Immer das Quäntchen Angst

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Steffen Kollwitz, geboren 1964 in Plauen, verheiratet, zwei Kinder, Goldschmied. 1989 zählte er zu den Beobachtern der Kommunalwahl in Plauen, gründete den Arbeitskreis „Umdenken durch Nachdenken“ und das Neue Forum Plauen mit und ist heute aktives Mitglied der Partei „Bündnis 90 / Die Grünen“.

 

Das Porträt schrieb der Journalist Pit Fiedler auf der Grundlage von Oral-History Interviews.

Das komplette Porträt ist in dem Buch „Bürgermut macht Politik. 1989/90 – Neues Forum Plauen. Bürgerforum Cheb“ (Eckhard Bodner Verlag) nachzulesen.

 

Meine Mutter stammte aus Plauen. Mein Vater floh mit seinen Eltern aus Breslau (vertrieben) und wuchs in Apolda, Thüringen, auf. Nachdem er meine Mutter in der Ausbildungszeit – beide lernten Goldschmied – kennen gelernt hatte, zog er später nach Plauen und wurde hier sesshaft. Meine Eltern waren eher unpolitisch.

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In den letzten drei Jahren der Schulzeit wurde mir der Unterschied zwischen der Theorie dieses Staates und der Praxis des Lebens hier immer klarer. Ich hielt es zum Beispiel füreinen Widerspruch, Mitglied dieser Freien Deutschen Jugend zu sein, die offiziell als Kampfreserve der Partei galt. Das führte so weit, dass ich noch in der Schulzeit meiner Direktorin schlicht und einfach mitteilte, dass ich aus der FDJ austreten wolle. Zur selben Zeit musste ich mich zwischen Jugendweiheund Konfirmation entscheiden. Für mich und meine Eltern war klar, dass wir die Jugendweihe ablehnen, obgleich sie ein großer Teil meiner Schulfreunde mitmachte.

Was mich in den 1980er Jahren prägte? Vor allem die Jugendarbeit in der Kirche, dieSolidarnosc-Bewegung in Polen und die sich abzeichnenden Veränderungen in der Sowjetunion. Wir beschäftigten uns in unserer jungen Gemeinde mit Themen wie Frieden, Umwelt, Gerechtigkeit, Bewahrung der Schöpfung. Zum Thema Wettrüsten trafen wir uns unter dem gängigen Motto „Schwerter zu Pflugscharen“. Aber das alles waren nur die Vorläufer einer Entwicklung, die im Frühjahr 1989 schließlich eine ganz andere Dimension bekommen sollten.

Im Januar fanden sich auf die Idee Einzelner hin Leute mit dem Ziel zusammen, dieKommunalwahl im Mai zu beobachten und die Auszählung der Stimmen einmal genau unter die Lupe zu nehmen. Die Gruppe wuchs im Frühjahr immer mehr an. Dabei waren Leute aus dem kirchlichen Umfeld der Markuskirche, dem ehemaligen Malzhausclub und Freunde, die man einfach angesprochen hat. Es gehörte ein gewisses Vertrauen dazu. Im Mai waren wir ungefähr 60 Leute und entschlossen, am Abend des Wahltags um 18.00 Uhr bei Schließung der Wahllokale vor Ort anwesend zu sein. In den Großstädten wurde das häufiger gemacht, zumal Gerüchte über Wahlfälschungen nicht verstummten.

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Wir hatten uns auf die Wahlbeobachtung gut vorbereitet, das Wahlgesetz genau studiert, unsere Rechte geklärt und ausgemacht, wer in welche Wahllokale geht. …  Wir waren mit unseren Leuten in ungefähr 40 % der Wahllokale der Stadt Plauen vertreten. Wir beobachteten die Auszählungen und notierten uns die Zahlen für unsere Auswertung. Ich erinnere mich noch an das mulmige Gefühl, das wir dabei hatten, obwohl die Sache nicht illegal war. Ich denke, die meisten Leute hatten weiche Knie, mich eingeschlossen, als sie die Wahllokale betraten. Wir merkten in solchen Situationen immer, dass wir in der DDR aufgewachsen sind und deshalb dieses Quäntchen Angst hatten. … Eine Zahl konnten wir genau nachweisen. Selbst bei den 40 % der Wahllokale, die wir insgesamt nur mit auszählen konnten, war unsere Zahl der Nichtwähler bereits höher, als die, die für ganz Plauen offiziell bekannt gegeben wurde.

