Salon Surveillance - Kämpfe Kontra Kontrolle

Lesedauer: 9 Minuten

Aktuelle Proteste gegen Überwachung

Peter Ullrich & Michael Arzt



Der folgende Text thematisiert einige der im Vortrag „Kämpfe kontra Kontrolle“ am 2.12.2010 in der Moritzbastei Leipzig im Rahmen der Reihe „Salon Surveillance“ angesprochenen Aspekte aktueller protestförmiger und künstlerischer Auseinandersetzungsweisen mit Überwachung.



Zum ersten Mal seit vielen Jahren wurde im Herbst 2008 wieder eine Bewegung wahrnehmbar, die sich gegen Überwachung und Kontrolle wendete. Mit den bundesweiten Demos unter dem Motto „Freiheit statt Angst“ in Berlin und ihren jeweiligen Neuauflagen im Herbst 2009 und 2010, die sich insbesondere an der Vorratsdatenspeicherung entzündet hatten, war Datenschutz und Überwachungskritik wieder öffentlichkeitswirksames Protestthema geworden. „Etablierte“ überwachungskritische Aktivistinnen fanden sich nun in einer ungewohnten Koalitionen mit einer neuen Protestgeneration wieder, welche sich zu einem großen Teil aus sehr jungen Menschen zusammensetzte, die durch ihre Internet- und Computeraffinität mit dem Thema in Berührung gekommen waren, also z.T. über völlig neuartige Politisierungshintergründe verfügten. Diese Situation provozierte Auseinandersetzungen über die Art und Weise des Protestes, über die anzustrebenden Ziele und die möglichen Bündnisse.



Akteure

Während der Proteste zeigte sich, dass tradierte politische Konfliktlinien und ihre institutionalisierten kollektiven Akteure wie Parteien und politische Gruppierungen die behandelten Themen nur noch unzureichend abbildeten. Dies wird an der Breite des Spektrums deutlich, welches sich unter einer großen Verallgemeinerung – der Gegnerschaft gegen ‚Überwachung‘ – versammelt. Es reichte von der FDP über die Grünen, Gewerkschaften, Die Linke. bis hin zur autonomen Antifa. Daneben waren eine Vielzahl von Personen, Vereinen und NGOs vertreten, darunter themenspezifische Gruppen, die ohnehin im Politikfeld Überwachung-Kontrolle-Repression-Bürgerinnenrechte aktiv sind (bspw. der Foebud e.V., der die überwachungskritischen „Big Brother Awards“ vergibt, die Humanistische Union, der Republikanische Anwältinnen- und Anwälteverein, der Chaos Computer Club), aber auch Lobbygruppen und Standesorganisationen wie die „Freie Ärzteschaft“.

So offensichtlich, wie es möglich war, sich unter einem – wenn auch eher formalen und abstrakten – Dach zu organisieren, so fragil war die Koalition auch. V.a. traten unterschiedlichste politische Analysen zutage, die z.T. auch auf recht heterogene Interessenlagen zurückzuführen sind. Diese wiederum bestimmen Handlungsrepertoires, das Verhältnis zu Militanz oder zivilem Ungehorsam und nicht zuletzt die Kontextualisierung der Überwachungskritik mit. Denn aus der abstrakten Einigkeit in der Ablehnung der Vorratsdatenspeicherung und der allgemein zunehmenden Überwachung folgt kein gemeinsames Verständnis der verschiedenen Überwachungs- und Kontrollpraxen sowie ihrer Kontexte und Bedingungen.



Konflikte

Die wichtigste Konfliktlinie innerhalb des Protestes ist sicherlich eine Links-Rechts-Spaltung im Kleinen. Sie zeigt sich besonders auf zwei Ebenen: der Protestkultur und der Analyse.

