Der Begriff der Inklusion hat in den letzten Jahren einen rasanten Aufstieg erfahren – als gesellschafts- und sozialpolitischer Orientierungsbegriff weit über das enge Feld der Politik für Menschen mit Behinderungen hinaus. Verfolgt man die Spuren, die in der Konjunktur des Begriffs münden, so stößt man auf zahlreiche verdeckte Fragen und Kontroversen, die sich um die Zukunft des Sozialen ranken. Für politische Orientierungsfragen interessant ist deshalb zunächst einmal nicht der Begriff der Inklusion selbst, sondern die dahinter liegenden Anliegen der Perspektivenverschiebung und ihre Bewertung. Gerade wenn man dem Begriff Orientierungskraft verleihen will, lohnt es sich, hinter seine Fassade zu schauen.
Von der Exklusion zur Inklusion: Die neue soziale Frage als Frage von Drinnen und Draußen
Als eine erste entscheidende Triebfeder der aktuellen Inklusionsdebatte ist der politische Aufstieg des Begriffs der sozialen Exklusion zu nennen, der zwar in der Soziologie schon auf eine lange Geschichte zurückblicken kann, jedoch im politischen Raum der Bundesrepublik erst in der ersten Hälfte der Nuller- Jahre angekommen ist. Die Beschreibung unserer Gesellschaft erfolgte durch die Brille der Exklusion nicht mehr nach dem bloßen Kriterium der materiellen Unterschiede, sondern nach dem Maßstab des gesellschaftlichen Ausschlusses von zentralen Orten, Netzen und Systemen. Dabei wurde diagnostiziert, dass der eigentliche Gerechtigkeitsskandal unserer Gesellschaft in einem weitreichenden Ausschluss bestimmter gesellschaftlicher Gruppen von entscheidenden öffentlichen Gütern bestehe: Bildung, Arbeit, Gesundheit, öffentliche Räume etc. Materielle Armut wurde so von dem zu einem Element der Exklusionsbeschreibung. Als positive Gegenbegriffe zur Exklusionsdiagnose etablierten sich Begriffe wie »Teilhabe« oder »Zugang« oder »Durchlässigkeit« fest im politischen Begriffsarsenal. All diese Begriffe haben ihre Stoßrichtung darin, die sozialen Blockaden für bestimmte Gruppen zu beseitigen und so die Abschottung privilegierter Systeme und Milieus zu durchbrechen.
Hinter diesem neuen Ansatz der sozialen Problembeschreibung steckten sehr unterschiedliche politische Motive und entsprechend wurde er auch von unterschiedlichen Protagonisten aufgenommen. Einige Akteure hatten im Hinterkopf, sie könnten über diesen Weg – vor dem Hintergrund einer allgemeinen Welle der »Modernisierung« von Staatlichkeit und des Abbaus der rapide angestiegenen Staatsschulden – die Frage der materiellen Verteilung abschwächen oder gar beiseitelegen. Andere nutzten die Exklusionsbeschreibung, um der »Unterschicht« kulturalistisch das Bild einer intakten bürgerlichen Mitte entgegenzusetzen, die der angeblich »wohlstandsverwahrlosten« Unterschicht ein paternalistisches Aktivierungsprogramm entgegen setzen müsse.
Beide Motive verstärkten die Vorbehalte auf Seiten der Traditionslinken gegenüber der Exklusionsperspektive, die ihrerseits die gerechtigkeitspolitische Notwendigkeit eines exklusionsorientierten Perspektivwechsels unterschätzte. Denn in der Tat ist die Diagnose der sozialen Exklusion für eine Gerechtigkeitspolitik unverzichtbar, die das soziale Auseinanderfallen unserer Gesellschaft ernsthaft aufhalten und nicht nur beklagen will. Deshalb wurde die Anknüpfung an den Exklusionsbegriff auch von denjenigen vorangetrieben, die ein schärferes Bild davon zeichnen wollten, wie Menschen aufs Abstellgleis geschoben werden und wie eine Strategie der öffentlichen Institutionen und des öffentlichen Raums aussehen könnte, die für Einschluss sorgt anstatt den Ausschluss zu befördern.
