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Europäische Antworten auf die Corona-Krise: „Es geht um unser Zukunftsmodell“

Interview

Unsere Brüsseler Büroleiterin Eva van de Rakt sprach mit den grünen Europaabgeordneten Ska Keller und Sven Giegold, der Direktorin der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik Daniela Schwarzer und Michael Peters, Referent für Finanzmärkte bei der Bürgerbewegung Finanzwende, über die Auswirkungen der Covid-19-Pandemie, die Rolle der europäischen Institutionen und die Herausforderungen für die deutsche EU-Ratspräsidentschaft.

Eva van de Rakt: Der Umgang mit der Covid-19-Pandemie hat viele Fragen zur Zukunft des europäischen Projekts aufgeworfen. Wie bewertet Ihr das bisherige Krisenmanagement der EU-Institutionen und Mitgliedstaaten? Was hat es Eurer Meinung nach gezeigt?

Ska Keller: Gerade am Anfang hat eine europäische Koordinierung gefehlt, was zum Teil verständlich ist, weil Maßnahmen im gesundheitspolitischen Bereich in nationaler Kompetenz liegen. Leider kam es zu einem nationalen Nebeneinander, Grenzen wurden unkoordiniert geschlossen. Innerhalb der EU wurden Exportverbote für medizinisches Material verhängt, unter anderem von Deutschland nach Italien, was ziemlich absurd war, da man es gerade in Italien dringend gebraucht hätte. Die Europäische Kommission hat versucht, ein wenig zu koordinieren, ist aber nicht wirklich durchgedrungen. Das ist mittlerweile etwas besser geworden. Aber auch wenn mehr von europäischer Koordinierung geredet wird, zum Beispiel im Tourismus-Bereich, machen die Mitgliedstaaten nach wie vor, was sie wollen. In der jetzigen Phase, wo es um Recovery geht, rückt die Europäische Union natürlich ins Zentrum. Ich habe befürchtet, dass es nicht möglich sein wird, eine starke europäische Antwort auf den Weg zu bringen, muss aber sagen, dass der Kommissionsvorschlag zum Recovery-Plan ein ganz wichtiger Schritt in die richtige Richtung ist, auch wenn er natürlich nicht grüne Politik in Reinformat ist.

Daniela Schwarzer: Durch die nationalen Reaktionen im Umgang mit der ersten Phase der Gesundheitskrise wurde deutlich, dass die europäische Integration, wenn sie unvollständig ist, nicht hält. Politisch sehr erschreckend fand ich, dass das politische Framing in den ersten Wochen komplett gefehlt hat. Einigen Städten oder Regionen ging es sehr schlecht, das wurde auf europäischer Ebene viel zu wenig anerkannt. Eine weitere Lehre ist, wie schnell der Binnenmarkt fällt. Und wenn man sich so darauf fokussiert, Schutz ausschließlich im nationalen Rahmen herzustellen, scheint man andere politische Ziele zu vergessen. Als die Exportkontrollen an den EU-Außengrenzen eingeführt wurden, hat man nicht an den Westbalkan und die Staaten der Östlichen Partnerschaft gedacht. Da sieht man die Widersprüchlichkeit der Politik, was ich gar nicht als bösen Willen werte, sondern als Gedankenlosigkeit im Krisenmanagement. Daraus kann man auch eine Menge lernen, um in zukünftigen Situationen mit einem holistischen Blick auf die Herausforderungen zu schauen.  

Michael Peters: Leider waren die EU-Institutionen lange ziemlich still – bis auf die Europäische Zentralbank (EZB), die tatsächlich Schlimmeres verhindert hat, indem sie schon im März sehr aktiv wurde und es vorerst geschafft hat, eine Finanzkrise abzuwenden. Das war sehr wichtig, es ist aber auch ein Problem, weil die Zentralbank ein schon zuvor instabiles Finanzsystem stützt, welches grundlegend reformiert werden muss.   

