Vor vierzig Jahren schlossen die DDR und Vietnam ein Abkommen zur Übernahme von "Vertragsarbeitern". 16.000 sind nach dem Ende der DDR in Deutschland geblieben. In der Geschichtsschreibung gern vergessen, prägen sie doch heute unsere kulturelle Vielfalt mit.
Huy Pham kam 1988 im Alter von 20 Jahren als Vertragsarbeiter in ein Braunkohlekraftwerk in die Lausitz. Als einziger aus der gut 100 Personen starken Gruppe von dort arbeitenden Vietnamesen blieb er nach der Wende in Deutschland. Er arbeitete als Hausmeister und schulte als Gärtner um. Heute leitet er einen Gartenbaubetrieb in Bayern, ist Vater von drei Kindern, die studieren oder noch zur Schule gehen und erwartet im Juli sein erstes Enkelkind.
Mai-Phuong Kollath begann 1981 als Küchenhelferin in Rostock zu arbeiten. Da sie ihre Schwangerschaft in der DDR bis zum siebenten Monat verheimlichte und danach einen DDR-Bürger heiratete, durfte sie ausnahmsweise mit ihrem Kind in der DDR bleiben. Nach dem Pogrom von Rostock-Lichtenhagen 1992 begann sie, sich politisch zu engagieren, baute in Rostock den Integrationsverein „Dien Hong“ mit auf und studierte Erziehungswissenschaften. Seit ihrem Umzug nach Berlin 2011 arbeitet sie als Coach, interkulturelle Beraterin und Schauspielerin. Ihre erwachsene Tochter ist Betriebswirtin.
V. Le reiste 1988 in die DDR und wurde im VEB Nähmaschinenteile Dresden eingesetzt. Nach einer von existenzieller Unsicherheit geprägten Wendezeit konnte er Mitte der 1990er Jahre wirtschaftlich Fuß fassen und betreibt heute einen Imbiss an einem Berliner S-Bahnhof. Seine beiden Kinder studieren.
Dao Quang Vinh kam 1987 nach Berlin und arbeitete als Näher im VEB Herrenbekleidung Fortschritt. Nach der Währungsunion 1990 musste der Betrieb schließen. Für Vinh folgte ein unstetes Berufsleben: Er war illegaler Zigarettenhändler, betrieb einen Textilstand auf einem Wochenmarkt, wurde Koch, Restaurantleiter, Bürokaufmann und berät heute Landsleute bei der Vereinigung der Vietnamesen in Berlin und Brandenburg.
Die größte Zuwanderergruppe in der DDR
Die drei Männer und eine Frau aus Vietnam stehen exemplarisch für die größte Gruppe von Einwanderern in die DDR: Für die ehemaligen DDR-VertragsarbeiterInnen. Ende 1989 lebten laut amtlicher Statistik 192.000 Ausländerinnen in der DDR. 60.000 von ihnen und damit die größte Gruppe kamen aus Vietnam. Die meisten waren VertragsarbeiterInnen. Grundlage war ein Vertrag zwischen der DDR und Vietnam, der am 11. April 1980, also vor 40 Jahren geschlossen wurde.
Ähnlich wie die GastarbeiterInnen in der alten Bundesrepublik war der Einsatz von VertragsarbeiterInnen in der DDR nur als zeitlich befristet angesehen. In der Regel sollten die vietnamesischen Arbeitskräfte vier Jahre bleiben. Ihre Integration in die DDR-Gesellschaft war nicht vorgesehen. Was sie von den ZuwandererInnen in die alte Bundesrepublik unterscheidet, war, dass nicht sie selbst sondern ihre Regierungen entschieden, wo man eingesetzt wurde und wie lange man bleiben durfte. Vertragspartner des Abkommens waren die Staaten Vietnam und die DDR, nicht die Individuen selbst.