Aus dieser Perspektive wurde die Exklusionsdebatte auch genutzt, um mehr Licht in die Frage zu bringen, was Verteilungsgerechtigkeit sinnvoll verstanden eigentlich heißt. Verteilungsgerechtigkeit, die auf Teilhabe aller zielt, nimmt in ihrer Bedeutung nicht ab, im Gegenteil. Sie bezieht sich aber auf einen anderen Zweck, indem sie prioritär zur Stärkung derjenigen Institutionen, Orte und Netze herangezogen wird, in denen sich der Zugang zu den öffentlichen Gütern entscheidet. Entsprechend wurde die Bedeutung von Verteilungsgerechtigkeit neu betont – nicht neben Teilhabegerechtigkeit, sondern auf Grund ihrer Bedeutung für Teilhabegerechtigkeit. Damit einher gehend wurde der Begriff des institutionellen Transfers geprägt (also der Umverteilung von Privat in die öffentlichen Institutionen) und dem der Begriff der Individualtransfers beiseite gestellt (also der klassischen Transfers aus dem einen Geldbeutel in den anderen). Beiden Transferarten wurde eine Berechtigung zugesprochen, aber der strategische Hebel einer neuen Gerechtigkeitspolitik wurde zu Recht in einer Priorisierung der Ausgaben zu Gunsten der Stärkung und Erneuerung der öffentlichen Institutionen gesehen.
Um nicht in der bloßen Exklusionskritik stecken zu bleiben, kam zunehmend der Versuch hinzu, dem positive Bilder entgegen zu stellen. Und so gewann der Inklusionsbegriff in diesem Debattenstrang zunehmend an Bedeutung. Inklusive Stadt, Inklusive Schule, Inklusiver Arbeitsmarkt sind nur drei Schlagworte, die sich in dieser Linie bewegen.
Im parteipolitischen Raum fällt zumindest auf bundespolitischer Ebene allerdings nach wie vor auf, dass trotz Inklusionsrhetorik, trotz Beschwörung von öffentlichen Institutionen und öffentlichem Raum, nach wie vor der Großteil der Umverteilung in Individualtransfers beschrieben wird. Das Bild der Erneuerung öffentlicher Institutionen und öffentlicher Orte bleibt blass. Die Matrix von »Drinnen« und »Draußen« spielt in den konkreten Ansätzen bislang keine allzu große Rolle.
Von der Bildungsgerechtigkeit zur Inklusion: Die Schuldebatte und die Frage nach dem gemeinsamen Ort
Eine zweite Linie lässt sich von der vor fast zehn Jahren neu aufgenommene Schulstruktur-Debatte zur Inklusion ziehen. In Reaktion auf die erste, allgemeine Bestürzung auslösende PISA-Studie zum internationalen Vergleich der Schulleistungsstudien, wurde die Idee von der Schule als öffentlicher Ort des gemeinsamen Lernens neu ins Spiel gebracht. Dabei wurde darauf hingewiesen, dass erfolgreiche Länder individuelle Förderung mit einer langen gemeinsamen Schulzeit verbinden. Der Umbau des gegliederten Schulwesens mit seiner frühen Selektion zu einer gemeinsamen Basisschule für alle SchülerInnen wurde entsprechend als die richtige Konsequenz aus den Ergebnissen der internationalen Debatte über erfolgreiche Schulstrukturen gesehen.
