Die „Kampagne für Opfer rassistischer Polizeigewalt“ (KOP) setzt sich seit Jahren für die Bekämpfung von Rassismus im Polizeiapparat ein. Wie wichtig es ist, die Perspektiven der Betroffenen zu stärken und den Blick auf die Strukturen zu richten, erläutern zwei Aktivistinnen der Kampagne anhand dokumentierter Fälle aus der Chronik zu rassistischer Polizeigewalt im Raum Berlin.
Rassismus ist in Deutschland Gegenwart
In Deutschland scheint die Auffassung allgemein gültig zu sein, dass es hierzulande kein (systemisches und strukturelles) Rassismusproblem gibt, sprich Rassismus kaum oder gar nicht existiert. Wenn es zu rassistischen Gewalttaten kommt, ist meist reflexhaft von „Einzeltätern“ die Rede, vereinzelten Nazis, die mit der Mehrheitsgesellschaft und ihren Strukturen nichts zu tun hätten. Dabei geht diese Auffassung völlig an den Realitäten Deutschlands vorbei – nämlich, dass Deutschland strukturellen und systemischen Rassismus nicht nur nicht bekämpft, sondern diesen auch alltäglich reproduziert und schützt.
Häufig geht mit der Sichtweise, dass Rassismus in Deutschland nicht existiere, auch einher, dass Personen nicht geglaubt wird, die damit alltäglich konfrontiert werden. Es besteht eine Weigerung, Zusammenhänge zwischen den zahlreichen Einzelerfahrungen zu erkennen. Als Fakten zählen hierbei nur vermeintlich objektive Meinungen, wie die des Staates. Die Erfahrungsberichte der Personen, die Rassismus auf alltäglicher Basis selbst erfahren, werden als subjektiv herabgestuft, nicht ernstgenommen und kategorisch angezweifelt. Somit wird der einzigen Grundlage, die ein Bild von Rassismus in Deutschland liefern könnte, die Kredibiliät genommen.
Häufig wird auf fehlende Statistiken zum Thema hingewiesen – ein Fakt, der so ausgelegt wird, als würde es Rassismus deshalb in Deutschland nicht geben. Nun ist es aber so, dass es aufgrund der von staatlicher Seite mangelnden Infrastruktur zur Erhebung dieser Statistiken unmöglich ist, Zahlen zusammenzutragen. Auch ist es wichtig, dass eine potentielle Erfassung nicht nur die Seite der Polizei oder der weißen Mehrheitsbevölkerung widerspiegelt.
Zu den Gründen, weshalb der Staat das eigene rassistische Verhalten nicht untersucht, zählt dem Anschein nach, dass institutioneller Rassismus gar nicht sichtbar gemacht werden soll. Wie sonst ist es einzuordnen, dass der Innenminister eine bereits geplante Studie zu Racial Profiling absagt, zudem noch mit der kruden Begründung, Racial Profiling sei ja verboten und komme daher gar nicht vor?
In Deutschland herrscht eine Verleugnungskultur, nach der Rassismusvorwürfe, die sich an staatliche Institutionen richten, in aller Regel schlichtweg dementiert werden. Diese Leugnung führt dazu, dass die Notwendigkeit institutionellen und systemischen Rassismus weiter zu untersuchen und überdies zu bekämpfen, nicht gesehen wird. Dadurch werden rassistische Strukturen in Staat und Gesellschaft gefestigt und reproduziert und eine persönliche Reflexion des Individuums innerhalb dieses Systems wird nicht gefördert bzw. verhindert.
Trotz der weit verbreiteten Annahme, dass Rassismus in Deutschland nicht existiere, können BPoC oft von alltäglichen Erfahrungen berichten – seien es Mikroaggressionen von ihren Mitmenschen oder institutionalisierte Gewalt wie z.B. Racial Profiling (1). Weißen Menschen fehlt oft das Wissen, um strukturellen und institutionellen Rassismus in Deutschland zu erkennen und das Interesse, etwas darüber zu lernen. Findet ein öffentlicher Diskurs statt, so wird wie oft die weiße Darstellungsweise als die vermeintlich verlässliche dargestellt und BPoC Perspektiven werden schlichtweg ignoriert oder als überemotional und wenig verlässlich eingestuft.
