Jaromír Boháč

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Jaromír Boháč absolvierte ein Studium für Ökonomie, bevor er 1968 endlich  Fächer seiner Wahl studieren konnte: Bohemistik und Germanistik. Im Mittelpunkt seiner Arbeit im Museum und im Kreisarchiv in Cheb (Eger) stand die Geschichte und Landeskunde des Egerlands. Nach 1989 gehörte er zu den Förderern der deutsch-tschechischen Zusammenarbeit. 

 

Das Porträt schrieb der Journalist Pit Fiedler auf der Grundlage von Oral-History Interviews.

Das Interview führten Barbora Čermáková und Zbyněk Černý.

Das komplette Porträt ist in dem Buch „Bürgermut macht Politik. 1989/90 – Neues Forum Plauen. Bürgerforum Cheb“ (Eckhard Bodner Verlag) nachzulesen.

 

Herr Boháč, aus welcher Familie stammen Sie?

Ich wurde im Juli 1945 in Luby geboren, also eigentlich in Flussberg, das ist eine kleine Ortschaft  bei Luby, im Haus  meines Großvaters. Und es war eine deutsche Familie. Wie das passieren konnte? Ganz einfach. 1943 wurde mein Vater, der seiner Herkunft nach aus Kutná Hora kam, zur Zwangsarbeit nach Luby geschickt und lernte dort meine Mutter kennen. Sie mussten sich, soviel ich weiß, im Geheimen treffen. Der Kontakt zwischen einer deutschen Frau und einem tschechischen Zwangsarbeiter war verboten. Bis zu meinem fünften Lebensjahr wuchs ich bei meinem Großvater in Flussberg auf. In der Schule sprach ich dann kein Tschechisch. Deutsch konnte ich auch nicht, nur eben Egerländerisch. Dieser Dialekt ist eigentlich bis heute meine Muttersprache.

Die Familie meines Großvaters war stark sozialdemokratisch geprägt. Mein Urgroßvater gehörte zu den Gründungsmitglieder der Sozialdemokratie im Egerland. Mein Großvater – er hatte acht Brüder – war  Antifaschist. Am 30. September 1939 floh er zusammen mit den letzten Sozialdemokraten nach Plzeň. Etwa ab Mitte Oktober schickten sie die tschechischen Behörden in das von „Hitler“-Truppen besetzte Grenzgebiet zurück,  zurück direkt in die Arme von SA-Schergen, die schon im Bahnhof von Chomutov auf sie warteten.

Was geschah mit Ihrer Familie nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges?

Nach 1945 überzeugte mein Groβvater die Hälfte der Familie nicht auszureisen. Der Grund war vor allem mein tschechischer Vater. Ich kann mich noch erinnern, dass auf der Haustür meines Großvaters, der von Beruf Geigenmacher war, das „A“ für „Antifaschist“ stand. Dieses Zeichen schützte das Haus vor Plünderei und Schlimmerem. 

Wie hielten Sie Kontakt mit dem Familienteil in Deutschland?

Zunächst nur auf dem Postweg. Die Tschechoslowakische Staatsbürgerschaft besaßen nur meine Mutter, wegen Vater, und mein Groβvater, weil er Sozialdemokrat war. Alle anderen galten als Staatenlose. 1951 wurden plötzlich alle Deutschen eingebürgert. Ab 1962 konnte man, glaube ich, auch wieder in das nicht-sozialistische Ausland reisen. Sofort entstand eine große  Auswanderungswelle. Langsam verschwand die deutsche Welt aus der Tschechoslowakei.

Ein anderer Grund war, dass die Leute alt geworden waren. Mein Großvater war damals auch schon sechzig. Sie trafen sich jeden Sonntag in der Kneipe „U Polze Pepiho“ zum Frühschoppen.  Es ging dort immer ganz lustig zu. Die deutsche Welt zeichnete diese besondere Geselligkeit aus. Mit der ersten Auswanderungswelle Anfang der sechziger Jahre fing sie an zu verblassen. Nach der letzten Welle 1969 war diese Welt verschwunden. Ich weiß es: 1975 saßen drei verlassene, alte Männer traurig am Tisch beieinander. Sie waren die letzten. Sie murmelten nur noch halbe Sätze. Der Lebensspaß, der sozial-sprachliche Kontext, war inzwischen völlig verloren gegangen. Die Welt war auf diese drei kleinen Figuren zusammengeschrumpft, die auf den Tod warteten und sich den Untergang ihrer Welt gegenseitig bestätigten.

Wie war die Stimmung in Cheb 1989?

Hier war alles ruhig. Es gab im ganzen Kreis nur zwei Charta 77-Unterzeichner. … Ich kann mich an den Montag nach dem 17. November erinnern. Die einzige Zeitung, die etwas veröffentlichte, war „Svobodné slovo“, auf deutsch „Das Freie Wort“. Ich gehe also, lese die Zeitung und treffe einen alten Freund, der auf dem Marktplatz Richtung Kamenná-Straβe läuft. Ich frage: „Wo gehst du hin?“ Er antwortet: „Ich trete der sozialistischen Partei bei.“ Er war sein ganzes Leben lang parteilos!

