Das war der Fachtag am 10. Juni 2022 in Chemnitz
Die politische Bildung soll heute für Vieles herhalten. Sie soll die Demokratie retten, über Rassismus, Antisemitismus, Antifeminismus, Nationalismus oder Verschwörungsideologien aufklären und Menschen einen Raum für die kritische Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Fragestellungen eröffnen.
Aber: Was ist eigentlich Bildung? Was ist kritische Bildung? Und warum ist kritische Bildung politisch? Seit März 2018 diskutieren Mitglieder des Arbeitskreises kritische politische Bildung (AK krPoBi) verschiedene Themen in Bezug auf ihre eigene Tätigkeit als politische Bildner*innen: Wo finden wir hinter den vielen Ansprüchen an die politische Bildung den Kern, die Fähigkeit zur Kritik und unsere Aufgabe Kritik lernen zu denken und zu formulieren?
Welche Konsequenzen hat Kritik auf die Themen, die wir bilden, die Zugänge für Interessierte und welche Formate genügen der Kritischen Bildung?
Zu diesen Fragen tauschte sich 55 Engagierte aus sächsischen Vereinen und Institutionen auf dem Fachtag „Politische Bildung und Kritik“ des AK krPoBi am 10. Juni 2022 im Chemnitzer Weltecho aus.
Der Rückblick auf den Fachtag in Audio
Ein auditiver Rückblick von Jolande Fleck (Radio Corax / rabanradio.com) auf den Fachtag „Politische Bildung und Kritik“, der am 10. Juni 2022 in Chemnitz stattfand. Zu Wort kommen Sophie Spitzner und Stephan Conrad von der AG Geschichte vom Treibhaus Döbeln, Solvejg Höppner vom Kulturbüro Sachsen und Gunda Ulbricht vom HATiKVA, der Bildungs- und Begegnungsstätte für jüdische Geschichte und Kultur Sachsen – alle aus dem AK krPoBi.
Die Impulse
Nach einer kurzen Begrüßung von Susanne Voigt (HATiKVA e.V.) und Susanne Gärtner (riesa efau. Kultur Forum Dresden) aus dem AK kriPoBi konnten sich die Teilnehmenden im Weltecho auf die Suche nach „Fundstücken“ zu politischer Bildung machen und darüber ins Gespräch kommen.
Situierte Kritik – Bildung in Gegenwartsverhältnissen
Danach führte Astrid Messerschmidt von der Bergischen Universität Wuppertal in ihrem digitalen Impuls „Situierte Kritik – Bildung in Gegenwartsverhältnissen“ aus, warum Kritik – und auch Kritik in der politischen Bildung – nie kontextlos artikuliert und begründet werden kann: Sie sei immer bedingt von den gesellschaftlichen Verhältnissen der Subjekte. Messerschmidt skizzierte die Ausgangsbedingungen dieser immanenten Kritik hinsichtlich globaler Ungleichheits- und Gewaltverhältnisse und ordnete sie in den zeitgeschichtlichen Zusammenhang der postnationalsozialistischen deutschen Gesellschaft ein. Dort komme das Politische der Bildung als zeitgemäße Rassismuskritik in der Migrationsgesellschaft und als Antisemitismuskritik in reflektierten Geschichtsbeziehungen zum Ausdruck. Dem liege ein Verständnis von Kritik zugrunde, mit dem das eigene Involviertsein in Ungleichheitsverhältnisse und verdrängte Verantwortung angesprochen wird. Deshalb eigne sich für diese Kritik auch nicht der Begriff des Widerstandes, was im Vortrag ausgeführt wurde.
Der Impuls kann in ganzer Länge hier nachgehört werden.
Rohstoff und Utopie kritischer Bildung
Nach einer kurzen Kaffeepause griff Uwe Hirschfeld in seinem Impuls „Rohstoff und Utopie kritischer Bildung“ diesen Faden auf. Da gesellschaftliche Strukturen und Lebensweisen im Alltagsverstand zu individuellen und kollektiven Praxen verschmelzen, in denen der „Rohstoff des Politischen“ (Negt/Kluge) verarbeitet wird, müsse Bildung die Elemente des Alltags kritisch aufgreifen und eine Reflexion bestehender und möglicher Handlungsoptionen anbieten. Die Auseinandersetzung mit Macht- und Herrschaftsverhältnissen sei dabei unumgänglich. Sie sollte selbstkritisch geführt werden, um die eigenen Verstrickungen kenntlich zu machen. Daher sei die Entwicklung von Utopien sowohl in der Sache, wie im Prozess, eine mehrfache Herausforderung.
Der Impuls kann in ganzer Länge hier nachgehört werden.
In der anschließenden Mittagspause nutzten die Teilnehmenden beim leckeren veganen Imbiss vom Subbotnik Chemnitz die Möglichkeit, die theoretischen Impuls des Vormittages weiter zu diskutieren.