Davon abgesehen, dass es ihre Perspektiven sind, die am meisten zählen sollten, sind sie doch durch die (zwangsmäßige) alltägliche Auseinandersetzung mit Rassismus gewissermaßen zu Expert*innen geworden, stellt sich hier doch auch die Frage, warum Meinungs- und Erfahrungsberichte von Betroffenen im öffentlichen Diskurs nicht als Fakten gelten, während weiße Erfahrungen dies sehr wohl tun. Bei einem Problem, das zu erheblichen psychischen und physischen Folgen für die Betroffenen führt und eine Gefahr für Leib und Leben darstellen kann, sollte es auch möglich sein, diesen Erfahrungen und diesem Wissen Glaubwürdigkeit zu schenken. Als fast einzige Quelle und somit Möglichkeit um das Problem sichtbar zu machen und ihm entgegenzutreten bleiben die Erfahrungsberichte von betroffenen BPoC zentral.
Ihren Berichten und Erfahrungen muss Geltung verschafft werden, sie müssen als die Fakten, die sie sind, angenommen werden und es muss entsprechend politisch darauf reagiert werden. Die Kampagne für Opfer rassistischer Polizeigewalt (KOP) hat eine Chronik zu rassistisch motivierten Polizeivorfällen im Raum Berlin erstellt, in der den Perspektiven Betroffener anonymisiert Gehör verschafft wird. Die Chronik soll auch dazu beitragen, eine Gegendarstellung zur Perspektive der Polizei zu bieten, welche die Opfer regelmäßig zu Unrecht kriminalisiert und in der das eigene rassistische Verhalten aktiv verleugnet wird (2).
Die Manifestierung durch Racial Profiling
Die deliberate Praxis, die sich meist hinter Kontrollen von BPoC verbirgt, ist die des Racial Profiling. Gesetzlich ist es der Polizei zwar erlaubt Menschen, die auffälliges Verhalten an den Tag legen, anzusprechen. Falls sich die Wahrscheinlichkeit einer Straftat der Polizei nach bewährt, darf sie zu weiteren Maßnahmen greifen. Dass die Polizei die von ihr vermutete Herkunft der Person zum Grund einer Kontrolle macht, ist aber laut Grundgesetz illegal. Trotzdem wird es den Polizist*innen ermöglicht ohne Konsequenzen mit ihren Taten davonzukommen.
Dabei ist es nicht relevant, ob es sich um das Anhalten einer Person ohne Grund, um Beleidigungen, Herabwürdigungen, Diskriminierungen oder um physische Gewalt handelt. In den wenigsten Fällen kommt es im Falle einer Anklage zu Ermittlungen, meist wird das Verfahren sofort eingestellt. Auch mit beruflichen Konsequenzen ist nur in den seltensten Fällen zu rechnen. Hinzu kommt, dass viele der Betroffenen gar nicht erst Anzeige erstatten, da ihnen mit einer Gegenanzeige gedroht wird, die in den meisten Fällen sogar Erfolg hat.
Durch Racial Profiling und durch eine Berichterstattung, die die Opfer als Täter*innen darstellt, wird bei weißen Menschen zunehmend der Eindruck geweckt und bestärkt, dass BPoC zu Recht kontrolliert werden und wohl tatsächlich als „gefährlicher“ eingestuft werden können als weiße Menschen. Zusätzlich zu einer verzerrten Wahrnehmung der Realität führt dies dazu, dass weiße Menschen immer weniger hinterfragen, warum eine BPoC von der Polizei angehalten und verhört wird. Der Polizei wird die Definitionsmacht über Opfer und Täter*innen gestattet und die weiße Person kann einen rassistischen Angriff der Polizei weder erkennen, noch sich in dieser Situation mit den Opfern solidarisieren.
