Ostdeutschland ist in aller Munde und doch scheint kaum jemand recht zufrieden damit zu sein. Es gibt Anklagen sowie Schuldzuweisungen und es gibt Verharmlosungen sowie Romantisierungen. Vieles davon wirkt unproduktiv, weil es sich doch nur um die Wiederholung des ewig Gleichen handelt. Weitgehend unklar bleibt aber, was eigentlich gemeint ist, wenn von Ostdeutschland die Rede ist und vor allem auch wer gemeint ist? Worum sollte es also gehen, wenn über Ostdeutschland gesprochen wird und wie sollte dies geschehen? Welche Fragen bleiben bisher unbeantwortet und warum? Welches Wissen über die Vergangenheit und Gegenwart Ostdeutschlands steht heute zur Verfügung und wie kann es helfen zu einer Ostdeutschland-Erzählung, jenseits von Opfermythen und Menschenfeindlichkeit, zu kommen? Warum ist diese neue Erzählung eine wichtige, wenn nicht sogar notwendige Voraussetzung um die bestehenden Verhältnisse in Ostdeutschland ändern zu können?
Darüber sprechen wir im Rahmen der Veranstaltungsreihe WAS ZU TUN IST mit Historiker, Migrationsforscher und last but not least Ost-Berliner Patrice G. Poutrus am 11. Dezember 2019 ab 19 Uhr in Dresden (Kleines Haus, KH3, Glacisstraße 28).
Dr. Patrice G. Poutrus ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Neuere und Zeitgeschichte und Geschichtsdidaktik der Universität Erfurt und im Projekt "Diktaturerfahrung und Transformation - Partizipative Erinnerungsforschung" tätig. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören Migrationsgeschichte in Europa, moderne Mediengeschichte, Geschichte des Kommunismus in Europa und Konsumkultur. Er ist Autor und Herausgegebener mehrerer Publikationen. Zuletzt erschien von ihm „Umkämpftes Asyl - Vom Nachkriegsdeutschland bis zur Gegenwart“ (2019).
|| THESEN ||
Seid historisch ehrlich und fordert Ehrlichkeit ein!
Die rasanten Veränderungen seit 1989 haben viele in Ostdeutschland als Zumutung und Überforderung empfunden. Nicht wenige hegen deshalb einen Groll gegen die aktuellen Verhältnisse. Damit ist aber weder die Frage beantwortet, wie es dazu gekommen ist, noch, wer dafür jeweils verantwortlich war; erst recht nicht, warum die Mehrheit der Ostdeutschen bei der Volkskammerwahl im März 1990 und später die Regierungen in Bund und in den Ländern gerade in den Neunzigerjahren immer wieder bestätigte. Die deutsche Einheit und die damit verbundene Politik der sozialen und ökonomischen Transformationen in Ostdeutschland war kein Schicksal, das über die DDR-Bürger*innen eingebrochen ist. Vielmehr waren es Mehrheitsentscheidungen, die vor allem aus den ökonomischen, ökologischen und sozialen Verhältnissen im untergehenden SED-Staat erklärt werden können. „Der Westen“ hat „den Osten“ nicht einfach übernommen, sondern die Ostendeutschen haben sich Westdeutschland angeschlossen, und die Gründe dafür waren vielfältig und schwerwiegend.
Unsere Solidarität muss universal sein!
Schon deshalb sind die Ostdeutschen keine Migrant*innenn im eigenen Land, denen ihre Heimat verlustig gegangen sei, wie wiederholt formuliert wurde. Von manchen ostdeutschen Akteur*innen wurde sogar die These aufgestellt, die ostdeutschen Länder seien eine Art Kolonie „des Westens“. Beide Behauptungen vereinfachen die Verhältnisse in Vergangenheit und Gegenwart auf höchst problematische Weise, indem aus disparaten Tatbeständen, wie Elitenbildung und Eigentumsstruktur in der ostdeutschen Gesellschaft, die Forderung nach einer Solidaritätsgemeinschaft „der Ostdeutschen“ begründet wird. So werden aber die Gegensätze und Konflikte in Ostdeutschland weitgehend ignoriert und wird das ohnehin dominante Opfer-Narrativ in Ostdeutschland nur bestätigt. Das spielt letztlich nur den rechtsradikalen Menschenfeinden in die Hände, denn es stützt deren Vorstellung von Gleichheit nach Herkunft. Es ist aber ganz praktisch das Gegenteil von innergesellschaftlicher Solidarität, die nach der Bedürftigkeit von Menschen fragt, und zwar von allen Menschen in Ostdeutschland.