Sven Giegold: Auf der einen Seite haben wir in der Krise gesehen, dass die Menschen von Europa umfängliche Antworten erwarten. Im Grunde haben sie an die EU eine Erwartungshaltung wie an einen Nationalstaat, obwohl wir noch keine europäische republikanische Ordnung haben. Wie Ska erwähnt hat, gibt es im Gesundheitsbereich die Kompetenz auf europäischer Ebene ja gar nicht. Wir sind in Deutschland inzwischen für eine Verteilung von Flüchtlingen nach Quoten – eine Verteilung von Kranken nach Quoten fand aber nicht statt. Weil wir in Deutschland kein Risiko eingehen wollten, dass eventuell ein Worst Case unsere Kapazitäten überschreitet, wurden erst sehr spät und nur sehr wenige Menschen in Krankenhäusern mit Beatmungsplätzen aufgenommen. Das war zwar eine späte Rettung der Reputation, aber wir hätten es anders viel besser machen können, nämlich mit einer geteilten Kompetenz – sowohl im Gesundheitsbereich, als auch im Rahmen eines funktionierenden Binnenmarktes. Und zu guter Letzt eben auch durch finanzielle Solidarität. Wie Michael schon erwähnt hat, war die einzige Institution, die wirklich ohne große Verzögerungen entscheiden konnte, die EZB, die das Zerbrechen des Euros ein weiteres Mal aufhalten musste.

Worin unterscheidet sich die Corona-Krise aus politischer und ökonomischer Sicht von anderen Krisen? Mit welchen Auswirkungen müssen wir rechnen?

Sven Giegold: Ein großer Unterschied ist, dass wir so stark in der Hand eines Virus sind. Wie diese Krise weitergeht, wie schlimm sie eigentlich wird und was sie finanziell bedeutet, das wissen wir heute noch nicht. Anders als bei der Klimakrise ist die Unsicherheit viel größer, das ist ein wesentlicher Unterschied.

Daniela Schwarzer: Auch ich möchte das Thema Unsicherheit und Unberechenbarkeit ansprechen. Natürlich gab es auch schon andere Pandemien, aber eine global so verbreitete Pandemie, die in unserer Nachbarschaft sicherlich noch für enorme Verwerfungen sorgen wird, haben wir noch nicht erlebt. Die Krise wird sich im zweiten Halbjahr 2020 in einer Phase von politischer, sozialer und sozioökonomischer Fragilität innerhalb der EU fortsetzen. Gleichzeitig sehen wir, wie sich in dieser Krise globale Trends verschärfen: Die Polarisierung zwischen den USA und China, der Machtzugriff von autoritären Regimen und die Entkoppelung von globaler Wirtschaft. Zudem trifft uns die Krise in einer Phase grundlegender Transformationsaufgaben, die die Digitalisierung sowie die Zukunft von Arbeit, Beteiligungsformen und Beschäftigungsmodelle betreffen. Die große Gefahr ist, dass diese Krise uns in der Fähigkeit schwächt, mit dieser Situation politisch umzugehen und die Transformation voranzutreiben.

 

Michael Peters: Aus ökonomischer Sicht sehen wir einen gleichzeitigen Angebots- und Nachfrageschock, den wir so noch nicht hatten. Wenn wir uns überlegen, wie es weitergeht, können wir nicht von einem klassischen Recovery-Szenario sprechen, von U- oder V-Formen. Ich glaube, dass wir mit Auf- und Ab-Wellen rechnen müssen, die regional sehr unterschiedlich ausfallen werden – je nach Ausbruch und Verbreitung des Virus. Manche Mitgliedstaaten sind weniger betroffen als andere. Und es gibt bei den Sektoren große Unterschiede: Der Tourismussektor ist zum Beispiel besonders hart getroffen, aber vollkommen digitale Geschäftsmodelle weniger. Vor diesem Szenario muss man sich gut überlegen, wie man die Transformation langfristig umsetzen kann, auch weil sich die Umstände stetig verändern werden.

Ska Keller: Da bisher vor allem negative Aspekte genannt wurden, versuche ich es mit einigen positiven: Diese Krise wirft uns stärker als andere Krisen auf sehr existenzielle Fragen zurück. Sie hat zu einem intensiven Nachdenken geführt und Transformationsprozesse auch beschleunigt. Es gibt neue Möglichkeiten der Beteiligung. An Webinaren können viel mehr Menschen teilhaben als es der Fall wäre, wenn alle physisch an einem Ort sein müssten. Erwähnenswert finde ich auch die Frage nach der Wertschätzung von Arbeit, die in einer Gesellschaft geleistet wird, vor allem Erziehungs- und Pflegearbeit. Diese neue Art und Weise von Wertschätzung hat eine positive Seite. Ob wir daraus in Zukunft auch etwas Positives machen können, steht allerdings noch in den Sternen.