Am ‚rechten‘ oder liberalen Pol, vertreten durch etablierte Akteure wie die FDP, große Teile der Grünen und einige Lobby- und Bürgerinnenrechtsorganisationen, werden konventionelle und wenig konfrontative Protestformen bevorzugt. Zentraler Kritikpunkt ist das Anwachsen der Kompetenzen eines machthungrigen Staates, der mithilfe von Überwachungstechniken seine Bürgerinnen gängele und in ihrer individuellen Freiheit beschränke. Je mehr man sich aber über das linksliberale Spektrum dem ganz linken Pol des Protest nähert, umso grundlegender wird die formulierte Kritik (die mehr auf die Verknüpfung von Überwachung mit Strategien sozialer und politischer Ausgrenzung fokussiert) und umso konfrontativer werden die Protestformen. So stieß es beispielsweise bei linksradikalen Demobesucherinnen auf Hohngelächter, wenn sich Demonstrationsleitungen alle Auflagen der Polizei wie selbstverständlich zu eigen machten oder eine Fraternisierung mit den anwesenden Polizistinnen artikulierten.

Bei den etablierten linken Akteurinnen ist die Thematik von Freiheitsrechten jedoch auch umstritten. Besonders deutlich wird dies beispielsweise an den unterschiedlichen politischen Prioritäten innerhalb der Linkspartei, die grundlegend das Protestanliegen unterstützt. In Teilen derjenigen Parteiströmungen aber, die ihre wesentlichen politischen Prägungen in obrigkeitsstaatlichen Verhältnissen erfuhren und unter denjenigen die, geprägt durch die Tradition der Arbeiterinnenbewegung, vorrangig an (materiellen) sozialpolitischen Fragestellungen interessiert sind, ist das Protestanliegen deutlich weniger stark verankert.

Eine gesonderte Institutionalisierung des gesellschaftlichen Konfliktes um Überwachung ist also gerade angesichts dieser Widersprüche innerhalb etablierter Akteure durchaus möglich und zeigt sich in stabiler werdenden Organisationsformen wie dem bundesweiten Netzwerk des Arbeitskreises Vorratsdatenspeicherung und insbesondere in der Gründung der Piratenpartei, die bei Wahlen in den Jahren 2009/2010 Achtungserfolge erzielen konnte. Der dauerhaften Etablierung der Piraten steht jedoch die Problematik entgegen, dass sie sich schwer tun, andere Themenfelder als freies Internet und Datenschutz zu besetzen oder auch nur zu inhaltlichen Positionierungen in anderen Bereichen zu gelangen. Als stark von hochqualifizierten Computerspezialistinnen und Selbständigen geprägte Organisation repräsentiert sie bisher kein größeres Milieu und tendenziell nur einen (den liberalen) Pol der Überwachungskritik.

Strittig ist im Protest-Spektrum auch, wie sehr man dem Staat und seinen Institutionen, insbesondere den Gerichten, als Bündnispartnern vertrauen will – wobei wohl hier auch nur ein kleinerer, radikaler Flügel eine sehr skeptische Position bezieht. Das Scheitern der Klage gegen den EU-Zensus 2011 („Volkszählung“), welche vom Bundesverfassungsgericht im Oktober 2010 nicht einmal zur Verhandlung angenommen wurde, machte ganz aktuell noch einmal die Grenzen des Rechtsweges deutlich. Bei den Verschärfungen des Versammlungsrechts durch das neue bayrische Versammlungsgesetz konnte jedoch ein Teilerfolg verzeichnet werden. Das 2010 in Kraft getretene Gesetz stellt noch immer eine massive Verschärfung und gleichzeitige Perpetuierung von Problemen des alten Bundesversammlungsgesetzes dar. Jedoch mussten verschiedene in der Version von 2008 durchgesetzte Verschärfungen nach Überprüfung durch das Bundesverfassungsgericht fallen gelassen werden und wurden nicht Bestandteil der aktuellen Rechtssituation.

