Rechtsstaatlichkeit als Verpflichtung

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von Wolfgang Behlert

Dass der Rechtsstaat schon sehr frühzeitig nach der politischen Zeitenwende der Jahre 1989/1990 das Ziel von Vorwürfen und Anfeindungen derjenigen war, die in seiner Folge den Verlust von in der DDR erworbenen Rechts(?)positionen befürchten mussten, soll an dieser Stelle nicht weiter erörtert werden. Die allermeisten derer, die damals Begriffe wie „Siegerjustiz“ oder „Strafrentensystem“ in die politische Debatte einführten, müssten sich mittlerweile im Rückblick auf die realen geschichtlichen Abläufe, insbesondere auch auf die einschlägige Rechtssprechung der obersten bundesdeutschen Gerichte, zu überzeugten Befürwortern des Rechtsstaates gewandelt haben. Anderen freilich wird sich möglicherweise eine für sie so nicht vorherzusehende Interpretationsmöglichkeit der berühmten Sentenz bei Marx von der „Expropriation der Expropriateure“ eröffnet haben, die sie im günstigeren Fall nachdenklich gemacht hat.

Doch auch für einige Akteure der Bürgerrechtsbewegung war der Rechtsstaat von Anfang an Projektionsfläche von Irritationen. Sie träumten den Traum der Gerechtigkeit und erwachten in der Realität des Rechtsstaats. Die hiermit verbundenen Enttäuschungen wären freilich unter der Bedingung eines höheren Maßes an Informiertheit vermeidbar gewesen. Sie mögen aber auch damit in Zusammenhang stehen, dass der Begriff des Rechtsstaates in Literatur, Rechtsprechung und Politik zuweilen in einer Weise eine wertemäßige Aufladung erfährt, die der Abschätzung seiner funktionalen Leistungsfähigkeit nicht zuträglich sein kann. Dies tritt auch- aber beileibe nicht nur!- in der inzwischen wieder aufgeflammten Debatte darum, ob die DDR ein Unrechtsstaat gewesen sei, zu Tage. Der Ausdruck steht für eine bestimmte geschichtlich begründete und moralisch wertende Sichtweise; etymologisch kommt er als Antonym zu „Rechtsstaat“ nicht in Betracht. Zwar kann mit dem Rechtsphilosophen Gustav Radbruch kein Zweifel daran bestehen, dass die Gerechtigkeit die „Idee des Rechts“ schlechthin ist. Jedoch handelt es sich hierbei erstens um einen normativen und zweitens um einen formalen Zusammenhang von Gerechtigkeit und Rechtsstaat. Dies soll nicht gering geschätzt, aber auch nicht in einen transzendenten Wertehorizont hinein überdehnt werden. Dafür nämlich, dass Gerechtigkeit das normative Gebot, das Verspechen des Rechtsstaates sein mag, keinesfalls jedoch ein empirisch gesicherter Befund, gibt es gegenwärtig kein bedrückenderes Symbol als Guantánamo. Und um zu erfahren, dass der Kern eines rechtsstaatlich inspirierten Gerechtigkeitsdenkens zunächst und zu erst in einer formalen Gleichbehandlung im Recht besteht und nicht etwa in der Herstellung einer- von wem und unter welchen Voraussetzungen auch immer erschauten- „materiellen“ Gerechtigkeit- genügt bereits ein flüchtiger Blick auf die soziale Wirklichkeit, die uns umgibt- von den Hartz IV- Gesetzen bis zu den aktuell wieder in der Diskussion stehenden rechtlichen Rahmenbedingungen für Bildung, insbesondere auch Hochschulbildung.

