
Der Katharinenhof im sächsischen Grosshennersdorf während der Zeit des Nationalsozialismus.
Wenn Sie sich in Ostsachsen nicht auskennen, wird Ihnen der Name Katharinenhof vielleicht wenig sagen. Er wäre auch nicht der entscheidende Anhaltspunkt, an welchem diese Broschüre Ihr Interesse finden kann. Das hier Beschriebene war zu seiner Zeit vielerorts so "normal", daß darüber bis heute wenig gesprochen wurde. Aus Normalität wurde Schweigen und aus diesem Vergessen. Nur deshalb? Regionale Geschichtsschreibung träfe daher nur einseitig das Anliegen von KinderMaterial. Sie soll es selbstverständlich auch sein. Die Zeit ist überfällig, nach Spuren zu suchen. Wenn der Inhalt dieser Texte Heimatgeschichte würde, wäre viel erreicht.
Nach vierzig Jahren staatlich postuliertem Antifaschismus eine Spurensuche in der NS-Zeit anzumahnen, erscheint paradox. Ist nicht alles gesagt? Diese Broschüre widerlegt eine solche Vermutung. Gerade die Spurensuche braucht es um der Erinnerung, um unser Selbst willen, für Gegenwärtiges und das Zukünftige.
Da ist zum einen das nicht gelebte und wenig beförderte Erinnern an Menschen, die als "Opfergruppen" nicht in das instrumentalisierte, offizielle Gedenken paßten. Mit der heutigen Anklage dieses Defizits allein findet noch kein Erinnern statt. Im Gegenteil, es ist die Neigung erkennbar, das Erinnern wieder an tote Orte und leere Gedenktage zu verbannen. 1997 jährt sich zum 50. Mal der Dresdner "Euthanasie"-Prozeß. Ein wichtiger Prozeß zur juristischen Anklage und dokumentarischen Sicherung der Euthanasieverbrechen. Doch er blieb in der DDR auch die letzte öffentliche Auseinandersetzung dieser Art.
Zum anderen ist es die Anonymität, die Geschichte durch das lange Schweigen bekommen hat. Das lange eingeübte Abstrahieren von Gesichtern und Schicksalen im Namen "größerer Zusammenhänge" ermöglicht den "Umgang" (!) mit Ungeheuerlichkeiten. Die Sprachregelungen helfen dabei. In dieser Broschüre werden Sie finden, daß es schon früher so war. Auch vor der eigenen Haustür. Das Transformieren von menschlichen Schicksalen in abstrakte Vorgänge erleichtert uns das Abspalten der eigenen Betroffenheit. Das war früher so wie heute und erschwert die Suche nach Wahrheit. Sie wird manipulierbar für aktuelle politische Interessen.
In der Diskussion um die Zeit der beiden Diktaturen haben die Begriffe System und Strukturen einen hohen Stellenwert. Sie sind wichtig, um Verantwortlichkeiten erkennen und bewerten zu kännen. Sie allein leisten aber zu wenig zum Verstehen von Motiven, auch von stummen Übereinkünften zwischen Herrschern und Beherrschten. Ihr Gebrauch als Standarderklärung vermittelt die Illusion, ein anderes politisches System stehe schon per Definition als Garant für Humanität. Eine Verkürzung von Geschichte und Gegenwart auf diese Begriffe entwertet eigenes Leben.
Es ist die Zeit unserer Eltern und Großeltern, die so wenig befragt worden ist. Unsere Wurzeln. Wir sollten sie aber erfahren, wenn wir etwas über uns wissen wollen. Es gibt keine Stunde Null - 1945 nicht und 1989 nicht. Wer anderes glauben machen mächte, läßt den Gespenstern der Vergangenheit freie Hand. Dabei sind die Gespenster von damals schon da, sie fühlen sich wohl in der Angst vor der Zukunft, in der Angst vor dem Verlust von Identitäten. Angst nährt(e) Ideologien, sie richtet(e) sich aus den Menschen heraus stets nach außen, projiziert(e) sich in Ablehnung und Ausgrenzung. Angst ist heute erlebbar, in Ost und West. Es spricht nur kaum jemand darüber. Das macht es den Gespenstern leicht. Sie haben sich neue Gewänder gesucht, nennen sich heute zum Beispiel "Sachzwang". Wenn die alten Gespenster uns nicht beherrschen sollen, müssen wir sie finden, dort wo sie entstanden sind, wo sie schon einmal gewirkt haben.
KinderMaterial und "Sprache der Behinderten" ist nicht allein für Großhennersdorf geschrieben. Weiterdenken dankt beiden Autoren.
Inhalt
Vorwort
Detlef Krell KinderMaterial
"Verlegt mit Sammeltransport" 27.September1940
"Kolonisierung der Schwachsinnigen"
"... braucht die Gegenwart doch rüstige Menschen ..."
"... daß der betr. Kranke wirklich der richtige war."
"... namentlich unbedingt gasdichte Räume."
"Ihrem Jungen geht es nicht gut. Er ist lustig und fröhlich."
"... durch die Giftkur ruhiggestellt."
"... hin und wieder unverständige Eltern ..."
"... zur Räumung von Geisteskranken ..."
Anmerkungen
Andreas Schönfelder Sprache der Behinderten
Über Autoren/Referenten
Detlef Krell, Jahrgang 1958, freier Journalist und Korrespondent für "die tageszeitung", lebt in Zittau.
Andreas Schönfelder, Jahrgang 1958, Sozialarbeiter und Mitarbeiter der Umweltbibliothek Großhennersdorf, lebt in Großhennersdorf.
Die aktualisierte und neu gestaltete Neuauflage ist im Neisse-Verlag erschienen:
ISBN 3-934038-27-1
8,00 Euro + Versandkosten (üblicherweise 1,45 Euro)