Neue tschechische Regierung: Erste Stolpersteine nach hoffnungsvollem Start

Hintergrund

Die Hoffnung auf eine progressive Wende nach der populistischen Vorgängerregierung von Andrej Babiš war groß. Wie fällt die Bilanz der ersten Schritte der neuen tschechischen Regierung aus?

Die Wahlen im Herbst führten in Tschechien zu einem unerwarteten Machtwechsel. Das neue, aus fünf Parteien bestehende liberal-konservative Kabinett von Premierminister Petr Fiala war von Anfang an für manche in Europa ein neuer Hoffnungsträger. Attribute der Vorgängerregierung von Andrej Babiš wie sein ungebremster Populismus in Sachen Klima oder Migration, sein eiskalter Opportunismus in der Europa- und Außenpolitik, die Verflechtung von wirtschaftlicher, politischer und medialer Macht sollten durch eine pro-europäische und wertegeleitete Politik ersetzt werden, die sich den ehemaligen Staatspräsidenten Václav Havel zum Vorbild nimmt. Kritiker:innen warnten wiederum vor einer konservativen Wende im neoliberalen Gewand, welche die Spaltung der Gesellschaft vorantreibt, die sozial Schwächeren weiter an den Rand drängt und den Weg für ein Comeback von Babiš bereitet. Ist mehr als zwei Monate nach der Amtsübergabe von diesen unterschiedlichen Szenarien im Land bereits etwas zu spüren?

Die Regierungserklärung hatte Hoffnungen auf eine progressive Wende zunächst bestätigt. Das neue Kabinett, bestehend aus dem konservativen Bündnis SPOLU (Bürgerdemokraten – ODS und Christdemokraten – KDU-ČSL) und dem liberalen Bündnis PirSTAN (Piraten, Bürgermeister und Unabhängige) kündigte einen Ausbau der erneuerbaren Energien, früheren Ausstieg aus der Kohle, eine Stärkung der Beziehungen zur EU und NATO sowie eine Revision der China- und Russlandpolitik an. Gleich zu Beginn bestand die Regierung ihre erste Feuertaufe, als Staatspräsident Zeman die Regierungsernennung blockierte, weil er den Piraten Jan Lipavský nicht zum Außenminister ernennen wollte. Zeman missfiel vor allem Lipavskýs angeblich distanzierte Haltung gegenüber der Visegrád-Gruppe und Israel, er zweifelte seine Qualifikation an und bediente sich sogar in der anti-sudetendeutschen Mottenkiste, als er Lipavskýs ältere Aussage in Erinnerung rief, er könne sich einen Sudetendeutschen Tag auf tschechischem Boden vorstellen. Als Premier Fiala (ODS) jedoch drohte, die Zuständigkeiten des Präsidenten bei Ernennungen durch das Verfassungsgericht prüfen zu lassen, gab Zeman schließlich nach.

Atomkraft und Kohle? Ja, bitte!

Nach einem gelungenen Auftakt bekam das positive Image der Regierung jedoch die ersten Risse. Als das Industrie- und Handelsministerium unter dem neuen Minister Jozef Síkela (STAN) den Entwurf einer Regierungsverordnung im Energiebereich präsentierte, der im Gegenzug zu den Wahlversprechen der Parteien sowie zur Regierungserklärung statt auf Photovoltaik und Windenergie auf Erdgas und Kohle setzte, hagelte es Kritik nicht nur aus den Reihen der Klimabewegung. Kurz darauf schlug sich die Regierung bei dem Beschluss der Europäischen Kommission, Atomkraft als „grüne“ Energiequelle einzustufen, auf die Seite Frankreichs und Polens und forderte sogar eine weitere Lockerung der Verordnung: Atomkraftwerke sollten der tschechischen Regierung zufolge nicht nur übergangsweise, sondern langfristig als emissionsarm eingestuft werden. Für ein Eklat sorgte diese Forderung kaum – sie steht im Einklang mit den langfristigen Positionen der Regierungsparteien zur Atomkraft, wobei sie auch die Mehrheit der tschechischen Bevölkerung auf ihrer Seite wissen.

