Weiße deutsche Chefetage

Hintergrund

Deutsche Medien werden vor allem von Chefredakteur*innen geführt, die weiß und ohne Migrationshintergrund sind. Das zeigt eine neue Studie. Damit sich das ändert, fordern die „Neuen deutschen Medienmacher*innen“, die die Untersuchung beauftragt haben: Redaktionen brauchen Quoten.

Stellen Sie sich vor, Sie machen eine Reise durch Deutschland und besuchen 126 Chefredakteur*innen der bedeutendsten Medien. Die Büros, die Sie betreten, werden sich ähneln. Sie sehen Bücherregale, Urkunden von Journalistenpreisen, Sitzecken. Ähneln werden sich auch die Menschen, die Ihnen die Hand schütteln: Sie alle sind weiß.

Wenige könnten Ihnen berichten, dass sie selbst oder einer ihrer Elternteile im Ausland geboren wurden. Die acht von 126, auf die das zutrifft, erzählen Ihnen vielleicht von ihren Verwandten in Österreich oder Irland. Kein*e Chefredakteur*in wird Ihnen begegnen, deren Hintergrund in ein nicht-europäisches Land reicht. Das ist das Ergebnis einer Untersuchung der Neuen deutschen Medienmacher*innen (NdM), die am 11. Mai 2020 veröffentlich wurde.

Würde in den Büros die deutsche Gesellschaft repräsentiert sitzen, wie sie ist, hätten Ihnen 31 Chefredakteur*innen mit Migrationshintergrund begegnen müssen. Darunter etliche, deren Familiengeschichte über die europäischen Grenzen führt.

Überraschend ist das Ergebnis nicht. Seit Jahren kritisieren die NdM, dass in deutschen Medien zu wenig Journalist*innen mit Migrationshintergrund arbeiten. Warum überhaupt ist das so wichtig? Und was lässt sich dagegen tun?

Wer Diskriminierung überwinden will, muss dafür sorgen, dass benachteiligte Gruppen an allem gleichermaßen teilhaben, also auch an der Medienproduktion. Aber es geht nicht nur um Fairness:   Medien informieren und prägen, wie wir die Welt sehen. „Geflüchtete und Menschen aus Einwandererfamilien kommen seit Jahrzehnten fast nur als Problem und Bedrohung vor“, sagte Konstantina Vassiliou-Enz, Geschäftsleiterin der NdM, in einer digitalen Pressekonferenz. So verfestigen sich Diskriminierung und Rassismus weiter. Und es ergibt sich ein demokratisches Problem: Die Perspektiven Vieler kommen im öffentlichen Diskurs kaum vor.

Auch unternehmerisch macht das keinen Sinn: Teile der Bevölkerung werden immer wieder als Zielgruppe vergessen, mit einer Überschrift wie „Warum wissen wir so wenig über den Islam“ zum Beispiel. Dabei zahlen auch sie den Rundfunkbeitrag, kaufen Zeitungen und Magazine – und würden das wohl öfter tun, fühlten sie sich öfter davon angesprochen.

Die Produkte werden sich nur verändern, wenn sich die Redaktionen verändern. Denn nur vielfältigere Redaktionen kennen unterschiedliche Realitäten. Die Chefredaktionen sind dafür besonders wichtig: Sie stellen ein. Sie geben – bei aller Pluralität – Redaktionslinien vor. Sie haben das letzte Wort darüber, welche Themen ins Blatt kommen und welche Sprache die Redaktion verwendet.

Seit sich die NdM vor 12 Jahren gründeten, hat sich manches verändert. Immer mehr Journalist*innen of colour sind sichtbar geworden, als Kolumnist*in, Reporter*in oder in den Nachrichten. Auch Formate wie die Online-Talkshow Karakaya Talk entstanden. Ausgestrahlt im öffentlich-rechtlichen FUNK. Darin diskutieren junge Menschen über queere Muslim*innen oder Schönheitsideale. Alle Gäste repräsentieren die Communities, über die gesprochen wird. Sie sprechen für sich selbst. Viele junge Zuschauer*innen finden sich und ihren Alltag damit zum ersten Mal im öffentlich-rechtlichen Rundfunk.

Das grundlegende Problem ist auch den Chefredakteur*innen längst bewusst: Zwei von drei Befragten der Studie finden das Ziel gut, Redaktionen diverser zu besetzen. Nur was daraus folgen soll – dafür gibt es kaum Strategien.

Nur eine der befragten Redaktionen weiß überhaupt, wie viele ihrer Mitarbeiter*innen Migrationshintergrund haben. Viele argumentieren, das ließe sich nicht erheben wegen dem Datenschutz. Einige waren unsicher, ob das politisch in Ordnung sei – was zeigt, wie groß Unsicherheit und Unwissen zu Diskriminierung und Rassismus sind. „Zahlen zu erheben ist nichts Unerhörtes“, sagte Vassiliou-Enz. Es sei notwendig. Denn es ist die einzige Möglichkeit, das Problem zu erfassen, Ziele zu definieren und zu überprüfen, ob diese erreicht werden. So wie die BBC, die sich vorgenommen hat, dass 15 Prozent ihrer Mitarbeiter*innen schwarz oder asiatisch sind oder einer ethnischen Minderheit angehören. Der Anteil, der der britischen Bevölkerung entspricht. 

Solche Vorgaben geben sich deutsche Chefredakteur*innen nicht. Die meisten Befragten argumentierten, dass sie nun mal die Besten einstellten. Dass das hauptsächlich weiße Journalist*innen sind, darin sehen die Autor*innen der Studie ein Phänomen des unconscious bias: Unbewusste Vorurteile, die dazu führen, dass man eher seinesgleichen einstellt und manchen (weißen Männern) mehr Kompetenzen zuschreibt. Eine weitere Erklärung sind strukturelle Hürden. In viele Redaktionen führen gradlinige Lebensläufe und unbezahlte Praktika. Natürlich gibt es Journalist*innen mit Migrationshintergrund, die das erfüllen. Aber auch einige, die mal auf die Hauptschule gingen oder in den Semesterferien Geld verdienen mussten. Die NdM, die Heinrich-Böll-Stiftung und der WDR fördern auch deshalb seit Jahren Nachwuchsjournalist*innen mit Migrationshintergrund.

Weil es in vielen Redaktionen „viel Wille, kein Weg“ gebe, so der Titel der Studie, schlagen die NdM einige Wege vor. Sie empfehlen Ombudsstellen, bei denen sich Publikum und Personal beschweren können, und Weiterbildungen zu Diskriminierung und Rassismus. Damit sich aber wirklich etwas ändere, müssten sich die Redaktionen Quoten geben. Die Ausrede, dass es dafür nicht genügend geeignete Kandidat*innen gäbe, lassen sie nicht gelten: „Wir vermitteln gerne aus unserem Netzwerk“, sagte Vassiliou-Enz.

Die BBC hat ihr Ziel mittlerweile erreicht: 15,2 Prozent ihrer Mitarbeiter*innen sind schwarz oder of colour. In Deutschland hingegen verkündete Karakaya Talk an dem Tag, als die NdM ihre Studie vorstellten: Die Sendung wird abgesetzt.