Was ist Antiromaismus?
Keiner kann in meinen Schuhen noch ’ne Meile gehen, dabei zurückseh’n, ohne dabei kaputt zu gehen, denn ich muss zuseh’n, wie vor meiner Nase alle Tür’n zugehen.
Aus dem Lied „Zeit“ – Prince-H & K-Pluto (aka Hikmet und Kefaet)
In Deutschland leben Angehörige der Minderheit der Sint*ezze und Rom*nja unter unterschiedlichen rechtlichen Voraussetzungen. Daher sind auch die Lebensrealitäten von Rom*nja und Sint*ezza sehr unterschiedliche. Sint*ezze leben seit ca. 600 Jahren im deutschsprachigen Raum. Zweihundert Jahre später folgten Rom*nja. Beide Gruppen besitzen deutsche Pässe und sind als nationale Minderheiten anerkannt. Es leben auch Rom*nja aus dem ehemaligen Jugoslawien in Deutschland, die als sogenannte Gastarbeiter*innen in den 1970er Jahren in die BRD kamen, EU-Bürger*innen aus Rumänien und Bulgarien sowie Asylsuchende aus den Teilrepubliken des ehemaligen Jugoslawiens. Allen schlägt Rassismus entgegen, Antiromaismus ist der spezifische Rassismus gegenüber Rom*nja und Sint*ezze.
Antiromaismus ist tief in der Gesellschaft verwurzelt und hat eine jahrhundertelange Tradition. Es gibt kaum Sensibilität, antiromaistische Diskriminierung wahrzunehmen und zu entlarven. Das führt dazu, dass sich viele Sint*ezze und Rom*nja nicht als solche zu erkennen geben oder sogar ihre eigene Herkunft verleugnen.
Die Gewalt, die an Rom*nja und Sint*ezze verübt wurde, hatte ihren Höhepunkt im Nationalsozialismus. Ihre rassistische Verfolgung und Ermordung, auch Porajmos genannt, wurde nach dem Genozid jedoch fast fünfzig Jahre lang totgeschwiegen. Das System der Ungleichbehandlung und Diskriminierung in staatlichen Institutionen wie Polizei, Justiz, Bildungs- und Gesundheitswesen existierte auch nach dem Zweiten Weltkrieg nahezu ungebrochen weiter.
In Tradition der NS-Ideologie betrieben staatliche Stellen die erneute „Sondererfassung“. Rom*nja und Sint*ezze wurden als „kriminell“ und „asozial“ dargestellt, auch um staatliche Entschädigungszahlungen zu verhindern. Es wurde damit versucht, die Verfolgung und Ermordung für rechtens zu erklären. Rom*nja un Sint*ezze seien praktisch nicht rassistisch verfolgt gewesen, sondern für kriminelle Taten bestraft worden. Denn nur wer im Nationalsozialismus aus rassistischen, politischen oder religiösen Gründen verfolgt wurde, hatte das Recht auf Entschädigung. Die nationalsozialistischen Verbrechen an den Sint*ezze und Rom*nja erkannte die Bundesrepublik erst in den 1980er Jahren als Völkermord an. 1992 beschloss der Bundestag auf Druck von Menschenrechtsaktivist*innen die Errichtung eines zentralen Mahnmals, des Denkmals für die im Nationalsozialismus ermordeten Rom*nja und Sint*ezze Europas. Dieses wurde schließlich im Jahr 2012 in Berlin eingeweiht. Die Denkmäler in Erinnerung an die systematische Vernichtung im Nationalsozialismus werden regelmäßig geschändet und zerstört.
Formen von Antiromaismus
IMMER UND ALLE – kein Ort ohne
Die rassistische Fremdbezeichnung „Zigeuner“ ist noch in vieler Munde, im Stadion, in der Oper, auf dem Schulhof oder in der Gastwirtschaft als Schnitzel mit Sauce. Diese Fremdbezeichnung wird von den meisten Angehörigen der Minderheit abgelehnt, weil sie mit rassistischen Stereotypen verknüpft ist und als rassistische Kategorie für die Verfolgung und den Genozid im Nationalsozialismus verwendet wurde. Rom*nja und Sint*ezze wurden als asozial, ungebildet, primitiv und faul stigmatisiert. Diesen Vorurteilen begegnen die Angehörigen der Rom*nja und Sint*ezze noch heute, obwohl sie damals und heute in allen Berufen und Milieus zu finden sind. Rom*nja und Sint*ezze leben auf dem Land und in der Stadt, arbeiten auf dem Bau und in den Universitäten und Schulen, auf den großen Bühnen der Welt, in der Industrie und in der Altenpflege. Einige dürfen nicht arbeiten, weil sie sich im Asylverfahren befinden. Rom*nja und Sint*ezze leben konservativ, liberal oder alternativ, eben wie alle Menschen.
ARBEITSMIGRATION – Arbeit unter schlechten Bedingungen
„Geld für Oma, statt für Sinti und Roma“: Mit diesem Slogan warb unter anderem die NPD im Bundestagswahlkampf 2013. Dieser offene Rassismus fand sich auf Plakaten in den Straßen der Städte und Dörfer und verursachte wenig Widerstand und Empörung. Dabei wurden Sint*ezze und Rom*nja gezielt gegen sogenannte einheimische ältere Menschen in Stellung gebracht. Dieser völkische Rassismus vergisst, beziehungsweise will nicht wahr haben, dass in den Dörfern und Städten auch Omas der Sint*ezze- und Rom*nja-Minderheit wohnen.