Wollen wir den Rechtsstaat also loben, dann sollten wir zumindest einigermaßen präzise fragen, wofür. Und soll er Gegenstand kritischer Zeitdiagnose sein, dann wäre zuvor jedenfalls zunächst jedes Mal zu beurteilen, ob er denn auch der jeweils richtige Adressat einer solchen Kritik ist. Gleichwohl gibt es sowohl Anlass, sich seiner Vorzüge zu vergewissern als auch auf gegenwärtige Gefährdungen hinzuweisen. Denn einerseits erreichte das, was Legislative und Exekutive (das Prinzip der Gewaltenteilung hat sich in dieser Beziehung nahezu vollständig nivelliert) etwa im Kontext von „Terrorismusbekämpfung“, „Bekämpfung des organisierten Verbrechens“ etc. an Zumutungen in Form der Überwachung, des Eingriffs in individuelle Freiheitsrechte und des Rückbaus normativer Freiheitsgarantien in den letzten Jahren hervorgebracht haben, ein im Vorhinein wohl kaum für möglich gehaltenes Ausmaß. Rasterfahndung, Telefonüberwachung, Online- Durchsuchung, Video- Überwachung öffentlicher Plätze, automatische Erfassung von Kfz- Kennzeichen und andere polizeiliche Überwachungsmethoden, sog. „Nacktscanner“ auf Flughäfen, biometrischer Reisepass und vieles andere sind hierfür die einschlägigen Stichworte. All die genannten Maßnahmen genügen wohl schon allein deshalb nicht den Anforderungen des Rechtsstaatsgebotes, weil in ihnen zumindest der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nicht berücksichtigt wird: Sie sind alle miteinander nicht geeignet, den in ihnen angestrebten Zweck, die Herstellung oder auch nur Verbesserung der „inneren Sicherheit“, auch tatsächlich zu erreichen. Dem gegenüber steht aber, und unter anderem dies unterscheidet dann eben den Polizeistaat vom Rechtsstaat, eine Justiz, insbesondere in Gestalt des Bundesverfassungsgerichts, die einen Großteil der genannten Maßnahmen in die durch das Grundgesetz vorgegebenen Begrenzungen zurückverwiesen hat.

Allerdings: Wie fragil eine rechtsstaatliche Balance ist, in der die eine Seite- Exekutive und Legislative- immer wieder bis an die Grenzen des von der Verfassung gerade noch abgedeckten gesetzgeberischen und politischen Agierens geht und dabei das eine um das andere Mal auch den Verfassungsbruch billigend und kalkuliert in Kauf nimmt, zeigt nicht zuletzt die Grundgesetzänderung zum Grundrecht auf Asyl aus dem Jahr 1993. Dem Urteil des BVerfG vom 14. Mai 1996, das diesen sog. „Asylkompromiss“ bestätigte, hielten drei der Richter des erkennenden Senats, unter ihnen die damalige Präsidentin des BVerfG, in ihren abweichenden Voten u.a. entgegen, seinerseits in eklatanter Weise rechtsstaatlichen Standards nicht mehr zu genügen. Dies spricht für sich. Auch Beispiele aus neuerer Zeit ließen sich finden. So vertrat erst kürzlich (2008) ein Richter des BVerfG öffentlich und nachlesbar, dass es für ihn Konstellationen geben könne, in dem eine Relativierung der Menschenwürde jedenfalls „nicht von vorn herein“ ausgeschlossen werden könne. Gemeint war die Relativierung eines absoluten Folterverbotes.

Nein, die fast zwanzig Jahre währende Verankerung des Rechtsstaates nun auch im Osten Deutschlands muss nicht gefeiert werden. Das Feiern von Jubiläen gilt als eine Spezialität des vorangegangenen Staates. Angemessen wäre es aber, uns zu vergegenwärtigen, welch hohes Gut mit dem Rechtsstaat auf uns gekommen ist, und dass uns hieraus eine Verpflichtung erwächst, auf aktuell zu beobachtende Auszehrungstendenzen hinzuweisen und ihnen entgegen zu treten.

 

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Wolfgang Behlert ist Jurist und Rechtssoziologe. Professor für Recht an der Fachhochschule Jena, war viele Jahre Mitglied der Fachkommission Intergovernmental Organizations bei amnesty international. Er war Mitglied des Stadtrates von Jena für „Bündnis 90/ Die Grünen“. Heute ist er Vertrauensdozent der HBS und engagiert sich vor allem in lokalen und regionalen Projekten wie Refugio, einem Trägerverein für ein psychosoziales Beratungs- und Behandlungszentrum für traumatisierte Flüchtlinge und Folteropfer.