Die Theaterleute standen damals im Zentrum der Bewegung. Als der Vorstand des Zentralkommitess der KPČ zurücktrat, gab es einen riesigen Jubel. Es war herrlich. Wenn ich mir  heute die Fotos anschaue, sehe ich, wie entspannt die Leute plötzlich waren. Ab und zu waren ein paar Bullen zu sehen. Doch die normalen Leute hatten ihre Angst verloren. So weit ich es weiß, entwickelte sich das ganze Bürgerforum im Umfeld des Theaters.

Wie kam es dazu, dass die Leute das Theater als politische Bühne nutzten?

Am Anfang war es nur das Ensemble. Doch als dann die Diskussionen begannen, wagten sich auch andere Redner auf die Bühne. …  Franta Hromada, der damals noch als Regisseur am Theater arbeitete, entwickelte sich zur leitenden Figur der Bewegung. Das planende und abwägende Gehirn war Herr Budinský, ein sehr angesehener  Regisseur. Ihm verdanken wir, glaube ich, dass wir unsere Sitzungen im November ins „grünerák“, ins Grüner-Haus, verlegten. Ich hatte dort - das muss ich zugeben - das Informationsbüro des Bürgerforums einrichten lassen. Ich erklärte, dass wir die Räumlichkeiten gleichzeitig als Dokumentationszentrum des Museums und als Informationszentrum des OF nutzen wollten. Ich wurde entlassen, weil ich das Museum angeblich politisch unterwandert hätte, am nächsten Tag aber schon wieder eingestellt.

Wie erlebten Sie die entscheidenden Monate?

Ich hatte ein schönes Erlebnis bei der Besetzung des Kreissekretariats der KPČ. Wir gingen zu Dritt hin und trafen auf nur noch drei Leute. Die Obersekretäre waren schon nicht mehr da. Das letzte Aufgebot bestand aus einer geheimnisvollen Genossin aus der Passabteilung und zwei Gehilfen. Man konnte sehen, dass sie Angst hatten, von uns erhängt zu werden. Wir hatten Angst, dass sie uns von der Volksmiliz, die es noch gab, erschießen lassen könnten. Also versicherten wir uns gegenseitig, dass wir sie nicht erhängen und sie uns nicht erschießen lassen würden, sondern alle in Frieden leben wollten... … Wir besetzten das Gebäude, um es frei zu machen für den Umbau in eine Poliklinik oder etwas anderes. Dann kehrte schon wieder der Alltag nach Eger zurück. Eines überraschte mich. Es muss noch vor den Wahlen gewesen sein. Damals fing man an, geeignete Leute für die verschiedenen politischen Funktionen zu suchen, und schon tauchten die ersten Habichte aus der zweiten Revolutionsgeneration auf. Sie denunzierten uns, drängten sich in die viel versprechenden Positionen...

Spielte die Angst vor den Deutschen auch im Bürgerforum eine Rolle?

Wir erlebten Streitigkeiten im Bürgerforum. Dieses vierzig Jahre lang in die Köpfe der Menschen eingehämmerte ideologische Bild! Daran war nicht nur der Geschichtsunterricht in den Schulen schuld. Das Feindbild wird auf vielfache Weise innerhalb der Familien weitergegeben. Die Deutschenfresserei steckt tief in den Leuten. Ich selbst bin so etwas wie ein „Böhme“ der deutschen und tschechischen Sprache. Doch gleichzeitig bin ich auch ein Slawe und ein Sokol,  zugespitzt gesagt, kann also gar nicht in Verdacht stehen, ein großer Deutschenfreund zu sein.  Die Rückkehr der Diskussion über die „Beneš“-Dekrete und die daraus abgeleiteten Rückgabeforderungen wirken allerdings auch auf mich bedrohlich.

Wie hat sich die Atmosphäre seit den neunziger Jahren verändert?

Ich würde sagen, dass sich die Lage seit 1992 stabilisierte und wir seither im „Alltag von Klaus“ leben. Den Menschen sind alle öffentlichen Angelegenheiten gleichgültig. 

Welche Periode war nach Ihrer Einschätzung die glücklichste Zeit für die Deutschen in Böhmen?

Ich glaube die k.k. Monarchie von 1848 bis zum Ersten Weltkrieg. Mit dem ersten Blutbad ging es dann nur noch abwärts, und die Erste Republik war verdammt kurz. 1914 und 1918 schlugen ins Egerland ein wie zwei gewaltige Axtschläge, und dann erst die Jahre 1938 und 1945. So etwas überlebt keine Region. Und wenn doch, dann muss das Gedächtnis vieles verdrängen. Das Egerland überstand diese Einschnitte auch mit Blick auf seine Bewohner nicht. Wir leben in einer verlassenen Landschaft. Wir können Region spielen, aber das, was wir Identität nennen, fehlt hier. ... Vielleicht machen die Jungen etwas aus dieser Situation.. Ich glaube, dass wir die Spur der egerländischen Eigenart  erhalten sollten. Aber wie soll das gelingen, wenn uns die Sprache dazu fehlt? Darum fühlen wir uns - nach  John -  nostalgisch. Er rettete das Gedächtnis der Region für das zwanzigste Jahrhundert. Und wer rettet das „Egerland“ für das 21. Jahrhundert?