Menschen werden an dem gemessen, was sie können: sprechen, sehen, laufen, sozial interagieren. Menschen mit Behinderung entsprechen den normierten Vorstellungen, was Menschen können und leisten müssen, nicht. Sie werden auf ihre Beeinträchtigung reduziert und in eine Schublade gepackt. In dieser Schublade stecken sie fest – mit Erfahrungen von Ungleichbehandlung, Grenzüberschreitungen und stereotypen Zuweisungen, also mit allen Diskriminierungen, mit denen sie sich täglich auseinandersetzen müssen.
Die Diskriminierung von Menschen mit Behinderung heißt Ableismus. Im Interview spricht Alina Buschmann darüber, was dieser Begriff genau bedeutet, inwiefern wir alle ableistisch sind und wie das mit der Lebensrealität behinderter Menschen zusammenhängt.
Wir leben in einem System, ohne eine passende Schublade für mich, deswegen habe ich mir eine eigene Schublade gebaut, bis wir keine Schubladen mehr brauchen. // Alina Buschmann
Was ist Ableismus und woher kommt der Begriff?
Ableismus ist die strukturelle Diskriminierung von behinderten und/oder chronisch kranken Menschen. Der Begriff kommt vom englischen "to be able to", also fähig sein etwas zu tun. Bei Ableismus handelt es sich um ein System, in dem gewisse Fähigkeiten, wie z.B. gehen, sehen oder hören als essenziell angesehen werden. Ein System, in dem Menschen nur etwas wert sind, wenn sie Leistung erbringen. In unserem ableistischen System gelten behinderte und/oder chronisch kranke Menschen als „unvollständig“ und „kaputt“, weil sie nicht der vermeintlichen "Norm" entsprechen.
Ableismus wird häufig mit Behindertenfeindlichkeit gleichgesetzt - das ist so nicht richtig. Die strukturelle Diskriminierung von behinderten Menschen geht über die reine böswillige und feindliche Handlung hinaus.
Was versteht man unter abwertenden bzw. aufwertenden Ableismus?
Es wird oft angenommen, dass Diskriminierung ausschließlich abwertend gemeint sein muss. Dabei hören behinderte Menschen sehr oft den Satz: „Die Person hat das bestimmt nicht böse gemeint“. Auch vermeintlich nett gemeinte Äußerungen können diskriminierend sein. "Für eine behinderte Person kannst du echt gut singen", kann z.B. ein ernst gemeintes Kompliment sein, wertet aber gleichzeitig behinderte Menschen ab, weil es impliziert, dass die Person davon ausgeht, dass behinderte Menschen nicht singen können. "Du kannst echt gut singen", wäre ein tatsächliches Kompliment.
Viele Äußerungen, die auf den ersten Blick nicht diskriminierend erscheinen, implizieren, dass das Leben mit Behinderung das Schlimmste ist, was Menschen passieren kann. Deswegen sind sie, wenn wir sie genau betrachten, gar nicht aufwertend.
Warum sind wir alle ableistisch?
Wir sind alle ableistisch sozialisiert. Das bedeutet ableistische Denkweisen sind fest in unserer Gesellschaft verankert und wir sind alle mit ihnen aufgewachsen. Behinderung ist also nicht das wertfreie, neutrale Merkmal, was es sein sollte, sondern mit negativen Vorurteilen besetzt, die wir, kollektiv verlernen müssen. Das ist aktive Arbeit, die wir alle leisten können und müssen, um unsere Gesellschaft inklusiver zu gestalten. Es ist an uns anzuerkennen, dass unsere gesellschaftlichen Strukturen voll von Ableismus sind, den wir abbauen müssen.
Welchen Einfluss hat ableistisch sein auf die Lebenswelt von behinderten Menschen?
Diskriminierung ist gewaltvoll. Alle kleinen und großen ableistischen Erfahrungen, die behinderte Menschen machen, machen etwas mit uns. Dabei hört es allerdings nicht bei verletzenden Erfahrungen, z.B. im familiären Umfeld, auf. Ableismus ist fest in unseren Strukturen verankert und hat immer Einfluss auf die Lebensumstände von behinderten Menschen. So können viele behinderte Menschen nicht selbstbestimmt entscheiden, wo und wie sie leben und/oder arbeiten. Behinderte Menschen haben schlechtere Chancen auf dem Arbeitsmarkt, ein höheres Risiko von Armut betroffen zu sein und sind, vor allem wenn sie in Einrichtungen wohnen und/oder arbeiten, häufiger Gewalt ausgesetzt.
Teilhabe ist ein Menschenrecht. Wenn behinderte Menschen dieses Recht einfordern, werden sie oft als "zu anstrengend", "zu laut" und "zu teuer" bezeichnet. Es ist leider immer noch Teil unseres Alltags, dass wir für Teilhabe in jeglicher Form kämpfen müssen. Wenn ich sage "Behinderte Menschen brauchen Rechte!", meine ich Rechte, die wir umsetzen können und nicht noch mehr Gutachten, die meinen, über unsere Lebensrealität entscheiden zu können.
ALINA BUSCHMANN ist Aktivistin, Beraterin und Schauspielerin. Als @dramapproved klärt sie bei instagram zum Thema Inklusion und Antidiskriminierung auf.
TIPP: In Deutschland haben offiziell ca. 10% der Menschen einen Schwerbehindertenausweis, warum deutlich mehr Menschen behindert sind, erfahren Sie hier: https://www.angrycripples.com/ab-wann-bin-ich-behindert