Der Sozialwissenschaftler Paul Zschocke (Leipzig) forscht zur extremen und autoritären Rechten, Strategien der Zivilgesellschaft und städtischen sozialen Bewegungen mit Fokus auf die ostdeutschen Bundesländer. Auf der Konferenz (L)OST IN TRANSFORMATION (4./5.10.2019) junger Leipziger Wissenschaftler*innen hielt er einen Vortrag über „Die Großwohnsiedlung (GWS) Leipzig-Grünau -Politische Subjektivierung und der Rechtsruck am Rand der Stadt“. In dem untenstehenden Essay dokumentiert er kurz, worum es in seinem Vortrag ging:
Die Wohnungsfrage ist nicht nur die soziale Frage des 21. Jahrhunderts, sondern wirkt sich auch auf Identitäts- und Meinungsbildungsprozesse, sowie Wahlentscheidungen aus - also die Gesamtheit politischer Subjektivierung, wenn man so will. Die Menschen sind nicht nur Objekte und Betroffene struktureller und raumbezogener Veränderungen, von Verdrängung und Exklusion. Diese Prozesse ziehen eine umfassende Prekarität, im Sinne von Verunsicherung und Verletzbarkeit, nach sich. Dadurch wirken sie sich auf die subjektive Wahrnehmung von Gesellschaft und Politik, und damit auch auf Meinungsbildungsprozesse und Wahlentscheidung aus.
Im Vortrag wird argumentiert, dass der gegenwärtige Rechtsruck differenzierter als Polarisierung – zwischen pluralistisch-demokratischen und regressiven Milieus – und Autoritäre Transformation verstanden werden muss. Die Autoritären Transformation, die Bereitschaft abweichendes Verhalten und Fremdheit zu sanktionieren, erfasst dabei die gesamte Gesellschaft. Ausgehend von der Kritik am Ost-West und Stadt-Land-Klischee in der öffentlichen Wahrnehmung des Rechtsruckes wird der Fokus auf die urbane Peripherie, städtische Randgebiete gelegt. Hier verdichten sich Krisenprozesse wie Prekarisierung, Abstiegserfahrung, Entwertung von Lebensweisen, aber auch kulturalisierte Konflikte um Zugehörigkeiten und Identitäten. Die Entgegensetzung von ökonomischem Abstieg oder kultureller Rückschrittlichkeit, die die Debatte um die Ursachen des Rechtsruckes beherrscht, spielt vor Ort – in Stadtteilen, Nachbarschaften und Großwohnsiedlungen – keine Rolle. Feuilletondebatten und Sozialwissenschaften flüchten sich hier oft in abstrakte Theorie, wo die Menschen und ihr Umgang mit der Veränderungen des Alltags befragt werden müsste.
Am Beispiel der GWS Leipzig-Grünau wird gezeigt, wie die Nach-Wende-Transformation mit Abwanderung, Leerstand, Abriss, Rückgang von Infrastruktur nicht nur vordergründig Prekarisierte betrifft, sondern zu einer generellen Verunsicherung und Entwertung von Lebenswesen sowie spezifischen Identitätskrisen geführt hat. Der neuerliche Boom der Stadt Leipzig in diesem Jahrzehnt zeitig hier seine Schattenseiten: die Verdrängung von Prekären und ihr Zuzug nach Grünau verstärken die Probleme des Stadtteils auf vielfältige Weise. Neu Zugezogene gelten vielfach als ‚die Anderen‘ und ‚Fremd‘, sie werden zunehmend kulturalisiert und zum Teil auch mit rassistischen Klischees belegt. Ein beachtlicher Teil Grünaus schottet sich durch ‚rohe Bürgerlichkeit‘ (Wilhelm Heitmeyer, 2018) von der umfassenden Prekarität ab und befürwortet rassistische, sozialdarwinistische und autoritäre Lösungen. Wahlpolitisch drückt sich das in der hohen Zustimmung zur AfD und ihrem Programm aus. Die offene Frage bleibt: Wie für Solidarität streiten, wenn sich an den ‚Orten der Prekarität‘ autoritäre Einstellung und regressive Politik durchsetzen?
Neuer Autoritarismus in der urbanen Peripherie - BoellSachsen
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