Zur Praxis des Racial Profiling kommt auch, dass die Polizei sogenannte „kriminalitätsbelastete Orte“ festlegen kann – Orte an denen es laut ihren Angaben ein erhöhtes Risiko gibt, dass dort eine Straftat ausgeübt oder geplant wird. In der Praxis sind dies häufig Orte, an denen sich BPoC aufhalten, höhere Armutsverhältnisse herrschen oder Sexarbeiter*innen verkehren. An diesen Orten hat die Polizei die Erlaubnis, Personen ohne Begründung zu kontrollieren.
Dies führt zu einer selffullfilling prophecy, da durch vermehrte Kontrollen verständlicher Weise auch mehr Straftaten festgestellt werden. Dies führt wiederum zu verstärkter Stigmatisierung der betroffenen Personen und Orte und bestärkt Polizist*innen in ihrem rassistischen Verhalten, sowie Passant*innen in ihrer rassistischen Wahrnehmung (3).
Als Fazit ist hier festzuhalten, dass Racial Profiling nicht das Ergebnis individueller rassistischer Einstellungen von Polizist*innen ist, das durch interkulturelle Schulungen oder eine bessere Repräsentation migrantischer Bevölkerung unter den Beamt*innen effektiv bekämpft werden kann. Stattdessen ist es wichtig anzuerkennen, dass die rassistischen Strukturen, die Racial Profiling zugrunde liegen, wie beispielsweise die Erlaubnis verdachtsunabhängige Kontrollen durchzuführen, die zu beseitigende Ursache ist.
Auch die Zusammenarbeit der staatlichen Organe in der Ermittlung von (rassistischer) Polizeigewalt führt dazu, dass der Staat selbst einen Nährboden für weitere rassistische Polizeigewalt schafft. Dass Ermittlungen gegen Polizist*innen von ihren eigenen Kolleg*innen durchgeführt werden statt von einer unabhängigen Instanz, sowie dass die Staatsanwaltschaft, die auf eine erfolgreiche Zusammenarbeit mit den lokalen Polizeibehörden angewiesen ist, eine Bewertung dieser Ermittlungen vornehmen soll, bildet nur einen kleinen Ausschnitt dieser Problematik.
Beispiele aus der Chronik
Um die Omnipräsenz dieses polizeilichen Handelns zu verdeutlichen, folgen Ausschnitte aus der Chronik von KOP Berlin zu rassistischen Polizeiübergriffen im Raum Berlin seit dem Jahr 2000.
24. Januar 2001- Lucy I.
Vorfall:
Lucy I. geht im August 2000 mit ihren Freund*innen in einen Berliner Club tanzen. Weil es einer Freundin nicht gut geht, verlässt sie die Diskothek kurz mit ihr. Als sie wieder eintreten wollen, wird ihnen der Einlass durch den Türsteher verweigert. Dieser beschimpft Lucy I. als »scheiß N*«, was sie versucht zu ignorieren. Sie gehen weiter und passieren den Türeingang. Nun wird erst sie und dann ihre Freundin durch den Türsteher angegriffen, gegen eine Wand geschmissen und zu Boden geworfen. Drei Türsteher tragen die beiden jungen Frauen nach draußen. Kurze Zeit später trifft ein Polizeieinsatzwagen ein und die Beamten nehmen Lucy I.s Personalien auf. Sie beleidigen sie mit den Worten »Ah, viel Bier und ficki, ficki.« Dann wird sie auf ein Polizeirevier gebracht. Hier wird ihr mitgeteilt, dass man sie eines Überfalls im Juli 2000 auf eine junge Frau verdächtige, der sie das Handy geraubt haben solle. Einen Anwalt darf Lucy I. nicht kontaktieren und auch eine Dolmetscherin wird ihr verweigert. Nach vier Stunden wird sie mit der Ankündigung von Post entlassen. Diese trifft nie ein. […]
Einige Tage später klingelt es um drei Uhr morgens abermals an Lucy I.s Wohnungstür. […] Es handelt sich um Polizeibeamte, die Zugang zu ihrer Wohnung verlangen. Da Lucy I. unbekleidet ist, erbittet sie sich einige Minuten Zeit, um sich anzuziehen. Dieser Bitte folgen die Beamten nicht. Da sie drohen, die Wohnungstür aufzubrechen, öffnet Lucy I. völlig nackt. Erst dann darf sie sich in Gegenwart eines männlichen Polizeibeamten ankleiden. Ohne Angaben von Gründen wird sie in Handschellen auf ein Polizeirevier gebracht, wo sie eine Vaginal- und Analkontrolle über sich ergehen lassen muss. Es wird ihr zugestanden, einen Anruf zu tätigen, allerdings darf sie keinen Hinweis auf ihren Aufenthaltsort geben. Dann wird sie, nur mit T-Shirt, Socken und Hose bekleidet, in eine völlig ausgekühlte Zelle gesperrt.