Insoweit wurde hier dem Zugang aller zu einem öffentlichen Gut eine weitere Forderung hinzugefügt: der nach dem gemeinsamen Ort. Eine Zugänglichmachung von guter Bildung für alle – so das Argument – ist nur möglich, wenn wir eine neue Idee vom gemeinsamen Ort, einer gemeinsamen Schule entwickeln, in der sich die SchülerInnen quer zu Schichtenlage und Herkunft zusammenfinden. Gegen die soziale Segregation der Kinder in unterschiedliche Schulsysteme wurde das Bild einer neuen Schule gestellt, die Gemeinsamkeit und individuelle Förderung neu verbindet – und so die Fehler der Gesamtschulen aus den 70er- Jahren nicht wiederholt. Die Idee von einer gemeinsamen Öffentlichkeit, von gemeinsamen Orten, wurde im Rahmen der Inklusionsstrategie jedoch auch auf ganz anderen gesellschaftlichen Feldern nach vorne gestellt: In der Arbeitspolitik wurde betont, dass es – etwa für Dauerarbeitslose oder Menschen mit Behinderungen – grundsätzlich keine »Sonderbereiche« geben dürfe, sondern dass grundsätzlich alle durch entsprechende Unterstützungsleistungen Zugang zu einem gemeinsamen, ersten Arbeitsmarkt haben müssten. Im Zuge der Gentrifizierungsdebatte rückte stadtpolitisch ebenfalls die Wieder-Erkämpfung des gemeinsamen öffentlichen Raums in den Vordergrund. In der Regel stark öffentlich finanzierte Kultureinrichtungen stellen sich ebenfalls zunehmend die Frage, wie sie ihre Angebote auch für Menschen aus sozial schwächeren Schichten öffnen können. Im Zuge der Debatte um die Bürgerversicherung wurde das Gesundheitssystem zunehmend als ein gemeinsamer Ort beschrieben, in den alle einzahlen und von dem alle profitieren sollen. Und auch im Zuge der Demokratiedebatte wurde zunehmend nach einer gemeinsamen Öffentlichkeit gefragt, als Voraussetzung für eine inklusive Demokratie, in der sich nicht einige wenige beteiligen, die über Zeit und Ressourcen verfügen, sondern möglichst viele.
Drei Dinge lassen sich mit Blick auf die Schul-Debatte festhalten, die auch für andere Anstrengungen hin zu einem gemeinsamen öffentlichen Raum gelten:
Erstens tut sich die gehobene, einkommensstarke und gut gebildete Mittelschicht oftmals schwer, die geforderte Durchlässigkeit mit zu tragen. Man ist zwar gerne zur abstrakten Solidarität über Steuerzahlungen bereit, das heißt aber noch lange nicht, dass man den anderen Schichten und Milieus auch real begegnen will. Deshalb kommt es mit Blick auf öffentliche Räume und Netze besonders darauf an, gute Strukturen zu schaffen, und so Vertrauen in die angestrebten Veränderungen herzustellen.
Zweitens tun sich mitunter auch sozial abgehängte Milieus schwer, ihre Räume mit den eifrigen und kompetetiven Vertretern sozial besser gestellter Schichten zu teilen und so auch noch die Sicherheiten des eigenen, vertrauten Milieus zu verlieren. Die mit dem Inklusionsgedanken einher gehende soziale Mobilisierung erzeugt auch hier Ängste – und es kommt auch hier darauf an, durch nachvollziehbare und gangbare Schritte Vertrauen zu schaffen.
Drittens bleibt die Frage, inwieweit eine Strategie der Inklusion, also der Zugänglichmachung zentraler öffentlicher Güter für alle, tatsächlich auf gemeinsame, auf inklusive Räume angewiesen ist. Die Gegenposition lautet, dass es gerade zur Förderung benachteiligter Gruppen besondere Bereiche der Selbst- und Bestärkung geben müsse.
Von der Integration zur Inklusion: Die Migrationsdebatte und die Frage von Rechten und Pflichten
Eine weitere Linie führt von der Integrationsdebatte zum Inklusionsbegriff. In der Migrationspolitik stieß der Begriff der Integration auf zunehmendes Unbehagen. Hatte man den Begriff zunächst offensiv gebraucht, um in einem Kontext von Abschottung und Abschiebung einen Fuß in die Debatte zu bekommen, so merkte man dann spätestens in der Leitkulturdebatte, dass der Begriff der Integration im Sprachgebrauch stark mit Anpassungserwartungen verbunden wurde. Man störte sich (völlig zu Recht) daran, dass der Zutritt in den gemeinsamen gesellschaftlichen Raum letztlich als einseitiges Geschäft beschrieben wurde, in dem Menschen mit Migrationshintergrund eine wie auch immer zu beschreibende Assimilationsleistung zu erbringen haben, um Zutritt zu bekommen. So wurde in diesem Zusammenhang der Begriff der Inklusion als Alternative zu dem problematischen Integrationsbegriff herangezogen. Damit blieb jedoch offen, ob der Zugang stattdessen als einseitige Frage sozialer (Menschen-)Rechte oder auch als beiderseitiger Akt zu beschreiben ist. Die Frage nach den Bedingungen an den Zugang findet sich auch jenseits der Migrationspolitik, etwa in der Debatte um das Grundeinkommen. Und auch wenn der Inklusionsbegriff oftmals eher zur Betonung der Bedingungslosigkeit eingesetzt wird, so ist dies keineswegs zwingend.