Die EU hat als unmittelbare Antwort auf die Krise ein Paket von Soforthilfemaßnahmen geschnürt, mit dem über eine halbe Billion Euro zur Unterstützung von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, Unternehmen und Volkswirtschaften bereitgestellt wird: Seit dem 1. Juni können die EU-Mitgliedstaaten 240 Milliarden Euro über die Kreditlinien des Europäischen Stabilitätsmechanismus, 200 Milliarden über Hilfskredite der Europäischen Investitionsbank und 100 Milliarden über die EU-Arbeitslosenrückversicherung SURE abrufen. Ende Mai legte die Europäische Kommission außerdem einen Vorschlag für einen Europäischen Aufbauplan vor, in dessen Zentrum der Europäische Green Deal stehen soll. Teil des Vorschlags sind das von Ska schon erwähnte neue Aufbauinstrument „Next Generation EU“ in Höhe von 750 Milliarden Euro und der umgestaltete EU-Haushalt, der Mehrjährige Finanzrahmen (MFR), mit einem Volumen von 1,1 Billionen Euro von 2021 bis 2027. Wie bewertet Ihr diese Maßnahmen und Vorschläge?

Daniela Schwarzer: Es ist zuerst einmal gut, dass die Maßnahmen so schnell auf den Weg gebracht wurden. Das ist, glaube ich, eine der großen Lehren aus der 2010er Staatsverschuldung und Bankenkrise: Je länger man wartet, desto teurer wird es zu retten. Die politischen Mechanismen haben schneller gegriffen, auch wenn es am Anfang in der Eurogruppe und im Europäischen Rat Krach gab. Der Ansatz, über drei Säulen Staaten, Unternehmen und letztendlich Bürgerinnen und Bürger zu unterstützen, ist positiv. Beim Recovery Fund finde ich das große Volumen im Vorschlag der Kommission wichtig. Vor ein paar Jahren wäre es absolut undenkbar gewesen, mit so einer Summe in die Verhandlungen zu gehen. Ich finde es auch richtig, dass im deutsch-französischen Vorschlag und im Vorschlag der Kommission Kredite und Zuschüsse enthalten sind. Deutschland hat sich in seiner Position bewegt. Was die Finanzierungsseite anbelangt, sehen wir meiner Ansicht nach möglicherweise den Beginn einer sehr viel weitergehenden Diskussion. Es ist richtig, die Kommission dazu zu bewegen, Geld an den Märkten aufzunehmen und dadurch das Triple-A-Rating in die Waagschale zu werfen, womit die Finanzierungskosten geringgehalten werden. Aber die Frage über die sehr lange Laufzeit der Rückzahlung wird sich irgendwann stellen. Wo das Geld herkommt, ist eine Frage, die meiner Ansicht nach am besten auch über europäische Instrumente, nämlich Steuern beantwortet werden kann. Auf der Einnahmenseite lässt sich die Transformationsagenda sehr gut mit der Finanzierungsnotwendigkeit verbinden: über eine CO2-Grenzsteuer, Plastiksteuer und Digitalsteuer. Das würde Europa richtig voranbringen, auch weil dann wieder die Frage der demokratischen Legitimation virulent wird und man sich über die Rolle des Europäischen Parlaments nochmal Gedanken machen kann. Ich beobachte aber auch, dass unterschätzt wird, wie dringend es sein wird, bereits in diesem Herbst Geld zur Verfügung zu stellen. Die politische Einigungsfähigkeit wird im Falle einer Verschärfung der Krise aber immer schwieriger herzustellen sein.