Verschiedene Argumente wären einer dominant an staatlichen Institutionen orientierten Proteststrategie entgegenzusetzen. Gewichtigstes ist wohl das als paradoxe Verrechtlichung bekannte Phänomen: Erfolge gegen nicht verfassungskonforme Gesetze vor Gericht führen nur zu oft dazu, dass die Administration sie erneut, nun juristisch wasserdicht, einbringen und durchsetzen kann. Deutlich wurde dies, als das Bundesverfassungsgericht Anfang des Jahres 2010 die Vorratsdatenspeicherung für unzulässig erklärte, zeitgleich aber betonte, dass eine Speicherung dieses Umfanges nicht grundsätzlich abzulehnen sei. Es fehle jedoch an einer dem „Verhältnismäßigkeitsgrundsatz entsprechenden Ausgestaltung“ der Rahmenbedingungen für Speicherung, Zugriff und Verwendung. Wie ein verfassungskonformes Gesetz gestaltet sein müsste, haben die Richter gleich mit beschrieben.

Der positive Bezug auf „Bürgerrechte“ wurde auch immer wieder als Exklusionsmechanismus kritisiert, der diejenigen ausklammere, die über keinen Pass verfügen: Flüchtlinge. Eine erfreuliche Entwicklung zeigte sich jedoch bei der „Freiheit statt Angst“-Demonstration im Herbst 2010. Erstmals wurde eine Einstellung der besonders diskriminierenden Überwachung von Migrantinnen explizit in den Forderungskatalog aufgenommen.



Bildproduktionskritik und Bilderproduktion

Die Überwachungskritik, die man mit einigem Recht als Bewegung gegen eine übermäßige Bildproduktion verstehen kann, produziert selbst erstaunlich viele Bilder. Damit sind nicht nur die 'traditionellen' politischen Kommunikationsformen (Plakate, Transparente, Sticker usw.) gemeint, sondern auch die Vielzahl kreativer Protestformen. Inszenatorische Aktionsformen (Kameratheater, Adbusting) können auf den verschiedenen Ebenen stattfinden und innerhalb eines Überwachungssystems auf unterschiedlichste Positionen abzielen. Sei es auf die Kamera als wohl wichtigstes Symbol, auf die Öffentlichkeit, auf die Überwacherinnen selbst oder aber auf die Überwachten. Als Teil des Bildrepertoires sind sie neben legalistischen Anstrengungen von Datenschützerinnen und Bürgerrechtlerinnen, spontaneistischem Protest und den alltäglichen Taktiken des Sich-Entziehens als zentraler Teil der Überwachungskritik zu verstehen. Wie effektiv solche Aktionen sind, ob sie die forcierten Irritationen in der und das Erschrecken über die Normalität und Allgegenwart von Überwachung tatsächlich produzieren und so den Kreis der Widerständigen erweitern können, ist immer wieder hinterfragt worden.

Ob in einzelnen künstlerischen Projekten oder großen Veranstaltungen, wie bspw. in der Ausstellung „CTRL [SPACE]“ (2001/02) im ZKM Karlsruhe oder der Ars Electronica 2007 mit dem Titel „Goodbye Privacy“: Zeitgenössische Kunst beobachtet ebenfalls den aktuellen Übergang zur Überwachungsgesellschaft. Selbstverständlich ist die Vielfalt so groß wie die Begriffe Kunst und Überwachung weit sind. Ein politische Statements abfordernder Blick auf diese Arbeiten greift dabei zu kurz bzw. muss fast zwangsläufig enttäuscht werden. Dann muss eine Installation wie Bruce Naumans „Live/Taped Video Corridor“ (1969-70) wie ein Spiel mit dem Faszinosum Videoüberwachungskamera erscheinen, die eine schleichende Gewöhnung an die neue Technologie bewirkt. Begreift man sie aber als Raum eigener Reflexion, wird sie zum gedanklichen und körperlichen Experimentierfeld: Die Videoaufnahme, die das Bild vom Raum löst – Videoüberwachung kann man ja als Versuch, komplexe Räume in die Übersichtlichkeit zu zwingen, betrachten – verzerrt die Raumwahrnehmung zu einem komplexen Verwirrspiel.