Im Sommer bildete sich ... aus dem Kreis der Wahlbeobachter eine feste Gruppe mit ungefähr zwanzig Leuten, teils Leute aus der Gemeinde der Markuskirche, teils Leute, die wir erst durch die Wahlbeobachtung kennen gelernt hatten und die mit Kirche eigentlich gar nichts am Hut hatten. Der Arbeitskreis nannte sich „Umdenken durch Nachdenken“ und konnte sich ungestört im Schutz der Kirche treffen. … Die Leute unseres Arbeitskreises dachten weniger an Ausreise. Sie wollten viel lieber etwas tun, um Veränderungen zu bewirken.  Als dann Ende September der Aufruf zur Gründung des NEUEN FORUMs über das Westfernsehen bekannt wurde, waren wir uns sehr schnell einig mitzumachen. Die Ziele des Aufrufs und die Art, wie sie formuliert waren, stellten genau unsere Gefühle dar. Wir wollten fortan als NEUES FORUM arbeiten und hofften, dass sich aus der Initiative eine DDR-weite gemeinsame Aktion entwickeln würde. Wir beschlossen, unseren Arbeitskreis „Umdenken durch Nachdenken“, so wie er war, am 5. Oktober als NEUES FORUM neu zu gründen und dabei möglichst auch noch neue Leute dazu zu gewinnen.

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Bei der Demonstration am 7. Oktober mussten wir ein bisschen vorsichtig sein. Wir standen als Gruppe unter Verdacht, den Aufruf dazu verfasst zu haben. … Gegen 15 Uhr ging ich zusammen mit meiner Frau und einigen Freunden trotzdem ins Stadtzentrum. Im Bereich des Tunnels hatten sich viele Leute versammelt, die nicht das offizielle Volksfest zum Tag der Republik feiern wollten. Meine Frau bat mich, nicht mitten ins Geschehen hineinzustürmen. Unser Sohn war bei den Eltern zu Hause, die Riesenangst davor hatten, dass ich verhaftet werden könnte. Ich habe auch den Einsatz eines Hubschraubers und der Feuerlöschzüge gesehen. Vom Gefängnis her kamen Autos mit Hunden angefahren. Ringsherum standen Leute, die mehr oder weniger beteiligt waren. Sie waren völlig entsetzt über das, was passierte. WeitereLeute kamen dazu. Eine Freundin undihr Mann stürzten sich kurzzeitig sogar mit Kinderwagen ins Getümmel. Es war erschreckend zu sehen, dass die Polizei teilweise mit Gummiknüppeln gegen die Demonstranten vorging.

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Das NEUE FORUM hatte in Plauen einen guten Start. Wir waren durch unsere           Arbeitskreise in der Kirche relativ gut organisiert. Bestimmte Leute waren bereits für bestimmte Fragen zuständig. Neue Leute mit diversen Kompetenzen schlossen sich uns an. Darauf ließ sich aufbauen. Wir bestimmten im Verlauf vieler Treffen eine Art Vorstand des NEUEN FORUMs, erarbeiteten Programme und stellten Forderungen auf, konkret auch für Plauen. Bei der ersten großen öffentlichen Veranstaltung im Kino Capitol informierten sich die Leute, was wir in den verschiedenen Arbeitsgruppen machten und was wir wollten. Das Interesse war riesengroß. Die Leute wollten Bescheid wissen, dabei sein und sich eine Zeit lang einmischen, damit sich irgendetwas verändert. Das war generell so. Jede Diskussionsveranstaltung, jedes Bürgerforum, jeder Friedensgottesdienst war über Wochen, Monate gerammelt voll.

Der Zulauf zu den Samstagsdemonstrationen hielt ebenfalls an. Die beiden ersten Demonstrationen am 7. und 14. Oktober waren inhaltlich eine ganz andere Sache als die drei Monate später. Spätestens mit dem 9. November, dem Tag des Mauerfalls, kamen völlig neue Forderungen ins Spiel, die zu Meinungsverschiedenheiten und unterschiedlichen Forderungen führten. War das NEUE FORUM anfangs noch ein Hoffnungsschimmer, eine Sammelbewegung für alle, die frustriert waren und sich irgendwelche Veränderungen wünschten, verfolgten die Leute jetzt auseinander gehende Ziele. Die einen wollten so schnell wie möglich die Wiedervereinigung, andere suchten nach einem eigenen Weg für die DDR, den dritten Weg, wieder andere hielten eine Vereinigung der deutschen Staaten unter europäischer Aufsicht für sinnvoll und schließlich gab es auch noch die, welche die DDR als sozialistischen Staat erhalten und reformieren wollten.

