Auf der Netzwerktagung Geschlechterdemokratie 2019 war das sächsische Bündnis Pro Choice mit einem Workshop zu feministischen Kämpfen für reproduktive Rechte vertreten. Anhand konkreter Beispiele u.a. aus Polen, Italien, Spanien, Nordirland/Irland, den USA und eben auch Sachsen stellten sie Akteur*innen, Bündnisse und deren Strategien im Kampf um das Recht auf Abtreibung und sexuelle Selbstbestimmung vor. In dem folgenden Interview mit ihnen geben sie einen Überblick über Pro- und Anti-Choice-Bewegungen.
Weltweit kämpfen Pro-Choice-Aktivist*innen für das Recht auf Abtreibung und sexuelle Selbstbestimmung - gerade auch in Ländern mit einer starken rechtskonservativen und antifeministischen Bewegung. Wie unterscheiden sich die Kämpfe und was eint sie?
In einigen Ländern, in denen Feminist*innen schon viele Jahrzehnte für die Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen kämpfen, haben sie aktuell Siege errungen oder diese sind bald zu erwarten. So z.B. in Argentinien, wo das Gesetz zur Legalisierung zwar ganz knapp keine Zustimmung im Senat fand, aber eine umfangreiche gesellschaftliche Debatte zur Notwendigkeit der Entkriminalisierung stattgefunden hat. Das Referendum in Irland im vergangenen Jahr und das seit dem 21. Oktober 2019 in Nordirland geltende Gesetz haben endlich auch in diesen beiden Ländern eine Legalisierung gebracht. Im September wurde der Schwangerschaftsabbruch zudem im mexikanischen Bundesstaat Oaxaca sowie im australischen Bundesstaat New South Wales legalisiert.
Gleichzeitig gibt es einen Backlash in etlichen Ländern, in denen Abtreibungen seit Jahren oder Jahrzehnten legal oder zumindesten unter bestimmten Bedingungen straffrei sind. Das Erstarken rechtskonservativer bzw. rechter Kräfte sowie christlicher Fundamentalist*innen in Europa und in den USA spielt dabei eine entscheidende Rolle. In Deutschland ist der durch die Bundestagsentscheidung zur Fristenregelung 1995 errungene Kompromiss zwischen Totalverbot und einer Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen von den christlichen Abtreibungsgegner*innen längst wieder aufgekündigt worden. Mit "Märschen für das Leben" sind sie seit etwa Mitte der Nullerjahre in der Öffentlichkeit präsent und fordern ein Abtreibungsverbot. Auch in den USA attackieren christliche Fundamentalist*innen das seit 1973 geltende liberale Abtreibungsgesetz. In einigen Ländern wird auch das bestehende Recht auf Abtreibung faktisch nicht mehr realisiert, weil es einen Mangel an Abbrüche durchführenden Ärtz*innen gibt. Die Weigerung aus so genannten Gewissensgründen hat z. B. in Italien dazu geführt, dass Schwangere die Frist verpassen, in der sie legal abtreiben können. Ungewollt Schwangere aus dem Raum Neapel müssen nach Rom reisen - und auch dort führen derzeit nur noch sieben Kliniken Schwangerschaftsabbrüche durch. Aber auch in Südwestdeutschland müssen Betroffene lange Reisen auf sich nehmen, weil die medizinische Versorgungslage arg ausgedünnt ist. In Polen wiederum hindert eine starke feministische Bewegung - der Czarny Protest - die polnische Regierung seit Jahren daran, eine weitere Verschärfung des Abtreibungsverbotes, wie sie von christlich-rechtskonservativen Initiativen immer wieder eingefordert wird, zu beschließen. Die Kämpfe eint die Forderung nach freier Entscheidung, nach Legalisierung, nach einem flächendeckenden, kostenlosen Zugang und dem Ende der Stigmatisierung: free, save, legal and local!
Frage: Wie gefährlich leben Pro-Choice-Aktivist*innen in Ländern wie Polen, Italien, USA usw.?