Sven Giegold: Das erste Paket beurteile ich deutlich anders. Ich glaube, der ökonomische Wert dieses Pakets ist viel, viel kleiner. Die Berechnungen zeigen deutlich, dass als Signal zwar Liquidität zugesichert wird, allerdings keine Solidarität. Wenn zum Beispiel Italien alle drei Instrumente voll ausschöpfen würde, würde die Wirkung bei 0,08 Prozent des Bruttoinlandsprodukts p.a. liegen. Das Ganze war eigentlich eher eine Kommunikationsübung. Das Dialektische daran ist aber, dass die objektive Schwäche dieses ersten Pakets die starke Reaktion von Merkel und Macron hinterher möglich und notwendig gemacht hat. Weil jeder weiß, dass letztlich keinem Arbeitslosen, keinem Armen, keinem kaputten Gesundheitssystem mit 0,08 Prozent des BIP geholfen ist, war irgendwann der Moment der Wahrheit gekommen. Hinzu kam, dass das EZB-Urteil des Bundesverfassungsgerichts ebenso eine dialektische Rückwirkung erzeugt hat – auch wenn ich es europarechtlich fragwürdig finde. Denn wenn die Geldpolitik aus Deutschland blockiert wird, dann kann Deutschland nicht auch noch die Fiskalpolitik blockieren – dadurch sind Tabus gefallen. Zwanzig Jahre ärgere ich mich in Veranstaltungen über die Tabus bei den Themen Haftungsunion, Schuldenunion, EU-Steuer und Transferunion. All diese Tabus wurden durch den Merkel-Macron Vorschlag zumindest entscheidend geschwächt, es gibt jetzt nur noch Rückzugsgefechte. Es wird nur noch so getan, als hätte man die Tabus gar nicht gebrochen. Die CSU wird allerdings nicht mehr damit Europa-Wahlkampf machen können, dass sie auf keinen Fall eine EU-Steuer will. Das Tabu der Schuldenunion wird versucht über die Argumentation aufrechtzuerhalten, dass es sich um eine Ausnahme handelt. Und beim dritten großen Tabu einer Transferunion, da haben wir wirklich eine ideologische Blockade überwunden und einen Sieg der Vernunft davongetragen. Ich glaube, es ist eine grüne Herausforderung, diese diskursiven Siege auch nach Hause zu bringen.

Michael Peters: Es ist essenziell, dass es mit der EU-Schuldenaufnahme klappt. Dabei wird es wichtig sein, die Zurückzahlung der Schulden langfristig anzulegen, um den finanziellen Spielraum der Mitgliedstaaten nicht einzuschränken. Meiner Meinung nach führt der Vorschlag der Kommission von der Idee her zu mehr Integration, das ist das Schöne daran. Durch die gemeinschaftliche Schuldenaufnahme schafft die EU außerdem sichere Wertpapiere vergleichbar mit US-Staatsanleihen, wovon sie extrem profitieren würde. Ich habe noch einen Punkt: Im Rahmen des Green Deal wird über Nachhaltigkeit und Digitalisierung gesprochen, hier müssen wir über Open Source Software sprechen, denn öffentliches Geld wird dann besonders nachhaltig eingesetzt, wenn die entstandene Software auch der Allgemeinheit zur Verfügung steht. Eine Stärke der EU ist, dass sie Standards setzt und die Mittelvergabe an Regeln knüpft, so zum Beispiel daran, Staatshilfen nicht für Dividenden-Zahlungen oder Bonuszahlungen an Manager einzusetzen.

Ska Keller: Der Recovery-Plan der Kommission ist wirklich ein großer Schritt vorwärts. Natürlich gibt es aber noch einige Probleme. Ich würde gerne auf die Frage der Rechtsstaatlichkeit hinweisen, auf die Frage also, ob auch Viktor Orbán in die Taschen greifen darf. Die Frage der Konditionalität ist für uns Grüne sehr wichtig. Wir fordern, dass die Mittel für die ökologische Transformation ausgegeben werden müssen. Aber die Sparsamen Vier reden davon, dass die Mittel nach den altbekannten Austeritätsregeln vergeben werden sollen. Da haben wir noch große Kämpfe vor uns. Ich fand den Aufschlag einen wirklich guten Schritt vorwärts, den man nicht unterschätzen darf. Ich hoffe nur, dass wir am Ende auch wirklich bei einem großen Fortschritt landen werden, und dass wir hinterher nicht von einem völligen Fehlschlag sprechen müssen – wie sagt man so schön? Als Tiger gesprungen, als Bettvorleger gelandet. Ich glaube, es ist noch lange nicht ausgemacht, dass das gut geht. Zum einen wird es Konflikte über das Volumen geben. Zum anderen über die Instrumente, also ob und in welcher Höhe die Mittel über Zuschüsse und Kredite verteilt werden. Ein weiterer Konfliktpunkt ist die Frage, für was die Mittel ausgegeben werden können und mit welchen Konditionalitäten dies einhergeht. Wer bekommt das Geld für was? Entlang welcher Regeln? Über welche Eigenmittel wird es zurückgezahlt? Alle diese Fragen sind konfliktbeladen und es wird in diesem Zusammenhang zu durchaus interessanten und unterschiedlichen politischen Konstellationen kommen.

