In Sachsen bestimmt seit 25 Jahren die CDU, ob ein Problem ein Problem ist. Sehr spät haben sich Politik und Verwaltung auf steigende Migrantenzahlen eingestellt. Die Union ist gespalten in Abschreckungspopulisten und Restchristen.
Die Bündnisgrünen im Landtag haben nicht gut Lachen bei diesem ernsten Thema. Aber schon im Jahr 2013, also noch in der vorigen Legislaturperiode, hat die Fraktion dringend gefordert, sich auch in Sachsen auf Auswirkungen der weltweit verstärkten Migration einzustellen. Das war nach Lampedusa, und schon damals musste die überfüllte einzige sächsische Erstaufnahmeeinrichtung in Chemnitz um eine Außenstelle in Schneeberg erweitert werden. "Es wurde klar, dass Ignoranz und eine Abwehrhaltung Europas nicht funktionieren werden", blickt Flüchtlingspolitikerin Petra Zais zurück.
Auch die sächsischen Grünen hatten nicht mit einem so starken Anstieg der Flüchtlingszahlen gerechnet. Die Landespolitik wirkte in der ersten Jahreshälfte 2015 erst recht überfordert. Die Asylverfahren dauerten eh' schon zu lang, aber dafür konnte man dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge BAMF den Schwarzen Peter die Schuld geben. Das ungeschriebene Dogma, dass CDU-geführte Regierungen im Freistaat per se unfehlbar seien, geriet aber auch ins Wanken. Hastig und anscheinend planlos wurden manchmal über Nacht neue Unterkünfte und Erstaufnahmeeinrichtungen eröffnet. Nicht nur überraschte, ja überrumpelte Bürger reagierten mit mehr oder weniger zivilisierten Protesten. Innenminister Markus Ulbig brachte auch alle zehn gleichfalls der Union angehörenden Landräte gegen sich auf.
Ein neuer Asylkoordinator
Ende Februar wurde mit Dirk Diedrichs ein neuer Asylkoordinator im Innenministerium berufen, der Ulbig den Rücken freihalten sollte. Bereits seit Anfang Dezember 2104 tagte regelmäßig ein Lenkungsausschuss Asyl, der das BAMF, die beteiligten Ministerien und die Kommunen an einen Tisch bringt. Doch während der heißesten Phase im Frühjahr fiel Innenminister Ulbig als Führungsfigur weitgehend aus, weil ihn seine Partei als Kandidaten für die Dresdner Oberbürgermeisterwahl am 7. Juni nominiert hatte. "Diese zusätzliche Verzögerung war der größte politische Fehler Ulbigs", wirft ihm die Grüne Petra Zais vor.
Mittlerweile arbeiten Innen- und Integrationsministerium, Landesdirektion, Kreise und Kommunen und die großen Betreiber der Unterkünfte – bei den Erstaufnahmeeinrichtungen ist es zu 90 Prozent das DRK – besser zusammen. Die Kritik speziell an der Person des Innenministers und die Klagen über mangelhafte Informationen sind leiser geworden. Am Unwillen vieler Kommunen, die letztinstanzliche Verantwortung für die Unterbringung von Flüchtlingen zu übernehmen hat sich allerdings nichts geändert. Alle 36 Bürgermeister im Landkreis Sächsische Schweiz schrieben beispielsweise Mitte Oktober einen Klagebrief an Ministerpräsident Stanislaw Tillich und Bundeskanzlerin Angela Merkel. Die herrschenden Zustände bei der Flüchtlingsunterbringung könnten „nicht mehr unausgesprochen hingenommen werden“, hieß es. Eine Kleine Anfrage der Grünen-Landtagsabgeordneten Katja Meier an die Staatsregierung aber ergab, dass nur vier dieser Gemeinden Flüchtlinge nach vorgesehenem Schlüssel aufnahmen, die meisten deutlich unter der Quote blieben und 14 Unterzeichner überhaupt keine Asylsuchenden beherbergen.
Der einleitende Satz dieses Briefes, man fühle sich verpflichtet, „Schaden von der Bundesrepublik und unseren Bürgern abzuwenden“, verweist indessen auf politische und Gesinnungsfragen. Sie bestimmen die Flüchtlingspolitik auch in Sachsen eigentlich. Jeder ist sich selbst der Nächste. Da erlässt Bürgermeister Jens Zeiler (CDU) aus Neukirch in der Lausitz einfach einen Aufnahmestopp für seine Gemeinde. Sein Verhalten illustriert die Zerrissenheit vor allem der Union zwischen Abwehrhaltung, ja Abschreckung und christlichen Barmherzigkeitsansätzen.
Die Person des katholischen Sorben und Ministerpräsidenten Stanislaw Tillich steht exemplarisch für diesen inneren Konflikt. „Der Islam gehört nicht zu Sachsen“, widersprach er im Januar noch der Kanzlerin und dem ehemaligen Bundespräsidenten Christian Wulff. Zwanzig Minuten Kontakt mit dem „Volk“ beim Besuch der Kanzlerin in Heidenau lösten Ende August dann einen spürbaren Schock bei ihm aus. In der Asyl-Generaldebatte des Landtags am 1. September gab er eine bemerkenswerte Erklärung ab. Tillich setzte sich mit einer „enthemmten Minderheit“ auseinander, die das Land besudele, und lud Flüchtlinge ein, „Bürger Sachsens“ zu werden. Bei seiner Antrittsrede als Bundesratspräsident Mitte Oktober kehrte Tillich allerdings zu alter Indifferenz zurück, als er erklärte, Multi-Kulti funktioniere nicht.
„Strategie des Verdrängens und Verschweigens“
Gegenspieler Tillichs ist unter anderem CDU-Fraktionschef Frank Kupfer. Am 1. September applaudierte ihm auch die AfD, als er forderte, „Bürger ernst zu nehmen, und nicht, sie zu erziehen“. Insbesondere in den erzkonservativ geprägten sächsischen Regionen wie dem Erzgebirge fürchten CDU-Abgeordnete angesichts des allgemeinen Rechtsrucks um ihre Wahlkreise. Das Dreieck wird komplettiert durch den ebenfalls der Union angehörenden Ausländerbeauftragten Geert Mackenroth, der sich um Fairness und Überparteilichkeit bemüht.
„Deja vu“, konstatiert die Grüne Petra Zais angesichts dieses Schlingerkurses der CDU.
Zehn Jahre hat sie für die mobilen Beratungsteams gegen Rechtsextremismus des Kulturbüros Sachsen gearbeitet und kennt die Strategien des Verdrängens und Verschweigens kommunaler Verantwortungsträger. Die CDU habe sich klar in Richtung AfD, auf identitäre Thesen und Volksbedrohungstheorien zubewegt. Diese AfD tut in Sachsen, was sie nur tun kann, um Hysterie zu schüren. Jeden Tag befassen sich mindestens ein halbes Dutzend Pressemitteilungen akribisch mit Schlägereien in Asylbewerberheimen, religiösen Fanatikern und erfundener oder tatsächlicher Flüchtlingskriminalität. Mit ihrer Forderung nach verschärfter Abschiebung hat sie bei der CDU Wirkung gezeigt. Bis November wurden 1.253 Personen wieder ausgewiesen. Das Innenministerium setzt auch auf freiwillige Rückkehrberatung. Das Rückkehrprogramm bewog bislang 631 Flüchtlinge zur Wiederausreise.
Weitere Beiträge zur Flüchtlingspolitik in Sachsen finden Sie auf der Länderseite unseres Dossiers "Wie schaffen die das? Die Flüchtlingspolitik der Länder" (zur Startseite).