Lucy I. wird tags darauf in eine Berliner JVA gebracht, dort verhört und schließlich in eine zweite Berliner JVA überführt. Dort wird sie gezwungen, eine mit Menstruationsblut stark verschmutzte Unterhose anzuziehen. Ihre mehrmalige Bitte, einen Anwalt kontaktieren zu dürfen, wird ignoriert. Stattdessen wird ihr ein Formular gegeben, das sie unterschreiben soll. Es wird ihr versichert, dass daraufhin eine Anwältin/ein Anwalt kommen würde. Obwohl sie den Inhalt des Formulars nicht versteht, vertraut sie der Aussage der Justizbeamt*innen und unterschreibt. Eine Anwältin kommt nicht.
Am nächsten Tag erwacht Lucy I. mit Fieber und starken Bauch- und Unterleibsschmerzen. Trotzdem wird ihr ärztliche Hilfe verweigert. Erst am darauf folgenden Tag darf sie den Arzt der JVA aufsuchen. Dieser verschreibt ihr Schmerzmittel, diagnostiziert aber keine Erkrankung. […] Als das Fieber die darauf folgenden Tage nicht sinkt, werden ihr Tropfen und später Zäpfchen verabreicht. […]
[Lucy I. wird in das Krankenhaus Prenzlauer Berg überwiesen.] Da sie sehr friert, bittet sie die begleitende Justizbeamtin um eine Decke. Diese verweigert ihr die Bitte mit der Bemerkung, dass einige Tage zuvor bereits »’n anderer« an Fieber »krepiert« sei. Dann drängt sie Lucy I. zur anstehenden Lungenröntgenuntersuchung, die aber nicht aufstehen kann. Die Justizbeamtin reißt sie aus ihrem Bett, schleppt sie zum Röntgengerät und wirft sie dagegen. Durch die Wucht bricht sich Lucy I. die Nase. Die anwesende Krankenschwester ignoriert die Situation und schließt ihre Röntgenuntersuchung ab. […]
[…] Obwohl sie hohes Fieber hat und ihr Gesundheitszustand sehr schlecht ist, muss Lucy I. an einem anstehenden Haftprüfungstermin teilnehmen. Einen Rechtsbeistand hat sie nicht, da ihr jeglicher Kontakt zur Außenwelt verboten worden war, auch zu einer vom Gericht gestellten Verteidigung. Während der Anhörung wird Lucy I. mitgeteilt, dass man vermute, dass eine Frau mit kurzem blondem Haar den Handyraub und die körperliche Bedrohung im vorangegangenen Jahr zu verantworten habe. Obwohl Lucy I. ganz offensichtlich nicht auf diese Personenbeschreibung passt, wird sie weiterhin in Untersuchungshaft verwahrt.
Einige Tage später wird Lucy I. in eine dritte JVA überführt. Dort wird die längst überfällige Gegenüberstellung (diese war, wie später herausgefunden wird, ständig hinausgezögert worden) mit dem Opfer initiiert. Die Frau verneint die Frage nach Lucy I.s Täterinschaft mehrmals mit Nachdruck.