Daniela Schwarzer: Die Zahlen, die Sven genannt hat, sind natürlich sehr eindrücklich. Ich glaube, dass es in der ersten Phase politisch nicht möglich war, etwas Größeres auf den Weg zu bringen, was nicht entschuldigt, dass das Volumen am Ende vielleicht zu gering ist. Zum Thema Konditionalität möchte ich erwähnen, dass es im zweiten Halbjahr 2020 eine fast einmalige politische Chance gibt, in Bezug auf den Mehrjährigen Finanzrahmen und den Recovery-Fund eine harte Verhandlungshaltung einzunehmen, vor allem bei Rechtsstaatlichkeit und Demokratie. Und wir dürfen nicht vergessen, dass um uns ein wirtschaftlicher Wettbewerb und Systemwettbewerb tobt. Wir müssen immer im Blick haben, dass wir vermutlich schwächer aus der Krise hervorgehen werden, wenn wir keinen großen Schritt nach vorne machen. Das heißt, dass wir die innere Transformationsagenda mit einer externen politischen Agenda verbinden müssen, im Bereich Klimaschutz, aber auch im Bereich Digitales.

Sven Giegold: Genau, wenn man großes Geld in die Hand nimmt, muss man auch große Probleme lösen. Es muss etwas beim Klimaschutz, bei der Biodiversität, bei der Rechtsstaatlichkeit passieren und es kann nicht sein, dass dieses Geld wieder nur in die Männer-Jobs geht. Mit dem Geld müssen also wirklich Bretter gebohrt werden. Aber wir sind ja nicht alleine im Teich, sondern es schwimmen noch andere Fische mit und diese Fische sind dabei, ihre Konditionalität in den Diskurs zu bringen. Eine große Gefahr, die ich sehe, ist der Versuch, aus dem Europäischen Semester, das bisher ein Papiertiger war, einen richtigen kleinen Löwen zu machen. Ich bin für eine Koordinierung der Wirtschaftspolitik im Rahmen des Europäischen Semesters, aber bitte parlamentarisch fundiert und nicht als eine rein expertokratische Veranstaltung. Ich möchte, dass das Europäische Parlament eine richtige Mitentscheidung über das Semester hat und die nationalen Parlamente mitreden.

Michael hat schon das Mandat der EZB angesprochen, Sven hat das Urteil des Bundeverfassungsgerichts erwähnt. Ich möchte darauf zurückkommen und Euch fragen, wie Ihr die Rolle und Maßnahmen der EZB beurteilt.

Michael Peters: Ich bin kein großer Fan davon, dass die Europäische Zentralbank wieder alles regelt – aber es war notwendig um einen Einsturz des Finanzsektors zu verhindern. Die EZB hat quasi aus dem Nichts erneut wie während der Eurokrise 2012 den kompletten Finanzsektor abgesichert. Das Problem dabei ist allerdings, dass dies nicht zu einem langfristig stabilen Finanzsystem führt, weil es zu keiner Transformation in diesem Bereich kommt. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts geht davon aus, dass man Geld- und Fiskalpolitik klar trennen kann. Es besagt, dass das, was die EZB macht, keine Geldpolitik mehr ist und die EZB deshalb ihr Mandat überstiegen hat. Ich würde eher sagen, dass das Mandat der EZB veraltet ist – an dieses Thema muss man langfristig ran. Ein weiterer Punkt ist, dass zukünftige Klimarisiken bei den Unternehmensanleihen, die die Europäische Zentralbank im Zuge des Corona-Krise gekauft hat, überhaupt nicht berücksichtigt werden. Wenn sich die Europäische Kommission dem Klimaschutz verpflichtet, dann muss dies die EZB aber auch tun. Wovor ich am meisten Angst habe, ist, dass es nochmals eine Verschärfung der Finanzkrise geben wird. Wenn man einfach sagt, wir lösen alles über die Gelddruckmaschine EZB, dann wird dies im Finanzsektor wieder dazu führen, dass Risiken, also Verluste sozialisiert und Gewinne privatisiert werden. Deshalb brauchen wir eine öffentliche Debatte über das Mandat der EZB.

