Eltern, die Kinder pflegen, sind unsichtbar. Fehlende finanzielle und zeitliche Ressourcen lassen wenig Raum, um politisch wirksam zu werden - und für Selbstfürsorge. Interview mit Familia*Futura
Pflegende Eltern leisten viel, schlafen wenig, halten mit ihren Kindern die herausforderndsten Situationen aus – und das oft in stiller Unsichtbarkeit und Einsamkeit. Fehlende finanzielle und zeitliche Ressourcen lassen wenig Raum und Energie für Selbstfürsorge zu. Aber auch die – eigentlich so notwendige – politische Interessenvertretung und die Sichtbarmachung ihrer Anliegen ist unter diesen Bedingungen utopisch. Was brauchen pflegende Eltern von der Gesellschaft, um Pflege-, Sorge- und Erwerbsarbeit mit eigenen Bedürfnissen und Grenzen in Einklang zu bringen? Diesen Fragen beantwortet Familia*Futura.
Wie ist die Situation pflegender Eltern in Deutschland?
Da gibt es wenig andere Worte als „katastrophal“. Pflegende Eltern sind unsichtbar, sie sind Belastungen ausgesetzt, die weit über Elternschaft hinausgehen, sie führen Kämpfe gegen und mit der Bürokratie, sie verarmen durch Pflege, finden keine mit der Pflege zu vereinbarende Arbeit. Die Liste ließe sich endlos fortsetzen. Hinzu kommt, dass die Situationen so unterschiedlich sind. Je nach Art des Pflegebedarfs stellt sich die Lebenssituation und stellen sich auch die Probleme anders dar. Insbesondere bei seltenen Erkrankungen oder Behinderungen, die oftmals auch die schwereren Fälle sind, kommen Eltern teilweise in Situationen, die weder ethisch noch rechtlich vertretbar sind. Von ihnen wird teilweise erwartet, dass sie medizinische Maßnahmen übernehmen, für die sie nicht ausgebildet sind. Auch wird selbstverständlich davon ausgegangen, dass Eltern ihre Kinder ggf. palliativ pflegen – und das alles, ohne dass ihnen das Angebot einer psychologischen Begleitung gemacht würde.
Zudem fehlt es in der Pflege so oft an Personal und Kapazität, dass Eltern de facto oft die Arbeit des Pflegepersonals übernehmen. Sie machen einen weiteren Job neben ihrer Elternschaft, für den sie nicht bezahlt werden – und dadurch fehlt ihnen wiederum die Zeit für Erwerbsarbeit. Nach einer gewissen Zeit wird das Pflegegeld gekürzt mit der Begründung, dass die Pflege ja durch das System übernommen werde... Das funktioniert nicht. Meist handelt es sich um die Mütter, die so auf mehrfacher Ebene finanziell belastet und von Armut bedroht werden. Einige Eltern leben quasi im Krankenhaus, ohne dass Krankenhäuser dafür vorgesehen wären. Ein Familienzimmer gibt es für solche Fälle nicht, im Zweifelsfall wird eben auf einer Matte geschlafen.
Das alles erzeugt zudem eine enorme Einsamkeit und Isolation vom Rest der Gesellschaft.
Pflegende Eltern werden weder in der Familien- noch in der Pflegepolitik ausreichend berücksichtigt. Ihre Belastungen sind hoch. Welche Ziele müssen jetzt angegangen werden?
Die Petition #MehrAls28Tage macht einen wesentlichen Schritt. Es braucht unbedingt eine bessere finanzielle Absicherung für pflegende Eltern, d.h. konkret eine Fortzahlung des Pflegegeldes nach dem 28. Tag eines stationären Aufenthaltes.
Die Bürokratie muss vereinfacht werden, um überhaupt an Pflegeunterstützung zu kommen. Das erfordert übermäßig viel Zeit und Kraft. Allein an dieser Hürde scheitern Menschen.
Viele Probleme, die wir auf einer übergeordneten strukturellen Ebene haben, schlagen sich bei pflegenden Eltern besonders nieder. Der Mangel an Pflegepersonal und das überlastete Gesundheitssystem resultieren in ständig wechselndem Personal und fehlendem Wissenstransfer und so brechen einmal geschaffene Strukturen für Eltern immer wieder zusammen und man fängt von vorne an. Hier braucht es Kontinuität und Langfristigkeit.
Außerdem müssen wir beginnen zu verstehen, dass Kinderbetreuung und medizinische Versorgung zusammen gedacht werden, auch auf Ebene der Einrichtungen. Eltern und Kinder verbringen wahnsinnig viel Zeit im Krankenhaus, der Ort wird zum Lebensraum, ist aber darauf nicht ausgelegt. Da wäre es wichtig, die Institutionen an die Lebensrealitäten anzupassen.
Welche Allianzen braucht es auf politischer, gesellschaftlicher und feministischer Ebene, um wirkmächtig zu werden?
Es braucht Begegnung und Wissensaustausch, sowohl ganz praktisch als auch gegen die Einsamkeit. Pflegende Eltern haben keine Kapazitäten, um auch noch Strukturen für diese Vernetzung untereinander aufzubauen und aufrecht zu erhalten. Da wäre eine solidarische Netzwerkkultur, die Anlässe und Begegnungsräume – insbesondere online – schafft, Gold wert. Familia*Futura ist hier ein kleines Beispiel. Wenn das öfter, vielerorts und durch mehrere Allianzen getragen würde, wäre schon viel geholfen. Gerade jene Eltern, die Kinder mit seltenen Erkrankungen haben, brauchen den Austausch mit Menschen, die das gleiche erleben wie sie. Diese Menschen wohnen aber ganz oft sehr weit weg und man weiß nichts voneinander.
Nicht zuletzt braucht es auch Repräsentation und Lobbyarbeit. Aufgrund der hohen Belastungen können pflegende Eltern oft nicht am öffentlichen Leben teilhaben, geschweige denn politische Arbeit machen. Da ist es wichtig, dass die Öffentlichkeit überhaupt wahrnimmt, dass es pflegende Eltern gibt.
Über Familia*Futura: Familia*Futura ist ein Festival für Familien-Vielfalt und Fürsorge-Utopien, dass 2018 zum ersten mal in Dresden stattfand. Danach folgte 2019 ein Aktionstag in Leipzig, 2020 ein Online-Festival und 2021 eine Online-Veranstaltungsreihe zu intersektionaler Veranstaltungsplanung zum Beispiel mit Schulungen zu leichter und gender sensibler Sprache.
Unser Ziel ist es, mehr Sichtbarkeit für Menschen in diversen Familienverbünden und ihre Bedürfnisse herzustellen und gemeinsam Strategien zu entwickeln, die Familien aller Art emotional stärken und ökonomisch entlasten.