Die Arbeitsgruppen-Phase
Danach ging es in die Arbeitsgruppen-Phase. In fünf AGs widmeten sich die Teilnehmenden ganz praktischen Fragen der kritischen politischen Bildung:
A) Geschichte und Bildung
Sophie Spitzner und Stephan Conrad von der AG Geschichte vom Treibhaus Döbeln luden die Teilnehmenden in der AG „A) Geschichte und Bildung“ ein, sich über die Potenziale von historischen Quellen und Dokumenten für die politische Bildung auszutauschen. Anhand ausgewählter Beispiele aus ihrem aktuellen Forschungsprojekt zur Rolle der Landesheil- und Pflegeanstalt Hochweitzschen im NS wurde diskutiert, wie kritische Zugänge zu historischen Quellen erfolgen und diese ausgewertet werden können. Wie kann dieses Material für die politisch-historische Arbeit nutzbar gemacht werden? Welche Chancen aber auch Herausforderungen bietet die Arbeit mit historischen Dokumenten? Diese Fragen wurden von den Teilnehmenden angeregt diskutiert.
B) (Wie) Ist kritische politische Bildung planbar?
„Subjektorientierung“ ist ein zentraler Begriff in der (kritischen) politischen Bildung. Indes sind Verständnisse vom „Subjekt“ vielfältig und theoretische Perspektiven stehen häufig im Widerspruch zu Ressourcen und Bedingungen der Praxis sowie der Notwendigkeit der Planung von Angeboten. Die AG „(Wie) Ist kritische politische Bildung planbar?“ von Constanze Berndt und Uwe Hirschfeld (i.R.) von der Evangelische Hochschule Dresden widmete sich diesem Spannungsfeld:
Wie verstehen wir Subjekt und Subjektorientierung? Welche didaktischen bzw. planerischen Konsequenzen ergeben sich daraus? Und wie können Angebote der kritischen politischen Bildung trotz praktischer Begrenzungen und Anforderungen subjektorientiert gestaltet werden?
Ausgehend von den Erfahrungen und Sichtweisen der Teilnehmenden wurden diese Fragen und Voraussetzungen für eine subjektorientierte kritische politische Bildung diskutiert.
C) Emotionen über Emotionen – Nutzen wir sie!
In einer Welt, in der Krise auf Krise, Parole auf Parole folgt, gilt es zu Entflechten, um nicht „politisch abzuschalten“ oder im Burn-Out zu enden. Und mit dem kognitiven Verstehen von historischen und politischen Ereignissen ist es ganz sicher nicht alleine getan. Die AG von Susanne Gärtner vom riesa efau. Kultur Forum Dresden und Kristina Krömer von Metro_polis aus Dresden widmete sich ganz dem Potenzial und der Bedeutung von Emotionen in der politischen Bildung und im politischen Handeln. Denn sie sind Motor für Transformation: Nur für das, was mich bewegt, bin ich bereit, mich mit anderen zu bewegen. Was es heißt, Emotionen als Schlüssel zu Bedürfnissen und letztlich nachhaltigen Handlungsformen zu begreifen, konnten die Teilnehmenden im Workshop ganz praktisch ausprobieren. Dabei bezogen sich die Referent*innen vor allem auf den tiefenökologischen Ansatz von Joanna Macey und betrachteten sich selbst als Lernende in einem weiten Feld der politischen Bildung.
D) „Wes Brot ich ess, des Lied ich sing …“ Wie (un-)abhängig sind wir?
Bei politischen Bildner*innen können zwischen dem Rechts- und Wertesystems des Berufs und den eigenen Interessen und Idealen leicht Widersprüche und Konflikte entstehen. Die Vergabe von Fördermitteln im Bereich der politischen Bildung ist in der Regel an Bedingungen geknüpft. Vor welchen Herausforderungen stellt das die kritische politische Bildung? Und welche Möglichkeiten haben Bilder*innen zwischen finanzieller Abhängigkeit und kritischer Praxis? Diesen Fragen widmete sich die AG „Wes Brot ich ess, des Lied ich sing…“ von Solvejg Höppner (Kulturbüro Sachsen) und Gunda Ulbricht (HATiKVA).
F) Krieg und kritische politische Bildung
Der Krieg Russlands gegen die Ukraine schockierte in breiten Teilen der Gesellschaft. In den deutschen Medien streitet man sich über Waffenlieferungen und die Verantwortung Deutschlands und schmeißt nur so mit Schlagworten um sich. In der AG “Krieg und politische Bildung“ von Madeleine Weis (HATiKVA) bot der Impuls zur Machnowtschina von Martin Veith vom Institut für Syndikalismusforschung einen anderen Blickwinkel und historischen Bezugsrahmen. Anschließend gab es Raum für die Teilnehmenden, frei vom Zwang schon eine klare Meinung zu haben, trotzdem eine Debatte zuführen.
All diese Aspekte der kritischen politischen Bildung wurden nach einer Kaffeepause in einer fishbowl-Diskussion mit Jana Truman von der Universität Duisburg-Essen (UDE) und einer Feedbackrunde zusammengeführt.
Im Anschluss bot sich allen die Gelegenheit, den sehr intensiven Fachtag in entspannter Atmosphäre ausklingen zu lassen. Beim Netzwerken in der Abendsonne – und zu den beschwingten Klängen der Schallplattendisko vom Augen auf – Zivilcourage zeigen e.V.
Eine Kooperationsveranstaltung des AK kritische politische Bildung Sachsen, des riesa efau. Kultur Forum Dresden e.V., des Netzwerks Tolerantes Sachsen, Weiterdenken – Heinrich-Böll-Stiftung Sachsen e.V. und Rosa-Luxemburg-Stiftung Sachsen e.V.