Nach der Gegenüberstellung wird Lucy I. auf eine Polizeiwache gebracht, wo ihr ein Beamter mitteilt, dass trotz ihrer offensichtlichen Unschuld ihre Haft weitergeführt werde. Dann wird sie zurück in die JVA überführt. Dort wird ihr nach einem weiteren Tag Aufenthalt die Entlassung angeboten. Allerdings soll sie zuvor ein Dokument unterschreiben, in dem sie bestätigt, dass es ihr während ihrer Haftdauer gut ergangen war. Lucy. I. weigert sich natürlich, die Unterschrift zu leisten. Auf die Bemerkung eines Beamten, dass sie ohne die Unterschrift weiter im Gefängnis bleiben müsse, kommt sie schließlich der Aufforderung nach und unterschreibt. Sie wird am 24. Februar aus der Haft entlassen.
Rassistische Bezüge: unterstellte Herkunft, Hautfarbe, Geschlecht
Strafrechtlicher Verlauf:
Lucy I. hat nach ihrer Entlassung keine rechtlichen Schritte unternommen. Zwar hat sie eine Rechtsanwältin aufgesucht, war aber schlussendlich aufgrund ihrer psychischen Erschütterung nicht in der Lage, sich in einem Verfahren mit den Geschehnissen auseinanderzusetzen.
Zivilrechtlicher Verlauf:
Lucy I. hat am 07. Mai 2001 aufgrund eines rechtskräftigen Beschlusses des Amtsgerichts Tiergarten eine Entschädigung zugesprochen bekommen.
22. März 2001 - Adnan Y.
Vorfall:
Am 22.März 2001 stürmen fünf vermummte und bewaffnete Männer die Wohnung von Adnan Y., der völlig überrascht ist. Da er von einem brutalen Überfall ausgeht und er seine Frau sowie die zwei kleinen Kinder zu schützen sucht, setzt er sich gegen den Angriff zu Wehr. Dabei wird er zu Boden geworfen, geknebelt und mehrfach auf den Kopf geschlagen. Die Familie sieht dem gesamten Geschehen fassungslos zu.
Adnan Y. erleidet Verletzungen am Hinterkopf, Wange, Unterkiefer und Auge. Erst jetzt stellt sich heraus, dass es sich bei den Männern um ein SEK-Kommando der Berliner Polizei handelt, das nach einer Personalüberprüfung erkennen muss, dass es sich bei ihrem Opfer nicht um einen von ihnen Gesuchten handelt.
Weiterführende Informationen:
Die Ehefrau von Adnan Y. und seine Kinder fühlen sich noch Jahre nach dem Vorfall traumatisiert.Rassistische Bezüge: unterstellte Herkunft, Hautfarbe
Strafrechtlicher Verlauf:
Adnan Y. stellt gegen die Polizeibeamten Strafanzeige wegen »Körperverletzung im Amt« (§340 StGB), die Ermittlungen werden aber eingestellt. Eine Beschwerde gegen die Einstellung wird nicht fristgerecht eingereicht und scheitert. Im Jahr 2003 klagt Adnan Y. gegen das Land Berlin und bekommt in einem Vergleich eine finanzielle Entschädigung zugesprochen. Eine Klage seiner Ehefrau und der beiden Kinder zur Zahlung von Schmerzensgeld wird erst abgelehnt, dann aber ebenfalls in einem Vergleich bewilligt.
