2015 leiteten die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen in Polen einen grundlegenden Politikwechsel ein. Erstmals seit 1989 gelang es mit der nationalkonservativen PiS (Recht und Gerechtigkeit)einer Partei mit absoluter Mehrheit allein eine Regierung zu stellen. Deren politisches Programm stellt eine Zäsur in vielen Politikbereichen sowie bisherigen europäischen Beziehungen dar und brachte erhebliche Umbrüche im Justizwesen oder in den Medien. Gerade die in Frage gestellte Unabhängigkeit dieser beiden Felder rief national wie international Sorgen um die Entwicklung von Demokratie und Rechtsstaat hervor.
Ein halbes Jahr nach der Regierungsbildung machte es sich der Europasalon zur Aufgabe, die neue Regierung und deren Programm vorzustellen, die Ursachen für deren Wahlsieg zu analysieren und nach den zu erwartenden Entwicklungstendenzen zu fragen. Dazu sprachen Prof. Dr. Stefan Garsztecki von der TU Chemnitz und Dr. Kai-Olaf Lang von der Stiftung Wissenschaft und Politik als Expert_innen für Ostmitteleuropa, dessen kulturellen und sozialen Wandel sowie als Fachmänner für europäische Beziehungen. Um einen Eindruck aus der Innenperspektive zu bekommen, vervollständigten das Podium Dr. Agnieszka Łada vom Think Tank Institut für öffentliche Angelegenheiten sowie Małgorzata Kopka und Gert Röhrborn vom Büro der Böll Stiftung aus Warschau per Skype-Liveschaltung.
Keine Wahl für PIS, sondern gegen die PO
Als Argumente für den Gewinn der Partei ließen sich die Entwicklung der nationalen, aber auch der europäischen Politik heranziehen. So sei Garsztecki und Lang zu Folge eine konservative Wende mit der Tendenz zu Debatten über die ‚Rückkehr zur Nation‘ zu erkennen. Diese seien mit europaweit auftretenden Auseinandersetzungen über das Wesen Europas und der eigenen Nation im postnationalen Zeitalter sowie dem Grad an Identifikation damit verbunden. Vor allem Rechtspopulisten würden diese Kritik als Waffe gegen liberale Vorstellungen nutzen, wovon auch Konservative teilweise Gebrauch machen würden. Garsztecki brachte zur Sprache, dass das Gefühl der Exklusion durch ungenügend repräsentative Formen der Demokratie auf europäischer Ebene einen Grund für diese Tendenz darstelle. Dem Politologen zu Folge entwarf die Partei im Wahlkampf eine „Karrikatur des Liberalismus“, indem dieser mit zugespitzten Debatten über Genderideologie, Schwulenehe, Minderheitenrechte, das Zusammenleben verschiedener Kulturen und die Auflösung der Nationen vor allem durch Angsterzeugung bestach und wenig mit seinem grundlegenden Credo für Bürgerrechte und Freiheiten zu tun hatte.
National betrachtet beurteilten die Expert_innen den Wahlgewinn als Denkzettel an die Vorgängerregierung. Diese seien vor allem wegen einer gewissen zur Schau gestellten ‚Arroganz der Macht‘ abgestraft worden. So waren Korruptionsskandale, der Wegfall einer politischen Leitfigur à la Tusk sowie eine fehlende Perspektive zur Lösung der prekären Arbeitsverhältnisse trotz wirtschaftlichen Erfolgs Themen, welche die Wählerschaft dem gegnerischen Lager entgegen trieben. Ein weiterer die Arroganz der Macht untermauernder Punkt lag in der Unterschätzung der PIS. Lang konstatierte, die Bürgerplattform rechnete nur mit dem Gewinn eines Drittels der Wählerschaft und dem Ausbleiben von Koalitionspartnern. Tatsächlich gewann PIS in 14 von 16 Wojewódschaften und in allen Altersgruppen und benötigte keinen Koalitionspartner. Die Partei verstand es, Fragen der sozialen und wirtschaftlichen Ungleichheit im Wahlkampf zu thematisieren sowie Kaczyńskis leitende Rolle zu kaschieren und somit auch junges, linkes Publikum zu gewinnen.
