Zivilgesellschaftlicher Aufbruch in der Friedlichen Revolution

Vor 30 Jahren entstand die Bürgerbewegung Bündnis 90

Logo des Bündnis 90 aus dem Jahr 1989

„Das Programm ‚Bündnis 90‘ bleibt akut“ setzte Wolfgang Ullmann trotzig als Titel über seinen Beitrag zu einem Sammelband, in dem zahlreiche Bürgerrechtler zwölf Jahre nach der Friedlichen Revolution Bilanz zogen.* Ullmanns Fazit blieb eine der wenigen optimistischen Einzelstimmen im düsteren Chor vieler Vertreter der Bürgerbewegung, in dem vor allem Enttäuschung und auch Resignation den Ton angaben. Das Moll manchen Rückblicks war dem Eindruck geschuldet, dass auf dem Weg von der Bürgerbewegung in der DDR zur Partei Bündnis 90/Die Grünen in der repräsentativen Demokratie des vereinigten Deutschland mehr als einige programmatische Eckpunkte von Bündnis 90 auf der Strecke geblieben seien. Schwer wog das Gefühl, dass das in der Friedlichen Revolution so erfolgreiche Prinzip der Bürger- und Volksbewegung der Einpassung in den Parteienstaat geopfert worden sei. Die Frage, wie das zivilgesellschaftlich orientierte Konzept einer durch Diskurs, Initiativen und Vereine konstituierten Bürgerbewegung mit einer von Parteien getragenen parlamentarischen Demokratie zu vermitteln ist, begleitete Bündnis 90 seit seiner Gründung. Sie ist heute mindestens so virulent wie 1990.

Bündnis 90 entstand vor 30 Jahren auf Initiative von drei Bürgerbewegungen. Am 6. Februar 1990 schmiedeten Demokratie Jetzt, die Initiative Frieden und Menschenrechte und das Neue Forum ein Wahlbündnis für die ersten freien Volkskammerwahlen in der DDR; die drei Bündnispartner beharrten aber zunächst auf ihrer organisatorischen Selbständigkeit. Feste Organisationsform gewann Bündnis 90 mit der Konstituierung als wählbare Partei am 21. September 1991. Zwei Jahre später entstand schließlich durch Fusion Bündnis 90/Die Grünen als gesamtdeutsche Partei. Sachsen nahm in diesem Prozess eine Sonderstellung ein, als sich hier bereits frühzeitig Bündnis 90 und Grüne Partei zusammenschlossen. Die Anfänge von Bündnis 90 reichen aber weiter zurück, in die oppositionelle Bürgerbewegung der DDR der 1980er Jahre und ins Zentrum der Friedlichen Revolution.

Demokratie Jetzt trat am 12. September 1989 mit einem „Aufruf zur Einmischung in eigener Sache“ und mit „Thesen für eine demokratischen Umgestaltung in der DDR“ an die Öffentlichkeit; die meisten der Initiatoren hatten schon seit Mitte der 1980er Jahre in der Initiative Absage an Praxis und Prinzip der Abgrenzung zunächst in der Öffentlichkeit der Evangelischen Kirche gemeinsam ihre Kritik an der Herrschaftspraxis in der DDR formuliert und auch in Samisdat-Zeitschriften über Wege zu ihrer Überwindung diskutiert. Auch die Initiative Frieden und Menschenrechte, die sich im Oktober 1989 als Organisation konstituierte, hatte bereits in den letzten Jahren der DDR aktive oppositionelle Arbeit geleistet und schon im März 1989 versucht, sich im ganzen Land Fuß zu fassen. Das Neue Forum forderte am 10. September mit einem Aufruf die Bürger zum Dialog über die notwendigen Umgestaltungen in der DDR auf. Nicht vergessen werden sollte, dass parallel zu diesen drei Bewegungen im gleichen Zeitraum eine Vielzahl von Gruppen und Gründungszirkeln von Parteien entstand, die in ihrer Gesamtheit als Bürgerbewegung Inhalt, Stoßrichtung und Mittel der Friedlichen Revolution im Herbst ´89 wesentlich prägten.

Die drei späteren Bündnispartner hatten jeweils eigene programmatische Profile; auch innerhalb der einzelnen Gruppen setzten Mitglieder unterschiedliche inhaltliche Schwerpunkte. Gleichwohl kennzeichnete der Name eines Bündnispartners – Demokratie Jetzt – die programmatische Kernaussage aller Drei: die Demokratisierung von Staat und Gesellschaft in der DDR. Als Bürgerbewegung konzipierten sie Demokratisierung als Selbstverständigung und Selbstorganisation von Bürgerinnen und Bürgern. Dementsprechend stand die Förderung und Organisation des Dialogs der BürgerInnen über Politik und Gesellschaft ganz oben auf der Agenda, die mit den Begriffen Menschenrechte, Ökologie, Frieden, soziale Gerechtigkeit und zivilgesellschaftliche Partizipation nur grob umrissen ist.