„Sind der Leichtindustrie der DDR zuzuführen“
Die VertragsarbeiterInnen verrichteten meist einfache Anlerntätigkeiten, wohnten in Wohnheimen, wo ihnen lediglich 6 Quadratmeter Wohnraum zustanden. Wer in die DDR kommen wollte, musste sich auf „gesundheitliche Eignung“ untersuchen lassen. Verstieß man gegen die Arbeitsdisziplin oder wurde man ernsthaft krank, selbst nach einem Arbeitsunfall, drohte laut Vertragstext die Rückreise nach Vietnam. Schwangere Vietnamesinnen hatten bis Anfang 1989 die Wahl zwischen Abtreibung und Heimreise. Ab Februar 1989 wurde es einigen Schwangeren ermöglicht, nach der Entbindung in der DDR ihre Arbeit fortzusetzen. Voraussetzung war, dass der Betrieb der Weiterbeschäftigung zustimmte. Dennoch: Alle VertragsarbeiterInnen kamen absolut freiwillig.
V. Le beispielsweise war in Vietnam nach seinem Schulabschluss arbeitslos geworden. Er sagt: „In Vietnam herrschte Armut. Da war die Aussicht auf ein Leben in Europa für mich verlockend.“ Verlockender selbst als ein Studium, das der frischgebackene Abiturient eigentlich beginnen wollte. „Aber es gab in Vietnam viele Leute, die trotz Studiums arbeitslos waren,“ erinnert sich Le. Das Nachkriegsvietnam gehörte bis Ende der 1980er Jahre zu den zehn ärmsten Ländern der Welt.
Arbeitskräfte wurden zu KäuferInnen seltener Güter
Im Jahr 1980, in dem der Vertrag abgeschlossen wurde, kamen lediglich 1.500 vietnamesische VertragsarbeiterInnen in die DDR, in den beiden Folgejahren je gut 4.000. 1984 stockte der Zuzug neuer vietnamesischer VertragsarbeiterInnen für drei Jahre. Grund waren Differenzen der Regierungen der DDR und Vietnams zu der Frage, wie viel Waren die VertragsarbeiterInnen nach Vietnam schicken durften. Die VietnamesInnen wollten ihre Familien in Vietnam finanziell unterstützen. Weil die DDR-Währung nicht konvertierbar war, kauften sie in der DDR Waren und schickten sie nach Vietnam. Ihre Kaufkraft konzentrierte sich auf wenige Waren, die zu schicken nach Vietnam Sinn machte: Fahrräder, Nähmaschinen, Fotoausrüstungen und Fotopapier etwa. Für die DDR-Regierung war das ein Problem, weil die Waren teils auch in der DDR knapp waren. Die vietnamesische Regierung hingegen wollte das nicht vertraglich untersagen lassen, denn die Waren wurden in Vietnam dringend gebraucht. Sie setzte sich schließlich durch. In einem anderen Punkt setzte sich die DDR durch: Vietnam hatte erfolglos verhandelt, um zu erreichen, dass den VertragsarbeiterInnen ein Teil ihres Einkommens in konvertierbarer Währung ausgezahlt werden sollte. Darauf ließ sich die DDR nicht ein. Devisen waren knapp.
Huy Pham schickte 1988 und 1989 zwei Fahrräder aus der DDR, an jede seiner Schwestern ein Fahrrad. Dazu eine Nähmaschine und Stoff, damit die Schwestern Geld verdienen konnten. Wenn er heute davon erzählt, ist er noch immer stolz auf sich, seinen Schwestern ein wenig aus der Armut geholfen zu haben.
Stopfen personeller Engpässe in der Produktion oder Solidarität?
Der Konflikt zwischen den Staaten zeigt die tiefe Kluft zwischen den Ansprüchen der DDR an Vertragsarbeiter und der Realität. Nach dem Willen der DDR sollten die Vertragsarbeiter personelle Engpässe in der Produktion stopfen, Arbeitsplätze einnehmen, für die sich sonst niemand fand. Dass sie selbst als KäuferInnen von Waren in Erscheinung traten, die knapp wurden, war nicht vorgesehen. Der Bevölkerung der DDR wurde das als sozialistische Bruderhilfe verkauft und auf die mit der Vertragsarbeit verbundene Ausbildung verwiesen. Da in der DDR auch etliche VietnamesInnen studierten und dafür ein Stipendium erhielten, was tatsächlich eine solidarische Leistung der DDR war, glaubten viele DDR-BürgerInnen auch im Zusammenhang mit der Vertragsarbeit an Solidarität.