Parteiprogramm mit deutlicher Handschrift Kaczyńskis
Inhaltlich trat die Partei im Wahlkampf mit deutlich anderen Themen als denen der ersten Monate an. Die gesamte Wahlkampfstrategie stand unter dem Schlagwort der ‚dobra zmiana‘ – einer Wendung zum Guten, welche Garsztecki als Maßnahmen im Stil eines kommunistischen Paternalismus als Antwort auf die extremen Liberalisierungsmaßnahmen der Neunziger Jahre bezeichnete. Das bedeutet vor allem eine Reformierung des sozialökonomischen Bereichs, Veränderungen in Geschichtspolitik und Bildung und die Reparatur des Gemeinwesens, beispielsweise in Form einer Erhöhung des Kindergeldes oder der Besteuerung von Banken. Kaczyński, einst selbst aktiv in der Solidarność, trete laut Lang für einen nachholenden Systemwechsel zur Abschaffung der Ergebnisse aus den Verhandlungen am runden Tisch ein, dessen Entscheidungen er als faulen Kompromiss tituliere.
Auch die Transformation eines patriotischen Geschichtsbildes durch Medien, Wissenschaft und Schulen zur Festigung der polnischen Identität gehören zum Programm dieser Staatssanierung. Röhrborn bezeichnete dieses als äußerst einseitig und maßgeblich von Kaczyński geprägt. Lang betonte, dass die Schuldfrage der Deutschen nach dessen Auffassung bisher relativiert worden sei und man sich zu sehr auf die Schwächen in Polen konzentriert habe.
Da PIS traditionell als schwach in wirtschaftlichen Themen, aber stark bei innerer Sicherheit, Verwaltung und dem Gerichtswesen gilt, sah Lang erhebliche Herausforderungen in Wirtschafts- und Finanzpolitik zur Finanzierung der sozialen Zugeständnisse auf die Partei zu kommen. Die Causa des Umbaus des Verfassungsgerichts besäße Symbolcharakter, weil es in seiner ursprünglichen Zusammensetzung eine Barriere für diesen Umbau darstelle. Kaczyński bezeichnete es sogar als Mutation einer dritten Kammer, welche auf Grund einer zu großen Zugewandtheit zum politischen Gegner geplante Gesetzesvorhaben zu Fall bringen würde.
Ist die polnische Gesellschaft gespalten?
Die rapiden Gesetzesänderungen zur Änderung des Einflusses auf das Verfassungsgericht und die polnische Medienlandschaft können als Produkt einer polarisierten Politiklandschaft gedeutet werden. Deren Akteure suchten laut Röhrborn und Lang die eigene Kraft auch im Unwillen zur Schließung von Kompromissen und seien womögilch nicht an gemeinsamem Schulterschluss interessiert. Diese Entwicklung bezeichneten die Expert_innen allerdings als Weiterführung der Zersplitterung der Gesellschaft zu Zeiten der Bürgerplattform. Kopka verdeutlichte in dem Punkt, dass die politische Sprache gegen Minderheiten nicht nur stark, sondern auch von Gewalt geprägt sei und zu dieser führe.
Vor allem der Einfluss der staatlichen Medien führe zu dieser Polarisierung, wobei durchaus unterschiedliche Urteile in Bezug auf die Auswirkung auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt zustande kamen. So wurde die Gesellschaft entweder als komplett gespalten bezeichnet, wobei die Trennlinie nicht zwischen demokratisch und undemokratisch verlaufe, sondern sich n verschiedenen Ansichten zu Liberalismus und Sozialstaat manifestiere. Lang betonte allerdings, dass nicht nur zwei Lager, sondern auch eine strategisch wichtige diffuse ‚Mitte‘ aus Hochschulabsolvent_innen sowie Menschen aus dem Mittelstand und aus urbaneren Gebieten bestehe. Diese hätte PIS nicht aus Radikalisierung oder Überzeugung, sondern aus Protest gewählt und sei daher noch greifbar.
Röhrborn betonte, vor allem in Bezug auf nationale Identitätsfragen sei die Diskussionskultur deutlicher von nationalistischen Tendenzen geprägt und einfach nicht mit der deutschen vergleichbar. Diese Grundtendenz nütze PIS derzeit sehr, was laut Röhrborn jedoch nicht zu einer grundlegenden Änderung der nationalen Kultur führen könne und auch noch gar nicht absehbar sei.