Erzählen wir die vielen unterschiedlichen Geschichten!
Schon der genaue Blick auf die sogenannte Wendezeit – eine Vokabel der SED-Führung, die viele andere "friedliche Revolution" nennen – zeigt, die Menschen aus der DDR haben diese aufregende Periode höchst unterschiedlich erlebt, wie auch die deutsche Einheit. Die unterschiedlichen Erfahrungen hingen u.a. davon ab, wie Mensch zum ruinierten SED-Staat stand und welche Hoffnungen und Erwartungen mit den sich anbahnenden Veränderungen verbunden wurden. Es gab Vorstellungen, die vom Reform-Kommunismus, über einen sozialdemokratischen dritten Weg, einen liberalen Verfassungspatriotismus, eine ökologische Erneuerung, einen feministischen Aufbruch, ein neoliberales Wirtschaftswunder, eine Rückkehr zum Nationalstaat bismarckscher Prägung und bis hin zu einer rassistischen Volksgemeinschaft reichten. Vieles davon waren Illusionen und Manches sollte sich besser nicht bewahrheiten. Schon deshalb kann eine Ostdeutschland-Erzählung jenseits von Opfermythos und Menschenfeindlichkeit weder eine Erfolgs- noch eine Verlustgeschichte sein. Vielmehr sollte es eine Erzählung von vielen und doch miteinander verbundenen Geschichten sein, bei der auch diejenigen Raum haben, die bisher kaum zu Wort kamen.
Widersteht der gefühligen Anrufung einer ostdeutschen Identität und sucht die Auseinandersetzung um politische Verantwortung, ökonomische Macht und deren Folgen für Ostdeutschland!
Es gibt in Ostdeutschland gleichwohl eine weit verbreitete Unzufriedenheit. Ihre Gründe sind so vielfältig wie der Osten es ist. Gerade die ökonomischen Verhältnisse hierzulande sind aber keineswegs allein auf die ostdeutschen Länder beschränkt. In Ostdeutschland vollzog sich eine radikale Privatisierungslogik, die auf Regulierungsskepsis und Marktglauben beruhte. Manche nennen das Turbo-Kapitalismus, andere Neoliberalismus. Auf jeden Fall gewannen dabei nur wenige, viele mussten den Preis dafür bezahlen und dies nicht nur in Ostdeutschland. Diese Fehlentwicklungen müssen benannt und in der Gegenwart korrigiert werden. „Ostdeutsch“ zu sein ist auch deshalb keine alles überwölbende Identität. Ostdeutschland ist aber sehr wohl eine Region mit einer besonderen Geschichte und bemerkenswerten Realitäten. Vor allem aber ist es ein Raum mit sehr unterschiedlichen Menschen, die in sehr verschiedenen Verhältnissen leben. Diese Vielfalt ist ein Reichtum, aus dem Selbstbewusstsein und Handlungsfähigkeit gewonnen werden kann.
Die Reihe WAS ZU TUN IST ist eine Kooperation zwischen den Professuren für Politische Theorie und Ideengeschichte und der für Didaktik der politischen Bildung an der TU Dresden, dem Zentrum für Integrationsstudien der TU Dresden, dem Staatsschauspiel und Weiterdenken – Heinrich-Böll-Stiftung Sachsen. Studierende können sich die Veranstaltung durch einen Teilnahmeschein und eine Klausur für das Aqua-Modul anrechnen lassen.
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