Auf weniger festen Boden begab sich Fialas Kabinett jedoch mit seinen Schritten im Fall Turów – der Kohlegrube auf der polnischen Seite der Grenze zwischen beiden Ländern. Die im naheliegenden Kraftwerk verbrannte Kohle aus Turów sorgt nicht nur für starke Umweltverschmutzung im deutsch-polnisch-tschechischen Dreiländereck, der Bergbau gräbt den Einwohnern auf tschechische Seite auch das Grundwasser ab, weshalb Tschechien beim EU-Gerichtshof gegen Polen klagte und einen Abbaustopp forderte. Als die Regierung den jahrelangen Streit in einer nicht-öffentlichen, nächtlichen Verhandlung mit der polnischen Gegenseite plötzliche beendete und gegen eine Entschädigung von 1 Milliarde Tschechischer Kronen (45 Millionen Euro) auf weitere Forderungen verzichtete, kam dies für viele Tschech:innen einem Verrat gleich. Die Regierung habe ihr Wasser verkauft, und sie schere sich nicht um die Sorgen und Nöte der Bevölkerung in der Peripherie, kritisierten viele - es folgten Kundgebungen und Proteste. Noch von der Oppositionsbank forderten mehrere der aktuellen Regierungsmitglieder einen Abbaustopp in Turow und lehnten jede Lösung, die den Zugang der Einwohner zu Wasser einschränken würde, aufs Schärfste ab. „Die ökonomischen Interessen Polens dürfen nicht über dem Schicksal auch nur eines einzigen tschechischen Brunnens stehen“, tweetete beispielsweise vor zwei Jahren die Vorsitzende der liberal-konservativen TOP09 Markéta Pekarová Adamová. Inzwischen ist sie Vorsitzende des tschechischen Abgeordnetenhauses und verteidigt das Abkommen mit Polen.

Außenpolitik: Was würde Václav Havel sagen?

Wo sieht sich Tschechien im weltpolitischen Zusammenspiel von Großmächten, aber auch in Bezug auf seine Partner und Nachbarn in Europa? Außerhalb des Landes hört man nur selten etwas darüber, was nicht nur an seiner überschaubaren Größe, sondern auch an der Ambivalenz der außenpolitisch relevanten Schlüsselfiguren und -institutionen liegt. Ministerpräsident, Außenminister, Staatspräsident – alle ziehen an unterschiedlichen Strängen, oft in gegensätzliche Richtungen. Staatspräsident Zeman wollte das Land in der Vergangenheit näher an Russland und China rücken, Außenminister Petříček gen EU und Westen, Ministerpräsident Babiš nutzte die Außenpolitik zumeist nur als große Bühne für seinen innenpolitischen Auftritt.

Die neue Regierung hingegen hatte sich vorgenommen, mit dieser unrühmlichen „Tradition“ zu brechen und klar mit einer Stimme zu sprechen. Ihre außenpolitische Orientierung sollte dabei nicht nur Premierminister Fiala und Außenminister Lipavský folgen, sondern auch den Geist von niemand Geringerem als dem ersten postsozialistischen Präsidenten, dem Menschenrechtsaktivisten und Dramatiker Václav Havel wieder zum Leben erwecken. „Wir werden die Tradition der ‘Havelschen‘ Außenpolitik inklusive Unterstützung der Entwicklungs- und Transformationszusammenarbeit erneuern“, kündigen die fünf Parteien in ihrer gemeinsamen Regierungserklärung an. Selbst ohne eine nähere Erklärung, was ‚Havelsche Außenpolitik‘ für die Regierung angesichts heutiger weltpolitischer Herausforderungen bedeutet, hat diese Ankündigung viele Hoffnungen auf eine stärker menschenrechtsorientierte, wertebasierte Politik geweckt, die über ihre eigene Nasenspitze hinauszublicken vermag. Als der bereits erwähnte Pirat Lipavský zum Außenminister ernannt wurde, sahen sich viele aufgrund seiner früheren Positionen sowie des Programms seiner Partei in dieser Hoffnung bestätigt.

Die Verabschiedung des Staatshaushalts und die umfassenden Kürzungen brachten jedoch schon bald eine Ernüchterung: Ausgerechnet die geplanten Ausgaben für humanitäre Hilfe sanken um ein Viertel, für die Entwicklungszusammenarbeit um ein Fünftel. Der Kernbereich der Demokratieförderung im Ausland, die sogenannte Transformationszusammenarbeit, blieb zwar vorerst vor den Kürzungen verschont, das Budget war jedoch schon unter der Vorgängerregierung Babiš zusammengestrichen worden. Und bereits vor diesen Kürzungen hatte Tschechien seine Selbstverpflichtung in puncto Finanzierung der Entwicklungszusammenarbeit weit verfehlt.