Zivilgesellschaft im Aufbruch
Die politischen Wendungen des vergangenen halben Jahres übten großen Einfluss auf die Zivilgesellschaft aus und forderten laut Łada eine Neupositionierung der polnischen Gesellschaft, welche zuvor nicht so präsent schien So formierten sich zahlreiche ehemaligen Aktivist_innen zum Komitee zur Verteidigung der Demokratie (KOD) und stehen somit für das Erstarken der polnischen Zivilgesellschaft. Obwohl KOD anfangs eine mehrheitlich von der Generation Solidarność getragene Bewegung war, zogen Kooperationen mit der PO und anderen Oppositionsparteien ein breiteres Publikum an. Neben der Thematisierung des Verfassungsschutzes seien es aber vor allem auch die Sachverhalte mit direkter erfahrbaren Konsequenzen, welche Menschen mobilisierten und die Politik der Regierung kritisieren. Neben den Protesten zur Verschärfung des Abtreibungsgesetzes konstatierte Lang, dass vor allem die Streiks der Krankenschwestern und des Lehrpersonals ernst zu nehmende Gefahr für PIS darstellten.
Der Eindruck, den bürgerliche Demonstrationen auf die Regierung machen, ließ sich laut Garsztecki auch gut an der manipulativen staatlichen Medienberichterstattung und dem Kompetenzgerangel zwischen nationalem Medienrat und dem der Medienvertreter_innen ablesen. So wurden den Zuschauenden bei der Reportage zum Entschluss über das Verfassungsgericht gezielt Kameraperspektiven übertragen, auf denen nur wenig Protest zu sehen war, obwohl hinter dem Kameramann eine große Masse an Demonstrierenden von KOD stand. Auch zur landesweit größten Protestaktion mit 240.000 Teilnehmenden in Warschau lieferten Medienberichte dem Politiologen zu Folge Zahlen von 45.000 Menschen, was Garsztecki zu dem Urteil einer ‚Putinisierung‘ der polnischen Medienpolitik führte. Röhrborn ergänzte hierbei jedoch, indem er die Ausweichmöglichkeiten in private Medien und Internet als real genutzte Alternativen erwähnte.
Demokratie auf Irrwegen?
Trotz der einschneidenden Vorgänge in der Medienpolitik sowie rechtsstaatlichen Strukturen bezeichneten alle Expert_innen Polen als einen demokratischen Staat. Die Bedeutung der Demokratie wurde nun durch die Wahlen laut ada erfahrbar und deren aktive Einklage erfuhr einen deutlichen Schub. Trotzdem sei die Opposition besorgniserregend schwach. Der allgemein schwächere Zuspruch parteipolitischer Organisationen und Gewerkschaften sei laut Garsztecki ein allgemeines Phänomen, das eine Krise der repräsentativen Demokratie darstelle, aber nicht von deren Untergang zeuge. Dennoch seien die medialen und gerichtlichen Instanzen der checks and balances gefährdet, was in Bezug auf das Verfassungsgericht eine europäische Prüfung der polnischen Rechtsstaatlichkeit zur Folge hatte. Die Erinnerung, dass politische Mehrheit nicht unbegrenzt agieren dürfe, würde derzeit von einer aufstrebenden Zivilgesellschaft betrieben und sei als mögliche Kraft für einen guten Anfang aus der Krise zu werten.
Einhelliger Konsens herrschte, dass Polen keineswegs als gefallene Demokratie und bedenkliches Reiseland zu sehen sei. „So viel Polen war nie,“ konstatierte Łada und appellierte an eine aktive Auseinandersetzung mit dem Land. Auch Lang betonte, man müsse die kontrovers diskutierten Themen nutzen, um das Bewusstsein für Polen, seine Gesellschaft und deren Geschichte zu schärfen sowie Polens wichtige Stellung in Europa und als Deutschlands Nachbarstaat im Hinterkopf behalten.
Auf europäischer Ebene bliebe die Auseinandersetzung mit dem allgemeinen Anstieg des Rechtspopulismus durch die Bearbeitung der Frage nach dem Wesen Europas, der weiteren Entwicklung der europäischen Integration und einer Lösung für die in die Krise geratene repäsentative Demokratie als zukünftige Herausforderung.