Daniela Schwarzer: Das Muster der letzten Dekade ist, dass wir eine föderale Institution haben, die Europäische Zentralbank, die in Krisensituationen handlungsfähig und handlungswillig ist und ein öffentliches europäisches Gut schützt, nämlich den Euro und die Finanzstabilität. Ihre Aufgaben haben sich über die letzten Jahre immer weiter ausgedehnt. Durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts ist deutlich geworden, dass dieses Modell der Geldpolitik, die einspringt, wenn die Mitgliedstaaten über haushaltspolitischen Maßnahmen nicht handlungsbereit oder handlungsfähig sind, an seine Grenzen stößt und Fragen in Bezug auf die Funktionsweise der Eurozone aufwirft. Man muss sich auch aus makroökonomisches Perspektive fragen, wie ein gutes Zusammenspiel von europäischer Geldpolitik und europäischer Haushaltspolitik möglich ist. Es ist nichts Neues, dass wir in diesem Zusammenhang eine grundlegende Debatte brauchen. Es wurde da auch viel Vorarbeit geleistet, nicht nur im wissenschaftlichen und Think Tank-Bereich, sondern auch durch den Bericht der fünf Präsidenten. Die Schwächen wurden alle benannt, große politische Schritte wurden allerdings nie unternommen, weil es natürlich viel einfacher ist, wenn man die Geldpolitik arbeiten lässt und sich vertragsrechtlichen Fragen nicht stellen und überlegen muss, wie man eine demokratisch legitimierte politische Vertiefung der Eurozone erreicht.

Sven Giegold: Aus meiner Sicht argumentiert das Bundesverfassungsgericht ökonomisch sehr altmodisch, weil es von einer Trennung der Währungs- und Wirtschaftspolitik ausgeht. Das Gericht hat aber auch den Finger in eine offene Wunde gelegt. Diese offene Wunde ist, dass die EZB nicht freiwillig, sondern immer wieder aus Not als einziger Last Man Standing, als einzige Last Woman Standing, die Rolle ergriffen und die Stabilisierung geliefert hat, für die demokratisch keiner den Preis zahlen wollte, den man dafür hätte zahlen müssen: In einigen Ländern wären das Reformen und in anderen Solidarbereitschaft gewesen. Es gibt weltweit keine Zentralbank, die über so viel Macht verfügt wie die EZB. Deshalb bin ich auch ein großer Freund von juristischer Kontrolle und halte nichts von dem Argument, dass dadurch die Unabhängigkeit der Zentralbank eingeschränkt wird. Diese Kontrolle muss aber natürlich vernünftig erfolgen – dazu gehört auch, dass kein nationales höchstes Gericht die EZB kontrollieren kann, das ist Aufgabe des Europäischen Gerichtshofs. Wir als Europaparlament müssen uns auch fragen, wie gut eigentlich unsere Kontrolle war. Anders als die Bundesbank ist die EZB dem Parlament gegenüber rechenschaftspflichtig. Wenn ich das Urteil lese, dann sind da eine Menge Argumente, die ich im geldpolitischen Dialog noch nie gehört habe, das müssen wir auch selbstkritisch angehen. Ich habe mich deshalb auch dafür eingesetzt, dass im Ausschuss für Wirtschaft und Währung über eine Reform der Kontrolle diskutiert wird.

Ihr habt betont, dass wir in dieser Krise mit vielen Unsicherheiten konfrontiert sind. Am 1. Juli übernimmt Deutschland für sechs Monate die EU-Ratspräsidentschaft. Welche Chancen und Herausforderungen sind mit der deutschen EU-Ratspräsidentschaft in Bezug auf das Krisenmanagement und die Zukunft der EU verbunden? Was kann, was sollte, was muss die Bundesregierung sich zum Ziel setzen?

Ska Keller: Die Chancen der deutschen EU-Ratspräsidentschaft sind enorm, die Risiken groß. Die Ratspräsidentschaften geben sich immer stark formulierte Prioritäten und zum Schluss muss dann doch gemacht werden, was auf dem Tisch liegt. Genauso ist es bei der deutschen Ratspräsidentschaft. Jetzt geht es um Recovery, Recovery und nochmals Recovery. Natürlich kommt Deutschland insgesamt eine wichtige und große Rolle zu, aber ehrlich gesagt wäre das auch so, wenn Deutschland nicht mit der Ratspräsidentschaft dran gewesen wäre. Ich wünsche und erhoffe mir von der Ratspräsidentschaft, dass Deutschland nicht in der Ecke der Neinsager steht, sondern als „Honest Broker“, als ehrlicher Vermittler, wirklich versucht auszutarieren und Kompromisse zu finden. Darin ist die deutsche Bundesregierung in den letzten Jahren überhaupt nicht gut gewesen, sondern war ein großer Bremser. Insofern ist es tatsächlich eine Chance, dass ausgerechnet Deutschland in einer so wichtigen Zeit die Ratspräsidentschaft innehat. Ich hoffe, dass das bei der Recovery-Frage zu einem Pluspunkt wird.

