Potentiale Ost
20 Jahre deutsche Einheit - Erfahrungen und Perspektiven
20 Jahre nach dem Mauerfall steht die Bundesrepublik wieder vor einer großen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Transformation. Seit September 2008 hat eine beispiellose Finanzkrise zu einer ebensolchen Wirtschaftskrise geführt. Das Ende dieser Krise wird zwar beschworen und ein beherztes »Weiter so!« geht durch die Reihen der politisch Verantwortlichen, aber vieles deutet darauf hin, dass wir uns nach wie vor in einer äußerst labilen weltwirtschaftlichen Lage befinden.
Ohne strukturelle Änderungen v.a. im Finanzsektor, ohne eine stärkere Einhegung der internationalen Finanzmärkte ist die nächste große Krise nur eine Frage der Zeit. Dazu kommt eine in ihrer Dimension noch bedrohlichere ökologische Krise in Gestalt einer sich ankündigenden Klimakatastrophe, die ein »weiter so« definitiv unmöglich macht. Ein Teil der Wirtschaft hat dies bereits erkannt. Die ersten Unternehmen halten die Vision einer grünen Wirtschaftsform für möglich. Sie haben begriffen, dass die Klimakrise kein kurzfristiges Phänomen ist, das man getrost ignorieren kann, sondern dass diese Ignoranz auch zum Verlust wirtschaftlicher Werte in großem Stil führen wird.
Die Entwicklung der ostdeutschen Bundesländer zeigt im Rückblick, wie sehr es auf neue Ideen und Konzepte ankommt. Denn die Vergangenheit bietet immer weniger Orientierung für das Handeln von heute und morgen. Es geht darum, die neuen Herausforderungen und Chancen zu verstehen und dem Neuen auf die Sprünge zu helfen. Ein Rückblick auf 20 Jahre Ostdeutschland zeigt deutliche Fehlentwicklungen; sichtbar wird aber auch, wie sich kreatives und neues Potenzial entwickeln kann. So ist Ostdeutschland zugleich ein Beispiel für eine irregeleitete Strategie »nachholender Entwicklung« wie für Erfolgsgeschichten, die sich vor allem dort finden lassen, wo die Zeichen der Zeit verstanden wurden. Die ostdeutsche Solarindustrie ist ein solches positives Beispiel. Eine Analyse der Erfahrungen mit dem »Aufbau Ost« kann für die anstehende wirtschaftliche und gesellschaftliche Modernisierung in ganz Deutschland von großem Nutzen sein. Denn sie führt auf paradigmatische Weise einen ökonomischen, sozialen und kulturellen Umbruch vor Augen, der die industrielle und gesellschaftliche Wirklichkeit tiefgreifend verändert hat.
Nach 20 Jahren sprechen wir immer noch von »den neuen Bundesländern«, obwohl in dieser Zeit eine starke Diversifizierung stattgefunden hat. Sie stehen heute als fünf recht unterschiedliche Länder da. In jedem Bundesland gibt es andere Erfahrungen und Entwicklungen. Es gibt selbstbewusste Städte mit sanierter Bausubstanz und städtebaulicher Kohärenz als auch Städte, die verarmen und ihre Vitalität eingebüßt haben. Es gibt modernste Forschungseinrichtungen und gut ausgebaute Hochschulen, Technologieregionen und florierende Tourismuszentren, und zugleich gibt es Regionen, die sich Zug um Zug entvölkern und in denen eine selbsttragende wirtschaftliche Entwicklung schwer vorstellbar erscheint. Die regionale Differenzierung nimmt also zu; von einer »Gleichwertigkeit der Lebensbedingungen« kann in Ostdeutschland immer weniger die Rede sein. Auch hier geht es weniger um eine »Sonderentwicklung Ost«, sondern um eine besonders scharf akzentuierte Tendenz, die für die gesamte Bundesrepublik und darüber hinaus wirksam ist.
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Die in diesem Band versammelten Beiträge zeigen Ostdeutschland als ein Labor für wirtschaftliche und gesellschaftliche Transformationsprozesse, in dem wie in einem Brennglas die Herausforderungen erkennbar werden, vor denen mehr oder weniger alle europäischen Industrieländer stehen: die Bewältigung des industriellen und demografschen Wandels, die Stärkung regionaler Wirtschaftspotentiale in einer globalisierten Ökonomie, die Bewahrung des sozialen Zusammenhalts in Zeiten des Umbruchs, der Übergang zu einer nachhaltigen Wirtschafts- und Gesellschaftsform. Die ostdeutsche Erfahrung ist reich an positiven wie negativen Beispielen, aus denen auch andere lernen können. Die Heinrich Böll Stiftung und ihre ostdeutschen Landesstiftungen haben sich zur Aufgabe gemacht, diese Transformationsprozesse nach
Kräften zu unterstützen, demokratisches Engagement zu fördern, neue Ideen auszuloten und Wege aus der Krise aufzuzeigen.
Inka Thunecke
Geschäftsführerin, Heinrich-Böll-Stiftung Brandenburg
Ralf Fücks
Vorstand, Heinrich-Böll-Stiftung
Stefan Schönfelder
Geschäftsführer, Weiterdenken – Heinrich-Böll-Stiftung Sachsen
Produktdetails
Inhaltsverzeichnis
Great New Deal - Ein Vorwort
Neuanfänge
Neuland zu denken versuchen - Wolfgang Kil
Ostdeutschland im Umbruch, Deutschland im Modellwechsel - Rainer Land und Hans Thie
Im Kleinen anfangen! - Holger Lauinger
Eigenständige Aktivitäten ermöglichen. Ein Plädoyer - Peter Hettlich
Zukunftsenergien
Erneuerbare Energien, Ungeliebter Wandel im Schatten der Braunkohle - Johennas Lichdi
So wie Bäume die Luft reinigen, könnte es Gebäude geben, die die Luft reinigen - Michael Braugart im Gespräch mit Inka Thunecke
Bio-Landwirtschaft - Perspektive für große Landstriche?! - Benjamin Nölting
Regionale Wertschöpfungsketten entwickeln. Anforderungen an Kommunen - Dietmar Strehl
Kommunen als Akteure. Zwischen Wirtschaft, Rückbau und Zukunftsgestaltung - Frank Kotzerke
Sich selbst organisieren. Genossenschaften als Form der ökonomischen Reorganisation - Mareike Alscher und Eckhard Priller
Eltern in der Krise. Ein Rückblick auf die Wende – Schlussfolgerungen für heute. - Octavia Wolle im Gespräch mit Marion Ben Rabah und Annette Ruhtz
Sich neu erfinden. Kunst-Nachrichten aus der Krise
Kultur als Motor der Stadtentwicklung? – Das Beispiel Görlitz - Heike Liebmann
Mittelalterzirkus oder unkontrollierbare Jugend - DirkTeschner
Die internationale Region. Rohkunstbau in Brandenburg - Arvid Boellert
Jazz in E. – Der Durchbruch zur Mitte - Thomas Melzer
Ex oriente lux? Kulturpolitische Aufgaben und Neuorientierungen - Bernd Wagner
Coda
Uwe Schmorl – Eine Bitterfelder Erfolgsgeschichte - Monika Maron