30. März 2020 - Raghad L.
Vorfall:
Am frühen Abend ist Raghad L. mit einem Freund in Kreuzberg unterwegs, als ein Polizist zuerst eine abfällige Handbewegung in ihre Richtung macht und ihn dann am Arm packt. Raghad L. fragt, was los sei. Der Polizist antwortet „Beleidigung, Widerstand“ und legt ihm Handschellen an. Dabei scheint er sehr wütend. Raghad L. wird zu einem Polizeiwagen gebracht, wo mehrere Beamt*innen warten. Hier werden seine Beine weggefegt und er fällt zu Boden. Dann wird er geschlagen, die Polizisten knien auf seinem Rücken und sein Kopf wird mit Stiefeln auf den Boden gepresst. Raghad L. versucht den Kopf oben zu halten, um nicht weiter verletzt zu werden. Ein Polizist fasst ihn mit der Bemerkung „schöner Hintern, gute Muskeln“ an. Er hält ihm ein Pfefferspray an den Hintern und die umstehenden Polizisten lachen. Er wird weiter beleidigt und gedemütigt. Ein Polizist zieht seine Lippe nach oben und sagt, er habe schöne Zähne. Außerdem machen sie sich lustig, dass er abgeschoben werde und warum er nicht zurück nach Marokko gehe.
Ein Passant filmt die Situation. Ihm wird sein Handy abgenommen und das Video gelöscht.
Raghad L. wird an den Haaren in den Mannschaftswagen gezerrt und in den Transporter geworfen. Dabei verletzt er sich und wird bedroht: „Vielleicht kommst Du hier nie wieder raus.“ Er wird zur Wache gefahren, erkennungsdienstlich behandelt und in eine Zelle gesperrt. Dort wird er später von einer Freundin abgeholt.Rassistische Motivation: rassialisierte Herkunft
Schäden bei Betroffenen
Die Erfahrungsberichte zeigen, dass dieser rassistisch belastete Alltag, den Betroffene sowohl auf institutioneller als auch privater Ebene in einer scheinbaren Endlosschleife erleben müssen, für sie schwerwiegende psychische und teilweise physische Folgen hat, die in der öffentlichen Diskussion zum Thema Rassismus größtenteils untergehen. So folgt dem Racial Profling beispielsweise, dass Betroffene sich aus Angst vor Auseinandersetzungen mit der Polizei an bestimmten Orten nicht länger aufhalten können.
Ein Ohnmachtsgefühl durch die mangelnde Handlungsfähigkeit gegenüber den deutschen Institutionen ist eine Realität, mit der die Betroffenen zum Teil täglich konfrontiert werden. Äußern können sich Folgen rassistischer Erfahrungen unter anderem auch durch traumatische Stressreaktionen bis hin zu posttraumatischen Belastungsstörungen (4). Problematisch ist auch, dass bei Gerichtsverfahren beispielsweise durch Rassismuserfahrungen entstandene psychische Belastungsstörungen oft nicht mit einbezogen werden. Dabei ist dies zwingend notwendig, um „Aussagen von Zeug*innen im Interesse der Wahrheitsfindung angemessen zu bewerten und zum anderen deren sekundäre Viktimisierung zu vermeiden.“
Ausblick
Die einzige Möglichkeit, um die rassistischen und kriminalisierenden Praktiken der Polizei in ihren Mustern und Systematiken offenzulegen und darüber hinaus den strukturellen und institutionellen Rassismus in Deutschland sichtbar zu machen und zu bekämpfen, ist die Perspektive der Betroffenen zu hören und ihr Geltung zu verschaffen. Auch verdeutlichen die Erfahrungsberichte die Notwendigkeit und Dringlichkeit einer unabhängigen, kontrollierenden Instanz und einer Reform der Polizei - denn keine Konsequenzen für rassistische Praktiken kommen einer Legitimation gleich.
Dieser Beitrag wurde von Sulaika Lindemann und Lina Schmid stellvertretend für die Kampagne für Opfer rassistischer Polizeigewalt (KOP) verfasst.
Literatur
(1) Bürgerrechte & Polizei/CILIP118/119, S. 102f.
(2) Bürgerrechte & Polizei/CILIP118/119, S. 102f.
(3) Ein weiteres Problem ist, dass Betroffene sowie Zeug*innen, die den Betroffenen helfen wollen, oft nicht wissen, wie sie sich in einer Situation des racial profiling richtig verhalten, um sich selber oder den Betroffenen nicht zu schaden. Auf https://kop-berlin.de/schritte-gegen-polizeigewalt gibt es einen Leitfaden für Opfer und Zeug*innen, der Unsicherheiten nehmen kann.