Daniela Schwarzer: Der Aspekt des „Honest Broker“ ist ganz wichtig, gleichzeitig muss Deutschland aber auch Konfliktbereitschaft zeigen. Es wäre eine absolut falsche Haltung, bei gewissen Themen zu freundlich und damit auch zu defensiv aufzutreten, gerade wenn es um Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Klimafragen geht. Jetzt ist wirklich der Moment, für viele Jahre die Weichen zu stellen. Dabei geht es um die Ausgabenpolitik, aber auch um die Rückbesinnung auf gewisse Grundprinzipien unseres Handelns und um unser Zukunftsmodell. Es wird darauf ankommen, überall dort eine sehr klare und harte Position zu beziehen, wo es um die Grundprinzipien der Europäischen Union geht. Während der Ratspräsidentschaft kann Deutschland in diesem Zusammenhang einen ganz wichtigen Beitrag leisten. Es wird dies natürlich nicht alleine schaffen, am Ende kann es nur ein Erfolg aller sein.

Michael Peters: Ich wünsche mir, dass Deutschland sich mal ehrlich in die Kommunikation begibt, welche Vorteile es eigentlich aus der EU zieht. Als Teil der Eurozone exportieren wir sehr, sehr viel innerhalb der Eurozone. Dieser Aspekt kommt im öffentlichen Diskurs in Deutschland viel zu kurz. Man kann die Vorteile auch als argumentatives Gegengewicht nutzen, wenn man mit den sogenannten Sparsamen Vier diskutiert. Die Debatte ist in vielen Ländern so etwas von flach und bitter geführt worden, man sollte viel häufiger über die wirtschaftlichen Vorteile der Europäischen Union sprechen, vor allem in Deutschland. 

Sven Giegold: Ich sehe gerade für die deutsche Europapolitik folgende Gefahr: Jetzt musste die etwas national bornierte Seite der CDU/CSU unheimlich viel schlucken. Die Gefahr besteht, dass sich das beim Klimaschutz rächt. Ich befürchte, dass zwar auf vielem Green Deal draufstehen wird, aber wenn es dann darum gehen wird, wo wirklich die Musik spielt, nämlich bei der Härte der Regeln, bei der Konsequenz der Verschärfung der Ziele, plötzlich behauptet wird, dass nicht noch mehr zumutbar sei. Die zwei Riesenaufgaben der Ratspräsidentschaft sind der Mehrjährige Finanzrahmen und der Green Deal und ich fürchte, dass der Green Deal an relevanten Stellen das Opfer werden könnte. Das zeigt sich schon bei der deutschen Position zur Gemeinsamen Agrarpolitik, die wirklich peinlich ist. Um mit etwas Positiven zu schließen: Was ich erfreulich finde ist, dass jetzt zwei Dinge mit dem MFR und der Ratspräsidentschaft verknüpft worden sind, die nicht absehbar waren. Erstens, dass die Themen gemeinsame Steuern, Ende des Steuerdumpings und gemeinsame Einnahmen auf der Tagesordnung angekommen sind. Darum geht es auch in dem Vorschlag von Merkel und Macron. Ich höre aus der Kommission, dass Deutschland in diesem Zusammenhang mächtig Dampf macht. Das war erstmal gar nicht vorgesehen und da spielt Olaf Scholz eine gute Rolle. Zweitens soll die Konferenz zur Zukunft der EU wirklich ernsthaft und zielorientiert umgesetzt werden. Das finde ich gut und das braucht Europa auch. Die Handlungsfähigkeit Europas nach innen und nach außen ist so wichtig. Wir kommen dabei nicht an Veränderungen im institutionellen Gefüge vorbei.

Ska, Daniela, Michael und Sven, ich danke Euch für das Gespräch.