Von der Inklusion zur Inklusion: Politik für Menschen mit Behinderungen und die Erweiterung der Barrierenanalyse
Nicht nur in seiner ursprünglichen politischen Verwendung sondern bis heute steht der Begriff der Inklusion sehr stark für den Einschluss von Menschen mit Behinderungen. Als Etappen sind hier unter anderem zu nennen: der The Americans with Disabilities Act von 1975, die UNESCO-Weltkonferenz von Salamanca im Jahr 1994, die Verabschiedung der sogenannten Behindertenrechtskonvention (»Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen«) durch die Vereinten Nationen 2006 und ihre Ratifizierung durch die Bundesrepublik 2009. In der Konvention dokumentiert sich ein neues Verständnis von Behinderung, denn sie geht davon aus, »…dass Behinderung aus der Wechselwirkung zwischen Menschen mit Beeinträchtigungen und einstellungs- und umweltbedingten Barrieren entsteht, die sie an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern.« Behinderung wird hier nicht mehr als zuschreibbares Merkmal einer Person verstanden, sondern entsteht vielmehr durch Hindernisse oder Barrieren, die ihr die gesellschaftliche Teilhabe erschweren oder unmöglich machen.
Die Verwendung von Inklusion in einem weiteren Sinn vollzieht davon ausgehend eine Erweiterung des Begriffs der Barriere auf andere benachteiligte Gruppen und letztlich auf alle, die vor sozialen Hürden stehen.
In diesem Zusammenhang fällt auf, dass sich die Akteure aus der Politik für Menschen mit Behinderungen selbst schwer tun, den Begriff in dieser Erweiterung einzusetzen. Hier ist momentan ein begriffsstrategisches Dilemma zu konstatieren: Einerseits wird nach einer Erweiterung auf Gruppen gesucht, die mit anderen Ausschlüssen konfrontiert sind, um über den Begriff der Inklusion zu einem breiteren Bündnis zu kommen. Anderseits wird befürchtet, dass man den Begriff durch die Erweiterung als eigenen, wiedererkennbaren Begriff verliert. Das Ergebnis in vielen Texten und Reden ist am Ende eine Begriffskonfusion, in der nicht mehr klar ist, ob es gerade um Menschen mit Behinderungen geht oder um alle Menschen, die vor strukturellen Barrieren stehen. Nur wenn hier mehr Klarheit besteht, lässt sich der Begriff als politischer Leitbegriff einer neuen Idee vom Sozialen fruchtbar machen und etablieren.
Von der Vielfalt zur Inklusion: Der Diversity-Ansatz und die Frage nach Gruppen und Gründen
Eine weitere Linie geht vom »Diversity«-Ansatz zur Inklusion. Aus dieser Perspektive stehen die individuellen Unterschiede der Menschen im Mittelpunkt der Betrachtung. Dem Diversity-Ansatz liegt die Auffassung zugrunde, dass Menschen unterschiedlich sind bzw. Unterschiede wahrnehmen und dementsprechend unterschiedlich behandelt werden sollten, ohne damit Hierarchien oder Ungleichheiten festzuschreiben. Nach Anita Rowe und Lee Gardenswartz lässt sich Diversity dabei in individuelle, soziale, organisationsbezogene, nationale und kulturelle Ebenen differenzieren. Als zentrale Dimensionen werden benannt: Persönlichkeit, Geschlecht, Ethnizität, Alter, sexuelle Orientierung, Befähigung/ Behinderung, Bildung, Glaube, Familienstand, Elternschaft, Arbeitsfeld, Funktion, Abteilung, Dienstalter, Arbeitsort, Politische Struktur, Wirtschaftssystem, Verteilung des Wohlstands, Individualität, Soziale Hierarchie, Werte, politische Überzeugung, Lebensstil, Geschmack, Moden etc.
Natürlich spielt die Dimension der Geschlechterverhältnisse in diesem Zusammenhang eine herausragende Rolle. Seit langer Zeit praktisch wie theoretisch intensiv bearbeitet, ist die Gender-Perspektive auch in all den anderen Zusammenhängen ein entscheidender Stichwortgeber für Fragen von Differenz und Gleichheit.