Auch Jill Magids Projekt „Evidence Locker“ (2004), in dem sie den Beobachter an den Monitoren des Closed-Circuit-Überwachungssystems in Liverpool mittels Liebesbriefen dazu verführt, sie während ihres Stadtaufenthalts mit der Kamera überall hin zu verfolgen und die Aufnahmen zu speichern, mag Überwachungsgegnerinnen in ihrer Anbiederung unangenehm sein, gibt aber ein eindrückliches Bild der fast allgegenwärtigen Blickmaschine. Die Konnotationen von weiblichen Be- oder Überwachten und männlichem beschützenden aber auch voyeuristischen Blick, die hier sichtbar werden, geben Anlass, Überwachung verstärkt (post)feministischen Analysen und Kritiken zu unterziehen.

Das Feld zwischen Kunst und politischen Aktivismus ist durchlässig: Die New York City Surveillance Camera Players, eine Gruppe anarchistisch gesinnter Witzbolde, wurden mit ihren für Videokameras inszenierten Plakattheaterkurzfassungen von George Orwells „1984“ und anderen Stücken durch das Kunstsystem weltweit wahrgenommen. Die Radiogruppe LIGNA entwickelte aus politischen Aktionen, die das Medium Radio als Kommunikationsmittel nutzen, ihre Choreographien für Radiohörerinnen in öffentlichen Räumen. Während sich die Gruppe mittlerweile als Theatermacher Themen jenseits vordergründigen politischen Aktivismus erschließt, ist das von ihnen inspirierte Radioballett eine weitere Aktionsform für politische Kampagnen im öffentlichen Raum geworden.

Künstlerischer Umgang mit neuen Praktiken und Technologien der Kontrolle hinterfragt eingeübte Analysemuster und Kritikmetaphern („Der große Bruder“). Eine neugierige und kritische Betrachtung der Vielzahl von Kunstwerken könnte im besten Fall sowohl den Blick für probatere Kritikmodelle als auch neue Gegenstrategien öffnen.



Und nun?

Ein produktiv aufeinander bezogenes Neben- und Miteinander von verschiedenen überwachungskritischen Aktions- und Ausdrucksformen scheint angezeigt, um durch die Bestimmung von Schnittmengen gemeinsame strategische Projekte benennen und zusammen durchsetzen zu können. Themen gibt es auch aktuell genug: der EU-Zensus 2011, die neuen unsicheren Personalausweise, das schwache Arbeitnehmerinnendatenschutzgesetz, die Arbeitnehmerinnendatenerfassungsmaschinerie ELENA (elektronischer Entgeltnachweis), der Dauerbrenner Gesundheitskarte, die seit der Föderalismusreform stattfindenden Verschärfungen des Versammlungsrechts mit anstehenden weiteren Gesetzesnovellen auf Länderebene (Baden-Württemberg und Niedersachsen), die nach den Terrorwarnungen vom Herbst 2010 verstärkt angestrebte Neuauflage der Vorratsdatenspeicherung, die derzeit nur ausgesetzten Internetsperren, die Aneignung des virtuellen öffentlichen Raumes durch Google-Street-View für Werbe- und Profilingzwecke und vieles, vieles mehr. Die Auseinandersetzungen um Überwachung berühren weiter den Kern aktueller Vergesellschaftungsprozesse.



Zum Weiterlesen:

Leipziger Kamera (Hg.) (2009), Kontrollverluste. Interventionen gegen Überwachung, Münster: Unrast-Verlag. http://kontrollverluste.twoday.net



Ullrich, Peter; Lê, Anja 2010: Überwachungskritische Bilder, in: Matthias Rothe/ Falko Schmieder: Jenseits von Überwachung. Strategien der Kontrolle und ihre Kritik, Philosophische Gespräche 20, Berlin: Helle Panke e.V., S. 44-52.