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Von Gefährlichen Liebschaften zu Vergessenen Opfern

Im Veranstaltungssaal der Stadtbibliothek von Ustí nad Labem versammeln sich bereits die ersten Gäste. Vor dem Eingang steht ein Polizist, der sich bestimmt fragt, was er hier eigentlich tun soll. Noch nie musste er eine harmlose Podiumsdiskussion in der Stadtbibliothek bewachen. Heute geht es aber um die »Gefährlichen Liebschaften«, eine gemeinsame Publikation des Kulturbüro Sachsen e.V., der Heinrich-Böll-Stiftung Berlin und Weiterdenken, die sich die Beschreibung der grenzüberschreitenden Kontakte deutscher und tschechischer Neonazis vornahm. Zehn Minuten vor Veranstaltungsbeginn tauchen auch sechs schwarz gekleidete junge Männer auf und setzen sich nebeneinander in die dritte Reihe. Sie sind Akteure des Neonazinetzwerkes »Autonomní nacionalisté« (Autonome Nationalisten). Die Wortergreifungsstrategie wird auch in Ústí nad Labem praktisch getestet.

Die Entwicklungen der letzten Jahre zeigen, wie sehr sich die tschechische neonazistische und nationalistische Szene bemüht, sich bei den erfolgreichen »Kameraden« von NPD und »Freien Kräften« in Deutschland zu inspirieren und deren Strategien zu kopieren. Dabei handelt es sich nicht nur um die parteipolitische Neuformierung der Dělnická strana (Arbeiterpartei) [1], sondern vor allem um Versuche, auch im subkulturellen Milieu neue Wege für die Rekrutierung neuer Anhänger zu eröffnen.

Die Wortergreifungsstrategie ist dabei eine der Aktionsformen, die den tschechischen Neonazis mehr Präsenz im öffentlichen Raum verschaffen soll. Es geht darum, Veranstaltungen der politischen Gegner zu besuchen und diese zu stören. Diese Bühne wird auch gerne zur Präsentation eigener Parolen benutzt. Tschechische Neonazis kopieren dies alles von den »deutschen Kameraden«. Nur mit der Ausführung in Ústí hapert es noch ein bisschen, wie die erleichterten Veranstalter der Podiumsdiskussion in der Stadtbibliothek feststellen können. Einer der Männer holt einen teuer aussehenden Fotoapparat aus seiner Tasche. Nach dem Hinweis der Veranstalterin vom Collegium Bohemicum, das Fotografieren sei nicht erlaubt, steckt er ihn wieder ein. Zu Wort meldet sich keiner der jungen Männer.

Die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen des Kulturbüro Sachsen e.V. konnten schon seit mehreren Jahren die zunehmend strukturierten und organisierten Kontakte über die sächsisch-tschechische Grenze beobachten. Im Frühjahr 2007 kamen tschechische ExpertInnen nach Dresden, um über die neonazistische Szene und ihre gegenwärtige Strategien und Aktionen zu berichten und die damals beginnende grenzüberschreitende Zusammenarbeit deutlich zu machen. Daraus entstand die Idee, diese Kenntnisse gemeinsam zu vertiefen und in Form einer Publikation zu veröffentlichen. Die Redaktionsgruppe bestand aus mehr als zehn AutorInnen beiderseits der Grenze. Auf der tschechischen Seite waren es vor allem der Verein Tolerance a občanská společnost (TOS) und der Dozent Miroslav Mareš von der Universität Brno.