Tatsächlich sah der Vertrag von 1980 auch noch einen Sprachkurs von einem bis drei Monaten sowie eine berufliche Ausbildung vor. Das erwies sich aber nicht als praxistauglich und wurde darum oft nicht realisiert: Weil in der DDR vor allem un- und angelernte Arbeitskräfte fehlten, machte es aus Sicht der Betriebe keinen Sinn, die Neuzugewanderten auszubilden. Zudem fehlten für die Ausbildung sogar die Lehrbücher, denn Papier war in der DDR knapp.
Auch die VertragsarbeiterInnen selbst und der Staat Vietnam hatten in der Regel kein Interesse an einer Ausbildung. Die Industriezweige, in denen sie arbeiteten, gab es in Vietnam oft überhaupt noch nicht. Dass sich das bereits zehn Jahre später ändern sollte, weil Vietnam ab der Mitte der 1990er Jahre einen bis heute anhaltenden Wirtschaftsboom startete, konnte niemand voraussagen.
In den 1980er Jahren jedoch war es Vietnam wichtig, mit der Entsendung von Arbeitskräften Geld zu verdienen. Denn die Einsatzbetriebe überwiesen 12 Prozent des Bruttoeinkommens der VietnamesInnen nicht an diese selbst, sondern als „Hilfe zum Wiederaufbau des Landes“ an die vietnamesische Staatskasse. Auch die Rentenversicherungsbeiträge und das Kindergeld für die in Vietnam zurückgelassenen Kinder kassierte nicht der Arbeitnehmer selbst, sondern der vietnamesische Staat. Nguyen Van Huong aus dem Büro der Berliner Integrationsbeauftragten hat 1999 ausgerechnet, dass 200 Millionen DDR-Mark auf diese Weise an den vietnamesischen Staat flossen.
Auch die VertragsarbeiterInnen selbst hatten mehrheitlich kein Interesse an einer Ausbildung, sondern eher am Geldverdienen in der DDR. Wenn das Geld durch die Erwerbsarbeit nicht reichte, fanden sie weitere Zuverdienste. Dao Quang Winh erzählt, dass er nach Feierabend im Wohnheim im großen Stil Jeanshosen nähte, die in der DDR knapp waren. Er erinnert sich, dass Landsleute auch Geschäfte mit dem Verkauf von Westprodukten machten, die Diplomaten aus West-Berlin mitbrachten.
Das fehlende Interesse an einer Ausbildung von beiden Staaten führte dazu, dass diese in dem zweiten Regierungsabkommen von 1987 nicht mehr vorgesehen war. Der Sprachkurs wurde auf vier Wochen gekürzt.
Ab 1987 erhöhte sich die Zahl neu ankommender VertragsarbeiterInnen rapide. Es kamen 20.000 neue Arbeitskräfte, 1988 noch einmal 31.000. Hintergrund war, dass die DDR aus demografischen Gründen, aber auch wegen einer stärkeren Auswanderung von DDR-Bürgern in die Bundesrepublik dringend Arbeitskräfte brauchte und diese aus den osteuropäischen RGW-Staaten nicht mehr kamen. Anfang 1987 beschloss zudem das Politbüro für die „zusätzliche Produktion von 3,5 Millionen Kinderschuhen, 2 Millionen Kinderanoraks, 500.000 Kinderhosen und 200.000 Kinderjacken“ die Maschinen in der Leichtindustrie mehrschichtig auszulasten. Dazu waren, so das Politbüro, 17.570 Vietnamesen „der Leichtindustrie der DDR zuzuführen,“ hieß es in dem Beschluss. Als ginge es nicht um Menschen, sondern um Stückzahlen.