Der Begriff der Diversity hat im letzten Jahrzehnt einen rasanten Aufstieg erfahren, da er neben seinen sozialen und demokratischen Anliegen zunehmend auch zum Bestandteil einer modernen, erfolgreichen Unternehmensethik deklariert wurde. »Diversity Management« oder »Managing Diversity« wurden zu Schlagwörtern einer Organisationsentwicklung in Unternehmen und Institutionen, der es darum geht, die Vielfalt und Verschiedenheit der MitarbeiterInnen produktiv zu nutzen.
Alternative Bedeutungsmöglichkeiten
Bei einer Betrachtung dieser unterschiedlichen Wege zur Verwendung von Inklusion wird deutlich, dass der Begriff nicht nur sehr unterschiedliche Möglichkeiten des Sprachgebrauchs enthält, sondern dass in seinem Gebrauch auch zahlreiche Unschärfen und Widersprüche enthalten sein können. Aus jedem dargestellten Strang zum Inklusionsbegriff lässt sich mindestens ein grundlegendes Anliegen destillieren, das politisch gar nicht geteilt oder auch nur beantwortet werden muss, um dennoch – aus anderen Gründen – den Begriff offensiv zu verwenden.
Mit Blick auf die Exklusionsdebatte ist erstens unklar, ob die Matrix von »Drinnen « und »Draußen« als entscheidender Maßstab von Gerechtigkeit – und damit auch von Sozial- und Verteilungspolitik – geteilt wird.
Mit Blick auf die Debatte um Schulstruktur und öffentlichen Raum ist zweitens unklar, ob der Anspruch der Inklusion tatsächlich auf die eine Strategie der schichtenübergreifenden gemeinsamen Orte zielt.
Mit Blick auf die Migrationsdebatte ist drittens unklar, ob der Begriff der Inklusion als Idee des bedingungslosen Dazugehörens verstanden wird.
Mit Blick auf die Inklusionsdebatte im engeren Sinn ist viertens unklar, ob Inklusion seinen Kern tatsächlich in der verallgemeinerten Beseitigung sozialer Barrieren für alle hat.
Schließlich ist fünftens mit Blick auf den Diversity-Ansatz unklar, ob es letztlich um einen gleichheitsorientierten Barrieren-Check für alle geht oder um einen differenzorientierten, identitäts- oder potentialpolitischen Ansatz für bestimmte Gruppen.
Auf der Grundlage dieser jetzt klareren Alternativen innerhalb des Bedeutungsfeldes kann zu jedem der fünf Punkte eine Weichenstellung getroffen werden, aus denen sich dann ein konturierter, kohärenter und politisch nutzbarer Begriff zusammensetzen lässt. Über diese fünf Klärungen besteht die Chance, den Inklusionsbegriff auf weite Sicht zu einem hilfreichen Orientierungsbegriff im politischen Raum zu entwickeln. Erst durch eine solche Positionsbestimmung kann eine Kontroverse in Gang kommen, die Voraussetzung für weitere Klärungsprozesse ist.
Teilhabe für alle: Die Erneuerung und Stärkung öffentlicher Institutionen
Ein adäquater Inklusionsbegriff muss in Reaktion auf die Mechanismen sozialer Exklusion deutlich machen, dass der Anspruch der Inklusion als Zugänglichmachung der entscheidenden öffentlichen Güter für alle nur über eine Strategie der Stärkung und der Erneuerung der öffentlichen Institutionen möglich ist, einschließlich der verteilungspolitischen Konsequenzen. Eine Strategie der Inklusion muss sich damit befassen, wie diese Güter (zugänglich) gemacht werden, wo sie entstehen, und wie sie öffentlich werden.
Bei öffentlichen Institutionen handelt es sich in vielen Fällen um öffentliche Orte, also um konkrete Räume, in denen Menschen zusammenkommen, um ein öffentliches Gut zu erlangen: Kitas, Schulen oder Hochschulen, Jobcenter oder Arbeitsagenturen, Krankenhäuser oder Pflegeeinrichtungen, Stadtteilzentren oder Beratungsstellen, öffentliche Verkehrsmittel oder öffentliche Plätze, Jugend- oder Kultureinrichtungen.