Bleibt es auch in den weiteren außenpolitischen Schritten der Regierung nur bei schönen Worten, oder werden auch Taten folgen? Der Ukraine bietet Tschechien immerhin nicht nur eine verbale, sondern auch durchaus reale Unterstützung an: Munitionsspenden, Behandlung verwunderter Soldaten und Aufnahme ukrainischer Kriegsgeflüchteter. Auch nach Peking hat die tschechische Regierung, wie auch andere Staaten, keine Vertreter oder Vertreterinnen geschickt – durch diesen olympischen Boykott nimmt sie sich wohl selbst bei ihrem Versprechen beim Wort, die Beziehungen Tschechiens zu China zu revidieren. Es bleibt zu hoffen, dass die Regierung auch weiterhin geradesteht, wenn der Ostwind stärker bläst. Mit Staatspräsident Zeman, der sowohl die Haltung der Regierung im Ukrainekonflikt als auch den olympischen Boykott öffentlich kritisiert, ist jedenfalls aus dieser Richtung keine Unterstützung zu erwarten. 

Welche Rolle das Visegrád-Bündnis in der Regierungspolitik spielen wird, bleibt noch abzuwarten. Einerseits gibt es vor allem in der ODS auch Bewunderer der ungarischen und polnischen Machthaber, die ihre Skepsis gegenüber der EU und der liberalen, menschenrechtsorientierten Politik durchaus teilen. Andererseits zeigt die aktuelle Krise um den drohenden Einmarschs Russlands in die Ukraine, dass die Visegrád-Vier durchaus kein einheitlicher Block sind, wie es manchmal nach außen zu sein scheint: die Verbündeten Polen und Ungarn gehen unterschiedliche Wege, plötzlich stehen nicht Morawiecky und Orbán, sondern Morawiecky und Fiala auf der gleichen Seite.

In Bezug auf Europa ist trotz der teils EU-skeptischen Haltung von Fialas Partei durchaus Bewegung zu erwarten. Die tschechische Präsidentschaft im Europarat in der zweiten Hälfte 2022 wird Europa in den Mittelpunkt rücken und trotz der kritischen Stimmen wegen des zu kleinen Budgets und zu späten Beginn der Vorbereitungen ist zu erwarten, dass die Regierung sich während der Präsidentschaft als konstruktiver Partner präsentieren will. Ein erstes Zeichen dafür ist die Wiedereinrichtung des Europaministerpostens, der mit dem Senatsmitglied Mikuláš Bek (STAN) besetzt wurde.

Familie und Tradition – aber ohne Gewalt?

Gleich zu Beginn ihrer Amtszeit hat die Regierung angekündigt, die Bezeichnung „Ministerium für Arbeit und Soziales“ um den Begriff „Familie“ erweitern zu wollen. Doch welches Bild von Familie verbirgt sich dahinter und wie geht die Regierungserklärung auf die Bedürfnisse von Familien ein? Das Verständnis von Familie unterscheidet sich zum Teil elementar zwischen den beiden Regierungsbündnissen, dem konservativen SPOLU und dem liberalen PirSTAN. Bei dieser Frage scheinen sich die konservativen Parteien eher durchgesetzt zu haben: Die seit Jahren diskutierte Ehe für alle schaffte es nicht in das Regierungsprogramm, obwohl die Piratenpartei und STAN in ihrem Wahlprogramm dafür plädierten. Es bleibt bei dem Recht auf eingetragene Partnerschaften. Im Vergleich zur  ultrakonservativen Politik etwa in Polen mit seinen LGBTIQ-freien Zonen oder in Ungarn, das in seiner Verfassung die Ehe als „Bund von Mann und Frau“ definiert, mag die Situation queerer Menschen in Tschechien als sehr positiv erscheinen. Doch in einem Land, in dem die Mehrheit der Bevölkerung die Ehe für alle befürwortet, ist diese Vertagung eindeutig ein Rückschritt.

Auf Familie scheint die Regierung wert zu legen, das Regierungsdokument enthält dazu viele Punkte. Eine zentrale Maßnahme für die Entlastung von Familien und bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf feht darin jedoch: verfügbare Kitaplätze für Kinder ab zwei Jahren. Und während die Regierung kaum Antworten darauf gibt, wie Kommunen Betreuungsangebote für die Kleinsten finanzieren sollen, hat der neue Familienminister und fünffacher Vater Marian Jurečka (KDU-ČSL) offenbar eine konkrete Meinung darüber, wie er sich die Kindererziehung vorstellt. In einem Fernsehinterview Ende Januar äußerte der Christdemokrat, er habe nicht vor, Körperstrafen von Kindern zu verbieten. Während er Gewalt gegen Kinder ablehne, könnten einmalige Ohrfeigen manchmal helfen, einem Kind die Grenzen aufzuzeigen. Tschechien bleibt damit wohl – entgegen eindeutigen Expertenmeinungen, die keine positiven, aber viele negativen Folgen solcher „Erziehungsmethoden“ sehen – weiterhin eines der letzten Länder in Europa, in denen man seine Kinder legal schlagen darf.