Die größere Zahl neu ankommender VertragsarbeiterInnen kollidierte mit einem anderen Mangel in der DDR: Mit dem an Wohnungen. Der Historiker Mike Dennis hat recherchiert, dass in einigen Regionen dringend benötigte Arbeitskräfte erst verspätet einreisen konnten, weil es keinen freien Wohnraum gab. Michael Möller, der 1988 in Zwickau Pädagogik studierte, erinnert sich, dass die Vorlesungen und Seminare an seiner Hochschule für einige Wochen unterbrochen wurden. Die angehenden LehrerInnen absolvierten ein Sonderpraktikum, sie mussten vier Wochen lang VertragsarbeiterInnen Grundkenntnisse in der deutschen Sprache beibringen. „Der Start der Neuankömmlinge war chaotisch“, erinnert er sich. „Da wurde ein neu gebautes Hochhaus kurzerhand als Wohnheim genutzt. Zwickauer BürgerInnen waren allerdings bereits die Wohnungen darin zugesagt wurden. Das schürte natürlich Ausländerfeindlichkeit.“
Wendezeit bedeutete Unsicherheit
Nach dem Willen des Einigungsvertrages von 1990 sollten DDR-VertragsarbeiterInnen lediglich ein Bleiberecht für die ursprünglich mit der DDR geschlossenen Vertragszeit erhalten. Oft nötigten die Betriebe ihre VertragsarbeiterInnen zur Ausreise, um Kosten zu sparen.
Huy Pham berichtet, dass sein Betrieb das Wohnheim schloss und für alle VietnamesInnen ein Rückflugticket kaufte. Er selbst konnte als einziger in Deutschland bleiben, weil sein Cousin ihn in seinem Zimmer im Studentenwohnheim mit wohnen ließ. Nur 16.000 der einst 60.000 vietnamesischen VertragsarbeiterInnen blieben in Deutschland. Für sie war die Wendezeit sehr schwer. V. Le erzählt, dass er von der Ausländerbehörde immer nur kurzzeitige Duldungen erhielt. „Mal für vier Wochen, mal nur für neun Tage. Immer mussten wir uns danach erneut in aller Frühe bei der Ausländerbehörde anstellen. Und ich konnte nur mit einem eigenen Reisegewerbe arbeiten. Niemand gab mir so kurzfristige Arbeitsverträge.“
Erst 1997 konnten sich die Innenminister der Bundesländer dazu durchringen, denjenigen ehemaligen VertragsarbeiterInnen aus Vietnam, Kuba, Mosambik und Angola ein Daueraufenthaltsrecht zuzusprechen, die noch im Lande waren, Arbeit hatten und straffrei waren. Erst jetzt konnten solche VietnamesInnen, die in Vietnam ihre Familien zurückgelassen hatten, diese nach zehn Jahren Trennung nachholen.
Huy Pham, Mai-Phuong Kollath, V. Le, Dao Quang Vinh und die vielen anderen ehemaligen VertragsarbeiterInnen sind 40 Jahre nach Abschluss des Staatsvertrages selbstverständlicher Teil der bundesdeutschen Wirklichkeit geworden. Sie haben hier ihren Platz gefunden, haben ihre Familien gegründet, melden sich zu Wort oder ziehen es vor, unsichtbar und leise zu bleiben. Ein Grund zum Feiern ist der Jahrestag der Zuwanderung auf jeden Fall: Für sie selbst und für die Aufnahmegesellschaft.
Anmerkung: Unsere mit der GIZ (Gesellschaft für interkulturelle Zusammenarbeit gGmbH) geplante Tagung zu diesem Thema - unter Schirmherrschaft der Landesbeauftragten für Integration und unterstützt von der LpB - kann zum jetzigen Zeitpunkt wg Pandemie leider nicht stattfinden. Einige Beiträge daraus werden in den nächsten Tagen auf www.Heimatkunde.boell.de und auf www.boell.de/stadt-land-ost erscheinen.