Der Schritt der Bürgerbewegungen in die politische Arena im Sommer 1989 erscheint in der distanzierten Rückschau geradezu logisch und konsequent, tatsächlich waren aber die Verkündung des Endes des Staatssozialismus in der DDR und die Forderung nach dem friedlichen Sturz der SED-Herrschaft durch selbstbestimmtes Handeln freier BürgerInnen ebenso brisant wie riskant. Auch wenn mit Glasnost und Perestroika in der Sowjetunion Bewegung in das östliche Lager gekommen war, schien die SED die Hebel der Macht in der DDR nach wie vor fest in der Hand zu haben. Zwar kratzten die von Bürgerrechtlern offengelegte Fälschung des Kommunalwahlergebnisses vom Mai 1989 und die wachsende Massenflucht in den Westen am Bild einer von der Bevölkerung wenigstens duldsam ertragenen Parteiherrschaft und an der Legitimation der ostdeutschen Machthaber im Ausland. Aber die Leipziger Montagsdemonstrationen nahmen erst langsam Fahrt auf, die Staatssicherheit ging dagegen mit Massenverhaftungen vor. Die wirtschaftlichen Defizite des Staatssozialismus steigerten zwar unvermeidlich die Kritik aus der Bevölkerung am Parteiregime, gleichwohl schien die im Oktober anstehende Selbstinszenierung zum 40. Jahrestag der Staatsgründung ein Symbol für die Dauerhaftigkeit der bestehenden Verhältnisse.

Vereinzelt ist die These vertreten worden, die Bürgerrechtsgruppen hätten die Parteidiktatur in der DDR gestürzt. Ohne die historische Leistung der Bürgerbewegung zu schmälern, ist diese Einschätzung zu präzisieren. Es war ein ganzes Faktorenbündel, das die SED-Herrschaft zum Einsturz brachte. Massenflucht, Großdemonstrationen zunächst in Leipzig, dann auch in weiteren Städten, die erkennbare geschwächte Rückendeckung Moskaus und wohl auch der bei vielen Partei- und Staatskadern geschwundene Glaube an die Richtigkeit und Zukunftsfähigkeit der Verhältnisse in der DDR müssen hier wenigstens genannt werden. In der ersten Phase der Revolution spielten die Bürgerbewegungen eine prägende und entscheidende Rolle, indem sie als politische Akteure gegen den SED-Staat dem Massenprotest durch ihre politischen Forderungen Gestalt gaben. Und auch wenn der Zustrom von Menschen, die sich dauerhaft politisch engagierten, begrenzt blieb und die Bürgerbewegungen nicht zu großen Verbänden von politisch Aktiven anwuchsen, waren sie es, die dem Protest effektive politische Stoßrichtung und Durchschlagskraft verliehen und zugleich gemäß dem eigenen Anspruch, zwar in Gegnerschaft aber eben auch im Dialog mit dem Regime über dessen Entmachtung und die jeweils nächsten Schritte in der Friedlichen Revolution zu verhandelten.

Mit der rasenden Abfolge von Ereignissen des Herbstes 1989, die jeweils ganze neue Bedingen schufen und damit auch ständig neue Zieldefinitionen erforderten, konnte die konzeptuelle und programmatische Fortentwicklung der Bürgerbewegungen kaum Schritt, dennoch blieben sie mit ihren laufend aktualisierten Forderungen der erkennbare Kern der demokratischen Opposition gegen das alte Regime. Mit dem Zentralen Runden Tisch initiierten sie nach polnischem Vorbild das zentrale Forum der Friedlichen Revolution, das, als Dialogforum angelegt, die Regierung in ihren dem Rückzug geschuldeten Metamorphosen nicht nur kontrollierte, sondern ihre schrittweise Entmachtung vorantrieb. Der Runde Tisch entsprach in Vielem den idealtypischen Vorstellungen aus der Bürgerbewegung, als hier Vertreter unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen und Oppositionsbewegungen die Funktionäre des alten Regimes mit ihren Forderungen konfrontierten. Im Selbstverständnis trat also die Bürgerschaft nicht vermittelt über Parteien in gewählten Parlamenten, sondern ganz direkt in den Dialog über die Macht. Und die Live-Übertragungen im TV machten diese Verhandlungen in der ganzen DDR transparent und verschafften der Opposition so Popularität und vor allem Rückendeckung, die sich in Durchsetzungskraft ummünzen ließ.