Daneben zählt auch der Aufbau und Erhalt öffentlicher Netze zu einer Politik der öffentlichen Institutionen, seien es leistungsfähige Energienetze, Mobilitätsnetze oder Kommunikationsnetze. Schließlich haben auch soziale (Versicherungs-) Systeme wie die Vorschläge zu Arbeitsversicherung, Basissicherung oder Bürgerversicherung eine institutionelle Seite, auf der das Arrangement von Rechten und Pflichten geregelt ist. Mehr soziale Teilhabe wird es nur geben, wenn wir die Institutionen zu guten Institutionen machen, also zu Orten qualitativ hochwertiger Güter.
Qualität, Zugang, Partizipation und Organisation: An diesen vier Punkten müssen wir ansetzen, um überzeugende Bilder inklusiver Institutionen zu zeichnen. Mehr soziale Teilhabe kann es nur geben, wenn wir die Institutionen zu zugänglichen Institutionen machen, also zu Orten, die für alle durchlässig sind. Mehr Teilhabe ist nur erreichbar, wenn wir die Institutionen zu partizipativen Institutionen machen, also zu demokratisch-inklusiven Orten, an denen Mitsprache und Mitbestimmung möglich ist. Und gute Institutionen wird es nur geben, wenn die Binnenstruktur der Institutionen dieses auch möglich macht.
Viele eine Orte: Die Wiederentdeckung des öffentlichen Raums
Eine adäquate Inklusionsstrategie muss darüber hinaus deutlich machen, dass die Teilhabe aller nicht denkbar ist, ohne eine zu präzisierende Strategie der gemeinsamen, schichtübergreifenden öffentlichen Räume. Auch wenn sich die gehobene Mittelschicht damit schwer tut.
Hier ist ein differenziertes Bild zu zeichnen: Inklusion braucht ohne Zweifel Orte der besonderen Bestärkung und Befähigung. (So wie überhaupt oftmals Energie in geschützten Räumen aufgenommen wird, das gilt auch für künstlerische oder wissenschaftliche Zusammenhänge). Aber: Ein Zusammenleben in Gerechtigkeit und wechselseitiger Anerkennung kann aus verschiedenen Gründen nicht alleine auf die abstrakte Solidarität der Transferzahlungen bauen. Erst wenn die sozialen Unterschiede im öffentlichen Raum auch sichtbar werden besteht die Aussicht auf einen empathischen sozialen Ausgleich. Erst wenn die Menschen mit ihren unterschiedlichen Ausgangslagen öffentlich sichtbar werden, treten die Potentiale und Fähigkeiten aller zu Tage und verlieren Stereotype und Stigmatisierung ihre perfide Kraft. Und, noch grundlegender: Erst dort, wo wir als Menschen jenseits der Milieugrenzen aufeinander treffen bekommen wir ein Gespür dafür, was uns verbindet, was den tieferen Grund sozialer Anerkennung darstellt: das bloße Menschsein, die bloße Subjekthaftigkeit.
Dabei geht es weniger um die Inklusion in den einen großen öffentlichen Raum. Es geht vielmehr um viele eine Orte: Bildungseinrichtungen und Arbeitsorte, Netze und Sicherungssysteme, Straßen und Wohnhäuser, Stadtviertel und Parks, Jugendzentren und Kultureinrichtungen. Öffentlichkeit meint sinnvoll verstanden das Zusammenspiel dieser Vielzahl von einen Orten.
Rechte und berechtigte Erwartungen
Der Ansatz der Inklusion kommt nicht umhin zu verdeutlichen, dass es menschenrechtlich verbürgte Rechte gibt, die bedingungslos zum Anspruch der Inklusion zählen, und dass es darüber hinaus einen Raum der Inklusion gibt, in dem Rechte und Pflichten zu klären sind – gerade weil man drin ist bzw. drin sein kann. Auf der Grundlage unbedingter Zugangsrechte besteht der Prozess der Inklusion aus Kommunikation, Auseinandersetzung, Finden von Gemeinsamkeiten, Feststellen von Unterschieden und der Übernahme wechselseitiger Verantwortung auf der Grundlage gemeinsamer Bürgerschaft. Diese Aufgabe besteht in der pluralen Gesellschaft mit ihren vielfältigen Lebendformen und Lebensstilen insgesamt. Im Gegensatz zur Assimilation verlangt Inklusion nicht die Aufgabe der kulturellen Selbstbestimmung zu Gunsten einer vermeintlichen Leitkultur, sie beruht aber– gerade in ihrer Verbürgung für kulturelle Selbstbestimmung – auf der Basis einer gemeinsamen demokratischen Öffentlichkeit und wechselseitiger Anerkennung.
