des Zentralkomitees der SED, Inge Lange, erkannte die Gunst der Stunde und überzeugte ihre männlichen Genossen, den Schwangerschaftsabbruch endlich zu reformieren. Im Eilverfahren wurde das Gesetz für eine Fristenregelung ausgearbeitet und der Volkskammer am 9. März 1972 zur Abstimmung vorgelegt – erst- und letztmalig mit Enthaltungen und Gegenstimmen.
Während des gesamten Gesetzgebungsverfahrens fand in der DDR keine öffentliche gesellschaftliche Auseinandersetzung zum Thema statt. Die Bevölkerung erfuhr vom neuen Gesetz aus der Tagespresse. Orte, wo Schwangerschaftsabbruch gesellschaftlich verhandelt wurde, waren Film und Literatur.
Die Einführung der Fristenregelung führte in der DDR zunächst zu einem starken Anstieg der Schwangerschaftsabbrüche. Diese Entwicklung lässt sich auch für Sachsen feststellen, wie die Zahlen für die Bezirke Dresden und Leipzig zeigen. In den 1970er und 1980er Jahren setzte sich der Trend des Geburtenrückgangs weiter fort. Diese Entwicklung wurde durch die Möglichkeit der Fristenregelung weiter verstärkt: auf 2,7 Geburten kam ein Abbruch.6
Von der neuen gesetzlichen Regelung profitierten nicht alle Frauen gleichermaßen. Insbesondere Frauen, die nicht die DDR-Staatsbürgerschaft besaßen und als Vertragsarbeiterinnen in der DDR lebten, waren von diesen Bestimmungen ausgeschlossen. Wurde eine Vertragsarbeiterin während ihres Aufenthalts schwanger, hatte sie entweder die Möglichkeit, mit der Genehmigung des jeweiligen Konsulats einen Abbruch durchführen zu lassen oder die Rückkehr in ihr Herkunftsland anzutreten. Bis heute ist dieser Teil der deutschen Geschichte des Schwangerschaftsabbruchs kaum erforscht. Ihre Erfahrungen und Perspektiven waren in den Diskussionen innerhalb der nichtstaatlichen Frauenbewegung ebenso wenig präsent wie in den nach 1989/90 erschienen Protokollbüchern.
Eine liberale Gesetzgebung war nicht gleichbedeutend mit einer progressiven Haltung innerhalb der DDR-Bevölkerung. Patriarchale Prägungen und Sichtweisen bezüglich Frauen, die einen Abbruch durchführen ließen, bestanden fort. Beratungsangebote für Frauen, die mit psychischen Folgen eines Schwangerschaftsabbruchs zu kämpfen hatten, gab es in der DDR nicht. Hier waren sie auf die Offenheit und Gesprächsbereitschaft von Gynäkolog/innen und Mitarbeiter/innen in den Ehe- und Sexualberatungsstellen angewiesen. Die Erfahrungen und der Umgang mit dem Schwangerschaftsabbruch variierten unter Frauen. Gemeinsam ist ihnen jedoch, dass das Gesetz von 1972 sich zu einem selbstverständlichen Teil ihres Verständnisses von Gleichberechtigung entwickelte.
Mit dem Umbruch im Herbst 1989 und den Beitritt der DDR zur Bundesrepublik am 3. Oktober 1990 wurde der Schwangerschaftsabbruch erneut Gegenstand des ideologischen Wettstreits zwischen Ost und West. Erst drei Jahre später nach dem Einigungsvertrag und dem zähen Ringen der ost- und westdeutschen Frauenbewegung für die Beibehaltung der DDR-Gesetzregelung legte das Bundesverfassungsgericht eine gesamtdeutsche Regelung fest, die bis heute gilt. Diese sieht eine Indikationsregelung vor, wonach der Schwangerschaftsabbruch in den ersten drei Monaten straffrei bleibt, wenn eine medizinische oder kriminologische Indikation vorliegt und die Frau die Beratungspflicht in Anspruch genommen hat. Unmittelbar nach dieser richterlichen Entscheidung verschwand der Kampf gegen den Paragraf 218 von der politischen Agenda der Frauenbewegung.
Erst durch die feministische Mobilisierung in Südamerika und in Teilen Europas für liberale Gesetze und die hiesigen Auseinandersetzungen um den Paragrafen 219a gelangte der Schwangerschaftsabbruch in den feministischen Fokus zurück. In den Debatten und Kämpfen geht es jedoch nicht um den Schwangerschaftsabbruch allein, sondern insgesamt um reproduktive Rechte.
1 Großmann, Atina: Sich auf ihr Kindchen freuen. Frauen und die Behörden in Auseinandersetzungen um Abtreibungen, Mitte der 1960er Jahre. In: Lüdtke, Alf; Becker, Peter (Hg.) Akten. Eingaben. Schaufenster. Die DDR und ihre Texte. 1997, S. 243
2 StA-DD, Sächsischer Landtag, 1. Wahlperiode - 17. Sitzung, Dienstag, den 22. April 1947, S. 320
3 Poutrus, Kirsten: Von den Massenvergewaltigungen zum Mutterschutzgesetz. Abtreibungspolitik und Abtreibungspraxis in Ostdeutschland 1945-1950. In: Bessel, Richard; Jessen, Ralph (Hg.): Die Grenzen der Diktatur. Staat und Gesellschaft in der DDR. 1996, S. 173
4 Hahn, Daphne: Diskurse zum Schwangerschaftsabbruch nach 1945. Wie gesellschaftlich relevante (Be-)Deutungen entstehen und sich verändern. In: Busch, Ulrike; Hahn, Daphne (Hg.): Abtreibung, Diskurse und Tendnezen. 2015, S. 50f.
5 Schwartz, Michael: Emanzipation zur gesellschaftlichen Nützlichkeit. Bedingungen und Grenzen von Frauenpolitik in der DDR. In: Hoffmann, Dierk; Schwartz, Michael (Hg.): Sozialstaatlichkeit in der DDR. Sozialpolitische Entwicklungen im Spannungsfeld von Diktatur und Gesellschaft 1945/49-1989. 2005, S. 75
6 Starke, Kurt: Vorwort. In Walther, Heike: Abgebrochen. Frauen aus der DDR berichten. 2010, S. 12