Nicht nur Kinder brauchen besonderen Schutz – auch um sexualisierte und häusliche Gewalt gegen Frauen zu unterbinden, bedarf es entschlossener Politiker:innen, die das Problem erkennen und anpacken. Obwohl sich die neue Regierung im Allgemeinen in ihrer Regierungerklärung dazu bekennt, einen wichtigen Schritt in diese Richtung zu tun, hat sie diesen gleich am Anfang verpasst: die Ratifizierung der Istanbul-Konvention. Die tschechische Debatte über das Dokument zieht sich seit Jahren und je länger sie dauert, desto mehr wird sie zum Gegenstand von Desinformationen und Kulturkämpfen. Gegner:innen der Konvention – darunter auch Politiker:innen von einigen der regierenden Parteien – behaupten, dass die Konvention darauf abziele, die Gesellschaft mit der sogenannten Genderideologie zu indoktrinieren und traditionelle Familienwerte zu stören. Nicht sehr überraschend ist daher die Entscheidung des neuen Justizministers Pavel Blažek (ODS), die Ratifizierung der Istanbul-Konvention um ein weiteres Jahr zu vertagen. Die sexualisierte und häusliche Gewalt ist dabei – nicht nur in Tschechien – nach wie vor ein unterschätztes Problem und hat während der Covid-19-Pandemie weiter zugenommen.

Die Mär vom hochverschuldeten Staat

So scheint die Regierung bisher vor allem eine ihrer angekündigten Prioritäten konsequent und ohne Abstriche zu verfolgen: die Sparpolitik. Das Gespenst der Staatsverschuldung hat sich spätestens seit der Griechenland-Krise in den Köpfen tschechischer Politiker rechts der Mitte eingelebt – das Land steht aus ihrer Sicht immer kurz davor, in den Abgrund zu stürzen. Dabei ist Tschechien in dieser Hinsicht ein Musterschüler: mit einer Staatsverschuldung von rund 40 Prozent des BIP Ende 2021 – trotz Pandemie, Steuersenkungen und Erhöhung des Staatsausgaben unter der Babiš-Regierung – gehört es zu den am wenigsten verschuldeten Ländern Europas.

Das einzige Rezept, um die Staatsschulden zu tilgen, scheint für die liberal-konservative Regierung das Sparen zu sein, wobei sie wirtschaftsfördernde und nachhaltige Maßnahmen intelligenter Staatsausgaben aus den Augen verliert. Statt auf höhere oder neue Steuern zu setzen, will sie beim eigenen Personal sparen: die Gehälter der Staatsangestellten werden nicht inflationsbereinigt, die der Beamten direkt eingefroren. Dabei kann der Staat als Arbeitgeber schon lange in der Konkurrenz um Fachpersonal nicht mit dem privaten Sektor mithalten. Angekündigte Sparmaßnahmen sollen auch das durch die Pandemie gebeutelte Gesundheitswesen treffen. Das aufgebrachte medizinische Personal droht mit Streiks. Solche und andere Kürzungen wie die Abschaffung von Vergünstigungen der Fahrpreise im öffentlichen Verkehr für Senior:innen und Studierenden, sind dabei für den Staatshaushalt nur ein Tropfen auf den heißen Stein, aber für die wirtschaftlich Schwächeren durchaus spürbar.

Viel mehr als der ohne Not eingeschlagene Kurs der Sparpolitik, würden den durch die Pandemie, die Inflation sowie die steigenden Energiepreise und Mieten gebeutelten Tschech:innen die längst fälligen Investitionen in die Bildung, Gesundheitswesen, Soziales, nachhaltige Energiewirtschaft und sozial-ökologischen Umbau nützen. Wenn die Regierung es versäumt, hier konstruktivere Ansätze zu finden, kann es sie im Handumdrehen das hart gewonnene Vertrauen kosten – auch das Narrativ vom hochverschuldeten Staat, der aus der Kurve rast, wenn man nicht sofort die  Schuldenbremse durchtritt, wird das nicht verhindern können. Schon jetzt lauern die Konkurrenten, um bei den kommenden Wahlen die Versäumnisse der Regierung auszuschlachten: Ex-Premierminister Babiš hat bereits angekündigt, dass er am Rennen um die Nachfolge von Staatspräsident Zeman in 2023 teilnehmen könnte.