Insbesondere in den USA lebt vor allem das Klinikpersonal gefährlich. Auf das Konto der Bewegung der Abtreibungsgegner*innen gehen seit dem Inkrafttreten des liberalen Abreibungsgesetzes 1973 acht Morde an Ärzt*innen, die Abtreibungen vornahmen, dazu 17 Mordversuche und 216 Bombenattentate und Brandanschläge auf Kliniken. Auch die Menschen, die als clinic escort arbeiten, sind Bedrohungen ausgesetzt. Clinic escorts schützen ungewollt Schwangere vor psychischen und physischen Attacken und helfen ihnen dabei, unbeschadet in die Kliniken zu gelangen, die häufig von christlichen Fundamentalist*innen belagert werden.
Lebensgefährliche Angriffe auf Pro-Choice-Aktivist*innen in Polen, Italien oder anderen Ländern sind uns nicht bekannt. Nicht zuletzt ist aber besonders das Leben der Schwangeren gefährdet, die aus Mangel an ärztlichem Personal, Informationen, Geld oder aufgrund verstrichener Fristen zu unsicheren Methoden greifen müssen. Laut einer Studie der WHO gehen jedes Jahr 47.000 illegalisierte Abtreibungen tödlich aus. Auch in Deutschland sind Ärzt*innen, die Abtreibungen vornehmen und darüber informieren, von Kriminalisierung betroffen. Sie werden dafür vor Gericht gestellt und zahlen hohe Geldstrafen.
Frage: Pro Choice ist auch in Sachsen aktiv. In Annaberg-Buchholz findet jedes Jahr der "Schweigemarsch" statt. Wie seht ihr die Entwicklung der Anti-Choice-Bewegung hier in Sachsen? Wie mächtig ist sie?
Antwort: Der jährliche Schweigemarsch der Abtreibungsgegner*innen in Annaberg-Buchholz hat in den letzten fünf Jahren - in denen wir Proteste organisiert haben - keinen stärkeren Zulauf erhalten. Die Teilnehmer*innenzahl hat sich aber auch nicht verringert. Diese Schweigemärsche sind aber nur eine von vielen Strategien, die die christlichen Fundamentalist*innen fahren, um an ihr Ziel zu gelangen. Beim Ringen um den § 219a hat die Bundesregierung letztendlich die politischen Wünsche der Fundamentalist*innen erfüllt. Die Reformation des Paragrafen 219a ist keine; es gibt nach wie vor keine Informationsfreiheit, stattdessen eine unvollständige Liste der Bundesärzt*innenkammer, auf der Adressen von Mediziner*innen stehen, die Abtreibungen vornehmen. Diese Liste ist so kurz, dass sie eher eine Prangerfunktion erfüllt. Auch das Wording der Fundamentalist*innen war erfolgreich. Statt Embryo oder Fötus sprechen nicht mehr nur sie von "ungeborenem Leben" oder dem "Kind". Bedingt oder zumindest befördert durch seine Kriminalisierung, lastet auf dem Schwangerschaftsabbruch eine enorme gesellschaftliche Tabuisierung und Stigmatisierung. Damit verbunden ist ein immer stärker werdender Mangel an Ärzt*innen, die Abtreibungen vornehmen - dies ist auch in Sachsen der Fall.