Find a Name: Die Barrieren identifizieren
Der Gedanke der Barrierefreiheit ist das Kernstück des Inklusionsansatzes: der Auftrag, aufmerksam und systematisch nach strukturellen sozialen Grenzziehungen und Erschwernissen beim Zugang zu öffentlichen Gütern zu fragen – und diese abzubauen. Das gilt neben Geschlecht und ethnischer Herkunft etwa für Alter, Handicaps, sexuelle Orientierung. Das gilt aber insbesondere für ein Kriterium, das in seiner ergreifenden Klarheit in einer politischen Rethorik der »Vielfalt« schnell übersehen wird: die soziale Lage. Die Zugehörigkeit zu sozialen Milieus und Schichten, zu einer bestimmten Klasse.
Es ist seltsam, dass Inklusion und Diversity oft so selbstverständlich in eins gesetzt werden. Denn während der Inklusionsansatz die Barrierefreiheit betont, bezieht sich der Diversity-Ansatz oftmals (wenn auch nicht zwangsläufig) entweder identitätspolitisch auf den kulturellen Unterschied oder auf das »Kapital der unterschiedlichen Potentiale«. In dieser Lesart sind die beiden Zugänge an einem entscheidenden Punkt diametral entgegengesetzt. Im einen Fall geht es um die Beseitigung von sozialen Hürden aus einer Perspektive der Gleichheit, im anderen Fall geht es um eine Begründung aus dem Besonderen, sei es identitätspolitisch oder unter der Verwertungsperspektive der Potentiale.
Jenseits der Vielfalt: Die sozialen Blockaden abbauen
Diversity lässt sich aus dieser Perspektive zumindest insoweit fruchtbar machen, als er dazu beitragen kann, Gruppen begriffsstrategisch zu benennen und zu beschreiben, die vor besonderen strukturellen Barrieren stehen – und hier gezielt nach Ansätzen zu suchen. Entsprechend müssen Diversity-Ansätze dann problematisiert werden, wo sie gerade nicht auf Gleichheit und gleiche Zugänge zielen, sondern auf identitätspolitisch begründete Ansprüche oder die bloße Nutzbarmachung verschiedener Potentiale. Das ist eine der Verdeutlichungen, zu denen der Inklusionsansatz in der Lage ist: Das Recht auf Inklusion im Sinne gleicher Teilhabemöglichkeiten begründet sich nicht aus der Unterschiedlichkeit, sondern aus der Annahme der Irrelavanz dieser Unterscheide für den gleichen Zugang. Das Ziel der Inklusion ist die Beseitigung von Barrieren, die mit diesen Unterscheiden verbunden sind.
Auch die Einführung von Quoten, die sich in bestimmten Bereichen als sinnvoll und effektiv erwiesen haben, rechtfertigt sich aus dem Gedanken der Überwindung in die Gesellschaftsstrukturen tief eingelassener Benachteiligungen und nicht aus der „Besonderheit“ der jeweiligen Person. Das wäre ein großes Missverständnis.
Die Undurchlässigkeit unserer Gesellschaft ist frapierend, auch wenn man nicht von unten durch eine Glasdecke schaut (wie etwa in Skandinaven), sondern eher auf eine Holzdecke blickt und gar nicht weiß, wie es da oben zugeht. Inklusion zielt auf die Wiederaufnahme der Kritik an einer sozial undurchlässigen Gesellschaft, auf die Kritik an dem Erstarken der Schichten- und Klassengrenzen.
Spätestens an den gravierenden Unterschieden der sozialen Lage lässt sich erkennen, dass der Diversity-Ansatz an seine Grenzen stößt. Eine untere soziale Lage ist nicht etwas, das wir uns als Teil von Vielfalt schön reden, sondern das wir überwinden sollten. Wenn wir uns also für eine Strategie der öffentlichen Institutionen und der öffentlichen Räume einsetzen, die diese Barrieren abbaut, dann ist der Raum der sozialen „Vielfalt“ eine Voraussetzung für die Überwindung sozialer Trennung und Ungleichheit – und kein Selbstzweck.