Außerdem wird das falsche Bild einer „Massenzuwanderung“ durch Rom*nja aus Südosteuropa bemüht. Der Antiromaismus arbeitet stark mit dem Stereotyp der Faulheit und des Nicht-arbeiten-Wollens. Daher verwenden die neuen deutschen Medienmacher*innen den Begriff Armutszuwanderer als (teilweise abfällige) Bezeichnung für Menschen aus Südosteuropa, teils auch als Synonym für Rom*nja, die im Zuge der EU-Freizügigkeit nach Deutschland kommen. Die große Mehrheit der Menschen, die seit 2007 aus den neuen EU-Beitrittsländern eingewandert sind, geht jedoch einer Arbeit nach oder studiert. Es handelt sich daher überwiegend um eine – für Deutschland profitable – Arbeitszuwanderung bzw. Arbeitseinwanderung. Auch problematisch: Bei „Armutsmigration“ schwingt die Sorge mit, Deutschland sei vor allem von einer Einwanderung in die Sozialsysteme betroffen. Rom*nja, welche in den letzten Jahren aus Rumänien oder Bulgarien nach Deutschland gezogen sind, profitierten von der EU-internen Freizügigkeit. Unter ihnen sind Fachkräfte, Kleinunternehmer*innen und ungelernte Rom*nja. Immer wieder kommen Schikanen ans Licht, in denen Rom*nja von Arbeitgeber*innen oder Vermieter*innen über den Tisch gezogen werden.
HERKUNFTSSTAATEN - Abschiebungen in eine Heimat, die keine ist
Im Moment sind Abschiebungen eines der dringlichsten Probleme. Der Großteil der neu ankommenden Menschen im Asylverfahren wird aufgrund des gesetzlichen Konstrukts der „sicheren Herkunftsstaaten“ ziemlich schnell wieder abgeschoben. Gemäß diesem gelten – trotz vieler widersprechender Berichte von Menschenrechtsorganisationen – Serbien, Mazedonien, Kosovo, Montenegro sowie Bosnien und Herzegowina als sicher für Rom*nja. Das führt auch dazu, dass Jugendliche und junge Erwachsene, die in Deutschland zur Welt kamen, jetzt nach 30 Jahren wieder abgeschoben werden sollen. Doch Rom*nja sind in diesen Staaten rassistischer Ausgrenzung und institutionellem Rassismus ausgeliefert. Eine Abschiebung endet meist in neuen rassistischen Anfeindungen, Verarmung und dem Ausschluss aus dem Sozialsystem. Die körperliche und psychische Gesundheit der Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen steht mit Abschiebeandrohung und Abschiebung zur Disposition.
Trägerschichten oder: Wer ist antiromaistisch?
Antiromaismus findet sich überall, er ist (meist) unwidersprochen salonfähig. Klar ist, dass antiromaistische Stereotype und Vorurteile zum Alltag gehören. Frauen, Männer, Arme, Reiche, Kinder, Alte und Jugendliche sind antiromaistisch. Kein Klischee ist zu doof um verbreitet zu werden. Die Zahlen sprechen eine eindeutige Sprache: 57,8 % der Mehrheitsgesellschaft hätten ein Problem damit, wenn sich Rom*nja und Sint*ezze in ihrer Gegend aufhielten. 49,6 % meinen, dass Rom*nja aus den Innenstädten verbannt gehören und 58,5 % sind der Meinung, dass Rom*nja prinzipiell zur Kriminalität neigten. Rom*nja und Sint*ezze sind mit massiven antiromaistischen Bedrohungen und Diffamierungen konfrontiert. Aber auch die kitschigen Bilder vom Leben am Lagerfeuer mit Gitarre, von Freiheit und Vagabundieren machen Rom*nja und Sint*ezze klein. Sie werden so als das Gegenteil zur Zivilisation erzählt und zu den Unzivilisierten gemacht. Sie werden dadurch aus der Gesellschaft katapultiert.
Was weiß die Mehrheitsgesellschaft von Rom*nja und Sint*ezze eigentlich außer ihren Strereotypen?
Kathrin Krahl
RomaRespekt
Hinweis: Bei der Verwendung der Personenbezeichnungen ist zu beachten, dass Rom*nja und Sint*ezze unterschiedliche Gruppen sind. Es gibt also keine Sinti-und-Roma-Menschen. Für die männliche Einzahl wird Rom oder Sinto verwendet. Für die weibliche Einzahl wird Romni oder Sintezza verwendet. In gendergerechter Sprache verwenden wir im Plural Rom*nja und Sint*ezze.
Leseempfehlungen
Kathrin Krahl und Antje Meichsner (Hg.): Viele Kämpfe und vielleicht einige Siege. Texte über Antiromaismus und historische Lokalrecherchen zu und von Roma, Romnja, Sinti und Sintezze in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Tschechien, Dresden 2016. Herausgegeben im Projekt RomaRespekt von Weiterdenken – Heinrich-Böll-Stiftung Sachsen.
Hajdi Barz: Mimans Geschichte. Handreichung zum Thema Gadjé-Rassismus Pädagogisches Begleitmaterial zu vier Video-Modulen aus dem Dokumentarfilm WITH WINGS AND ROOTS
Neue deutsche Medienmacher: Glossar der Neuen deutschen Medienmacher. Formulierungshilfen für die Berichterstattung im Einwanderungsland.