Eine weitere Strategie der Anti-Choice-Bewegung ist ihr "Engagement" in der Schwangerschafts"konflikt"beratung und Sexualaufklärung. Zum Beispiel gibt es in Sachsen Aktivitäten des christlich-fundamentalistischen Sexualkundevereins TeenSTAR. TeenSTAR hat eine homofeindliche Programmatik und verbreitet Propaganda gegen Selbstbefriedigung und vorehelichen Sex. Der Verein arbeitet mit Kaleb Region Chemnitz e.V. zusammen. Überhaupt ist Kaleb - der Name steht für "Kooperative Arbeit Leben ehrfürchtig bewahren" - ein in Sachsen clever agierender, dabei selbst von progressiven Kräften zumeist unterschätzter Akteur der Anti-Choice-Bewegung. Diverse regionale Kaleb-Ableger sind beim Schweigemarsch in Annaberg regelmäßig aktiv. Auf der Bühne sprachen schon der ehemalige Bundesvorsitzende Gerhard Steier und die damalige Vorsitzende von Kaleb in Chemnitz, Ruthild Kohlmann. Auch am ersten „Marsch für das Leben" 2002 in Berlin war Kaleb organisierend beteiligt. Genau dorthin mobilisiert wiederum seit Jahren der Dresdener Ableger, das Kaleb-Zentrum in der Neustadt. Der Laden organisiert die Busfahrten nach Berlin und tat dies bis 2016 auch ganz öffentlich auf seiner Webseite kund. Darüber hinaus bietet Kaleb-Dresden mit sogenannten MFM-Workshops ("My fertility matters" - "Meine Fruchtbarkeit ist wertvoll") Sexualaufklärungskurse für Schulen an, die sich laut Beschreibung kind- und jugendgerecht geben, aber von kirchlichen Kreisen dezidiert gegen die neuen Lehrpläne zur Sexualpädagogik, die auf sexuelle und geschlechtliche Vielfalt setzen, entwickelt wurden. Schließlich spricht sich Kaleb Dresden auch gegen die rezeptfreie Verschreibung der „Pille danach" aus.
Pro-Choice-Aktivist*innen blockierten 2016 und 2017 die Busabfahrt der Fundis, um über den christlich-fundamentalistischen Hintergrund dieses Ladens zu informieren. Leider regt sich in der Dresdner Öffentlichkeit bis heute kein nennenswerter Widerstand gegen die Praktiken von Kaleb. Ganz im Gegenteil ist der Laden aufgrund seines breiten sozialen Angebots für Schwangere und ökonomisch schwache Familien bestens in die Dresdner Kommunalpolitik integriert; er erfährt sowohl breite finanzielle Förderung als auch öffentliche Zustimmung, auch und besonders von Bewohner*innen der alternativen Dresdner Neustadt, die sein Angebot meistens rege nutzen. Mit einer eigenen Tauschbörse für Kinderkleidung und einem Beratungsangebot zu Tragetechniken bieten Aktivist*innen aus dem Pro-Choice-Umfeld bereits ein alternatives Angebot zu dem von Kaleb an. Letztendlich aber sind seitens eines politischen Aktionsbündnisses die Möglichkeiten für direktes soziales Engagement begrenzt. Schließlich ist die Bereitstellung eines wirkungsvollen und breiten, dabei jenseits religiös-politischer Interessen agierenden Angebots für ökonomisch benachteiligte Familien eindeutig Aufgabe der Kommunen.
Ein anderes Beispiel ist der christlich-fundamentalistische Verein ProFemina, der seit kurzem auch einen Sitz in Berlin hat und vorgibt Schwangerschafts"konflikt"beratung durchzuführen. Nicht umsonst klingt der Name erstens so ähnlich wie ProFamilia und zweitens irgendwie feministisch oder zumindest der Frau* zugetan. Darüber hinaus ist mit der AfD nun auch noch eine Partei hinzugekommen, die antifeministische und rechts-konservative Familienpolitik betreiben möchte.
Zusammenfassend kann man sagen, dass es aus feministischer Sicht ein Fehler war, sich mit dem sogenannten Kompromiss um den § 218 zufriedenzustellen. Die in der DDR bestehende Legalisierung hätte in bundesdeutsches Recht überführt werden müssen. Dies konnte nicht erkämpft werden, aber es war falsch, nach dem verloren gegangenen Kampf die Hände in den Schoß zu legen. Daher ist es jetzt höchste Zeit, sich gegen den antifeministischen Backlash zu organisieren. Eine von vielen Möglichkeiten ist zum Beispiel, den Protest von Pro Choice Sachsen in Annaberg-Buchholz zu unterstützen. Der wird im kommenden Jahr am 6. Juni sein. Informiert Euch und andere! Der Paragraf 218 muss fallen, 219a sowieso!
Pro Choice Sachsen - Kontaktmöglichkeiten:
www.pro-choice-sachsen.net; twitter: @prochoice_SN; facebook: Pro Choice Sachsen; Mail: pro-choice@riseup.net