Über das Ergebnis der Kommunalwahlen im Mai 1990 freuten wir uns. Das NEUE FORUM erreichte 8,9 % der Stimmen und schnitt damit in Plauen besser ab als in den meisten anderen Städten. Allerdings darf man diesen Erfolg natürlich nicht vergleichen mit dem Zulauf im Oktober / November 1989, wo sich dreitausend Menschen in unsere Listen als Mitglied oder Sympathisant einschrieben. Zum Volkskammerwahlergebnis, das wir mit dem Bündnis 90 im März 1990 erreichten, brauche ich nichts zu sagen. Es war miserabel und sehr enttäuschend. Es waren nicht einmal drei Prozent.

Was die Abfolge der historischen Ereignisse in diesem Zeitraum angeht, war die Nachricht, dass die Mauer offen ist, im ersten Moment etwas Unvorstellbares. Wir freuten uns wahnsinnig, hatten aber auf  der anderen Seite eine Riesenangst, die Leute würden mit dieser Reisefreiheit abgespeist und würden sich wieder völlig auf ihre privaten Angelegenheiten konzentrieren – mit der Folge, dass die Demonstrationen einschliefen.

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Alle diese Entwicklungen gingen auch am NEUEN FORUM nicht spurlos vorbei, zumal sich auf der Bundesebene Bündnis 90 und West-Grüne annäherten. Eine gewisse Zeit existiertenwir noch alleine weiter, dann kam schlicht und einfach die Überlegung, uns mit den ja auch bereits existierendenOst-Grünen zusammenzuschließen. Sie waren mit zwei Leuten ebenfalls im ersten frei gewählten Stadtrat vertreten. Wir waren zahlenmäßig geschrumpft, die Grüne Partei hatte nur ein paar Mitglieder, und wir verfolgten dieselben Ziele. Gleichzeitig war klar, dass wir, um weiterhin auf Landes- und Bundesebene kandidieren zu können, eine Partei gründen müssten. Die einen wollten das tun, andere wollten auf keinen Fall Mitglied einer Partei werden, und dann gab es auch noch Abspaltungen, zum Beispiel mit der Gründung der Deutschen Forumspartei. Eine Mehrheit beschloss schließlich in einer Urabstimmung: Wir sagen „Ja“ zum Zusammengehen mit den Grünen, auch mit den West-Grünen, zum Bündnis 90/Die Grünen. Ich stimmte auch zu, obgleich ich beim Vergleich unseres damaligen Forderungskataloges und dem neuen Parteiprogramm kaum Parallelen fand.

Ich weiß, dass der Zusammenschluss anderen absurd erschien, was ich auch zu hören bekam. Aber für mich wurde das Bündnis 90/Die Grünen zur politischen Heimat. 1994 bis 1999 war ich für diese Partei im Plauener Stadtrat und bin - zusammen mit einigen Leuten aus der  damaligen Wahlgruppe - bis heute Mitglied von Bündnis 90/Die Grünen. Momentan bin ich Mitglied des Vorstands im Kreisverband Vogtland und Kreiskassierer. Wichtig ist mir dabei der Name Bündnis 90/Die Grünen. Denn in unseren Ortsverbänden haben doch viele ihre Wurzeln in den verschiedenen Initiativen der Wendezeit oder im damaligen Bündnis 90. Daneben engagiere ich mich nach wie vor ehrenamtlich in meiner Kirchengemeinde.

Was ich mir wünsche ist, dass mehr über unsere Vergangenheit geredet wird, ohne dabei mit dem Finger auf einzelne zu zeigen, und dass einmal aufgearbeitet wird, wie sich dieses System DDR so lange halten konnte, wer die Verantwortung dafür trägt und welche Rolle dabei Mitläufer spielten. Diese Debatte wäre gerade für junge Leute interessant und spannend. Außerdem werden in den Diskussionen oft die vergessen, die wirklich schon Jahre vorher gegen die DDR-Diktatur aktiv waren. Stattdessen wird oft über die geredet, die erst viel später auf den schon fahrenden Zug aufgesprungen sind und sich damit profilieren konnten.

Beruflich bin ich heute als Goldschmiedemeister selbständig. Ich habe eine kleine Werkstatt und ein Ladengeschäft. Die Arbeitsbedingungen sind natürlich viel besser als vor der Wende. Doch es ist in der Marktwirtschaft wesentlich schwieriger, als selbständiger Handwerker ohne große Verdienstmöglichkeiten mit Frau und zwei Kindern über die Runden zu kommen, als in dem maroden DDR-System, in dem die Auftragslage eigentlich über Jahre hinaus geklärt war. Und trotzdem gibt es nichts zu bereuen. Die Freiheit, die wir dazu gewonnen haben, macht uns meiner Meinung nach alle zu Gewinnern. Auch wenn diese Freiheit – und das haben viele  vorher nicht bedacht – viele Probleme mit sich bringt und nicht heißt, dass man ein ruhiges, schönes und in Wohlstand gesichertes Leben hat.