Zugleich markiert die Einrichtung des Runden Tischs auch einen Umschlagpunkt, als die Bürgerbewegungen ihre Leitfunktion für die Friedliche Revolution zu verlieren begannen; Parteien statt Bewegungen dominierten zunehmend die politischen Prozesse, je mehr sich kommende Wahlen abzeichneten, je stärker die Frage der deutschen Einheit auf die Tagesordnung gesetzt wurde und je mehr Akteure in Ostdeutschland mit westdeutschen Kräften kooperierten. Im Abstand von 30 Jahren resümierte Ulrike Poppe im Deutschlandfunk: „Wir waren mehrheitlich der Meinung, dass wir als Bürgerbewegung uns nicht zu früh in parteipolitischen Machtkämpfen entzweien sollten. Was dann allerdings, als der Wahlkampf begann, am Runden Tisch schon sichtbar wurde, dass es durchaus dann schon zu Konkurrenz kam, auch unter den Bürgerbewegungen.“

Die Entwicklung forderte die Bürgerbewegungen in ihrem Selbstverständnis heraus. Zwar hatten mehrere Gruppierungen bereits am 4. Oktober 1989 ihre grundsätzliche Bereitschaft bekundet, bei freien Wahlen – ein zu diesem Zeitpunkt fast wahnwitziger Gedanke – auch ein Wahlbündnis einzugehen. Gleichwohl blieben die Bewegungen nach wie vor reserviert gegenüber Parteien als wesentliche Form der politischen Mitwirkung der Bürger, wie sie sich Ende 1989 zunehmend abzeichnete. Hans-Jürgen Fischbeck betonte rückblickend diese Position: „Wir wollten mehr Demokratie wagen … . Nach 40 Jahren Herrschaft einer Partei und nach den befreienden Erfahrungen des Herbstes 1989 wollten wir eine neue und offene Struktur politischer Willensbildung schaffen. Das Beispiel, das die West-Parteien boten, schien uns nicht nachahmenswert, … .“ Grundgedanke war „die Öffnung der Politik für die Mitwirkung interessierter Bürger“. Bündnis 90 war gedacht „als Teil einer übergreifenden Bürgerbewegung, die ein informelles Netz aus politischen Vereinigungen, gemeinnützigen Vereinen, Bürgerinitiativen, Arbeits- und Gesprächsgruppen darstellt.“

Die sich im Prozess der deutsch-deutschen Annäherung abzeichnende Parteienkonkurrenz und die bevorstehenden Volkskammerwahlen nötigten die Bürgerbewegungen gleichwohl zu organisationsstrukturellen Kompromissen, wollten sie nicht im politischen Abseits landen – Bündnis 90 entstand und stellte sich zur Wahl. Mit einem Stimmenanteil von lediglich 2,9 Prozent und 12 Mandaten in der Volkskammer blieb die Listenverbindung im März 1990 aber weit hinter allen Erwartungen zurück. Bei der gesamtdeutschen Bundestagswahl vom Dezember 1990 zog eine Listenverbindung von Bündnis 90, Grüner Partei in der DDR und Unabhängigem Frauenverband mit einem Stimmenanteil von immerhin 6,2 Prozent (im Wahlgebiet „Ost“) und acht Abgeordneten in den Bundestag ein. Wolfgang Ullmann hielt den Skeptikern dieses Weges in die Parlamente retrospektiv entgegen, dass der gewandelte Handlungsrahmen für politische Projekte bereits 1990 die „Organisationsformen des Herbstes 1989 völlig obsolet“ gemacht hätte. Neben dem Sturz der SED-Herrschaft hätte der Beitritt der ostdeutschen Länder zum Geltungsbereich des Grundgesetzes die Verhältnisse so umgekrempelt, dass das nach wie vor aktuelle und auf das vereinigte Deutschland übertragene Ziel von Bündnis 90 – die „Demokratisierung von Staat und Gesellschaft“ – eine Weiterentwicklung der Strukturen unumgänglich gemacht hätte.

Als Erfolg ließ sich immerhin verbuchen, dass am Runden Tisch die Wählbarkeit von Bürgerbewegungen durchgesetzt werden konnte, was langfristig zur Folge hatte, dass in der Volkskammer und dann im Bundestag neben Parteien auch Bürgerbewegungen vertreten und erkennbar waren. Und schließlich: Nachdem Die Grünen in der alten Bundesrepublik 1990 an der 5-Prozent-Hürde gescheitert waren, zeigten die Abgeordneten von Bündnis 90 im Parlament Flagge und erleichterten mit ihrer Präsenz und Arbeit nach der Fusion 1993 ganz wesentlich den Wiedereinzug von Bündnis 90/Die Grünen in den Bundestag.