Mit Hilfe von Weiterdenken und der Heinrich-Böll-Stiftung wurde die Publikation »Gefährliche Liebschaften. Rechtsextremismus im kleinen Grenzverkehr« [2] im Sommer 2009 veröffentlicht. Auf ca. 200 Seiten beschäftigen sich die Autor_innen mit den historischen Hintergründen, bieten eine ideologische Rahmung und konzentrierten sich im zentralen Kapitel auf die gegenwärtigen Aktionsformen der Neonazis in beiden Ländern. Auch den Reaktionen der Legislative und Strafverfolgung und der Situation der Betroffenen ist ein Kapitel der Broschüre gewidmet. Von Anfang an spielte die Situation der Betroffenen rechter Gewalt für die Redaktionsgruppe eine wichtige Rolle. Jede sinnvolle Arbeit gegen neonazistische Umtriebe muss die Betroffenen im Blick behalten. Auch in Tschechien wurde diese Einsicht immer deutlicher. 2009 gründete sich aus diesem Grund aus dem TOS die Opferberatungsstelle In IUSTITIA aus. Es war daher nicht überraschend, dass nach der Publikation der Broschüre »Gefährliche Liebschaften« die deutsch-tschechische Zusammenarbeitvertieft und fortgesetzt wurde.

In dem Recherche-Projekt »Vergessene Opfer« [3] wurde die Situation der Opfer von Hate violence (Hassgewalt) und die bestehenden bzw. notwendigen Beratungs- und Unterstützungsangebote in Tschechien analysiert. Finanziert durch die Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft führten die Vereine KBS, TOS, In IUSTITIA und Romea eine aktivierende Befragung durch. Vorgestellt wurden die Ergebnisse Ende April im Rahmen einer internationalen Konferenz in Prag. Es zeigte sich deutlich, dass es auch in der Tschechischen Republik nicht nur um Neonazis und Rechtsextremismus geht. Sie stellen eher die Spitze des Eisbergs dar. Der Alltagsrassismus und Phänomene, die in Deutschland unter dem Begriff »gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit« bekannt sind, machen die kaum sichtbaren Teile des Eisberges aus. Sie machen den unterschiedlich marginalisierten Gruppen in Tschechien das Leben schwer. Ein Zitat aus der Befragung macht in einer sehr zugespitzten Weise die Herausforderung deutlich, vor der wir stehen, wenn wir diesen Phänomenen entgegentreten wollen: »Ich sage, dass das größte Problem die rassistischen Muttis sind. Die arbeiten in der Stadtverwaltung, die sperren die Roma-Kinder in Anstalten, die Lehrerinnen schicken sie in Sonderschulen … Und es sind nicht einmal die Muttis der Skinheads, und von denen gibt es jede Menge. Das heißt wenn sich jemand die vornehmen würde, da würde er die Hälfte der Bevölkerung beseitigen...«

[1] Im Februar 2010 wurde sie im zweiten Anlauf verboten, kurz darauf wurde die Dělnická strana sociální spravedlnosti (DSSS – Arbeiterpartei der sozialen Gerechtigkeit) gegründet.

[2] Die vergriffene Publikation ist unter www.gefaehrliche-liebschaften.info und bei www.weiterdenken.de zum Download erhältlich.

[3] Die deutsche Kurzfassung des Abschlussberichtes zu diesem Rechercheprojekt ist unter www.kulturbuero-sachsen.de zum download erhältlich.

Miroslav Bohdálek

 

Miroslav Bohdálek ist Koordinator grenzüberschreitender Projekte im Kulturbüro Sachsen e.V.

Publikation

Gefährliche Liebschaften 2011

Die erste Auflage der «Gefährlichen Liebschaften» stieß erfreuerlicherweise in Deutschland und in der Tschechischen Republik auf großes Interesse und war in kurzer Zeit vergriffen. In Sachsen gab es mit dem 33. Deutschen Evangelischen Kirchentag in Dresden im Juni 2011 einen Anlass, die Publikation zu überarbeiten und neu zu verlegen. Deshalb haben wir die Publikation um neue Texte zur Rolle der Kirchen in Deutschland und Tschechien in unserem Themenfeld und einen Text zur Extremismusformel ergänzt und die Autorinnen und Autoren gebeten, ihre Texte der ersten Auflage zu überarbeiten.