Gleichwohl führte für manchen Bürgerrechtler der ersten Stunde dieser Weg in die Sackgasse, Wolfgang Templin sprach vom „faktischen Scheitern des Unternehmens Bündnis 90“. Damit war aber in den wenigsten Fällen eine Abkehr von den Zielen der Bewegung gemeint. Für Ullmann, den Meister des ‚und‘, war die Parallelität der Arbeit als Bewegung innerhalb und außerhalb des Parlaments kein Widerspruch, sondern gelebte Praxis. So trat er mit Partnern aus Ost und West im Kuratorium für einen demokratisch verfassten Bund deutscher Länder für eine neue gesamtdeutsche Verfassung mit Elementen direkter Bürgerbeteiligung ein, die unter Rückgriff auf den Verfassungsentwurf des Runden Tischs, von der Bevölkerung breit diskutiert, modifiziert und der Bevölkerung in einer Abstimmung vorgelegt werden sollte. Und gleichzeitig setzte er sich als Abgeordneter und Mitglied der Gemeinsamen Verfassungskommission von Bundestag und Bundesrat dafür ein, Elementen zivilgesellschaftlicher Demokratie im revidierten Grundgesetz Verfassungsrang zu geben. Es war für Ullmann persönlich und für viele Menschen aus der Bürgerbewegung eine herbe Enttäuschung und eine Bestätigung mancher Vorbehalte gegen den „Parteienstaat“, dass diese Anläufe am Widerstand der großen Parteien im Bundestag scheiterten.

Ist der Zug für derartige Reformvorstellungen wirklich schon abgefahren? Oder gibt es doch gute Gründe für die These, das Programm von „Bündnis 90“ bleibe „akut“? Vielleicht nicht als unreflektierte Neuauflage historischer Programme aus einer historisch einmaligen Sondersituation als vielmehr in einer gegenwartsbezogenen kritischen Aktualisierung für eine Phase, in der viele Teile westlicher Demokratie fraglich zu werden scheinen, fraglicher als vor 30 Jahren. Europa befindet sich in einem Krisenprozess mit ungewissem Ausgang, Grund- und sogar Menschenrechte sind auch in europäischen Staaten nicht mehr unanfechtbar. Und in vielen Staaten ist die parlamentarische Demokratie wachsenden Belastungen durch zentrifugale Kräfte konkurrierender Interessenformulierung in Kombination mit einer aggressiven Negation der Vertretungskompetenz und –legitimität des „Volkswillens“ ausgesetzt.

Vieles spricht dafür eine Brücke zu schlagen – und ganz vereinzelt wird sie auch geschlagen – von dem Unbehagen der Bürgerbewegungen in Bündnis 90 an Modell und Praxis von Parteiendemokratien zu jüngeren Krisendiagnosen für westliche Demokratien und insbesondere für die oft beklagte abnehmende Integrationsfähigkeit von Parteien in der parlamentarischen Demokratie. Unter dem leicht missverständlichen Begriff Postpolitik steht der Mangel an im öffentlichen Diskurs ausgetragenen Konflikten als Demokratiedefizit in der Kritik. Die Chiffre Postdemokratie markiert die Tendenz politischer Systeme, Partizipationsmöglichkeiten der Bürger einzuschränken und stattdessen Demokratie elitendominiert zu inszenieren. Geradezu ins Auge springen die Anknüpfungspunkte s an der aktuell immer lauter erhobenen Forderung nach Konzepten deliberativer Demokratie, nach der Förderung bürgerschaftlicher Partizipation am öffentlichen Diskurs über politische Angelegenheiten.

Anschlussfähig scheinen nicht nur die Konzepte, sondern auch die politische Praxis bürgerschaftlicher Demokratie. Zivilgesellschaftliche Experimente unterschiedlicher Couleur abseits der Parteien erleben gegenwärtig geradezu eine Renaissance. Anschlussfähigkeit bei Konzepten und in der Praxis legen es nahe, das Potenzial einer um Foren und Partizipationsformen der Bürgergesellschaft erweiterten parlamentarischen Demokratie auszuloten. Nicht zuletzt Bündnis 90/Die Grünen ist gefordert neue/alte Wege zu erproben, um in einer Phase zunehmend fragmentierter, ja teilweise individualisierter Meinungsbildung weitere Kreise der Gesellschaft für das Politische und das Politische zur Gesellschaft zu öffnen.

 

*Mit Ausnahme des Statements von Ulrike Poppe sind alle Zitate entnommen aus: Der Bündnis-Fall. Politische Perspektiven 10 Jahre nach Gründung von Bündnis 90, herausgegeben von der Heinrich-Böll-Stiftung und Werner Schulz, Bremen 2001.