Freiwillig bin ich nicht ausgereist - "Ständige Ausreise - Schwierige Wege aus der DDR"

Ein Text von Heike Kleffner

Lesedauer: 14 Minuten
Koffer und Hausstand gehen auf die Reise.

Der Protest, der schließlich zum Herbst 89 führte begann auch in Leipzig schon Jahre vorher. Ein früher Höhepunkt war eine Demonstration 1983 beim Leipziger DOK-Filmfestival, bei der es mehrere Verhaftungen gab. Der Leipziger Stefan Tabor, der 1983 vor dem Kino Capitol gegen das Wettrüsten demonstrierte und festgenommen wurde, erzählt hier seine Geschichte.

Als Stefan Tabor seinen zweiten Ausreiseantrag unterschrieb, hatte er schon fast zwölf Monate in Haft verbracht: erst in der Untersuchungshaftanstalt der Staatssicherheit in Leipzig, dann in der Justizvollzugsanstalt Naumburg. Auf Antrag der Staatsanwaltschaft Leipzig war der damals 21-Jährige im April 1984 zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt worden. Sein schwerstes »Vergehen«: Als »Rädelsführer« soll er gegen den berüchtigten Paragrafen 215 des Strafgesetzbuches der DDR verstoßen haben, der für »Rowdytum« Freiheitsstrafen von bis zu fünf Jahren vorsah und auch für politische Verurteilungen genutzt wurde. Außerdem wurde er nach Paragraf 219 wegen »ungesetzlicher Verbindungsaufnahme« in den Westen verurteilt.

Als Rädelsführer hat sich Stefan Tabor selbst nie gesehen. Fragt man den Ingenieur für Windkraftanlagen, wie es im November 1984 zu seiner Ausreise aus der DDR kam, sagt er: »Freiwillig bin ich nicht ausgereist. Denn wir wollten viel mehr verändern – und zwar in der DDR.« Dann nimmt er die Fragestellerin im weichen Sächsisch mit auf eine Erinnerungsreise in die Welt der DDR-Jugendopposition der frühen achtziger Jahre in Leipzig.

Wie ein roter Faden durchzieht der Wunsch nach Veränderung das Leben von Stefan Tabor. Als Einzelkind wuchs er in einer »ganz normalen« DDR-Familie im Nordwesten von Leipzig auf, im überschaubaren Leutzsch: mit einer alleinerziehenden Mutter, deren Schwester und ihren Söhnen, seinen Cousins, und den Großeltern. Die Väter waren abwesend: Stefan Tabor lernte seinen Vater, der als Aktivist der Unabhängigkeitsbewegung in Sansibar mit einem Stipendium nach Leipzig gekommen war und die DDR kurz nach der Geburt seines Sohnes wieder verlassen hatte, erst nach seiner Ausreise aus der DDR kennen.

Das politische Grundrauschen, das seine Jugend begleitete, war der Rüstungswettlauf der Supermächte USA und Sowjetunion. Tabor, Jahrgang 1963, war 16, als in Reaktion auf die geplanten Stationierungen von Mittelstreckenraketen des Typs Pershing II in der Bundesrepublik und SS 20 in der DDR beiderseits des Eisernen Vorhangs Friedensbewegungen entstanden. Genauso prägend: die Solidarność-Bewegung und deren Verbot 1981 nebst der Verhängung des Kriegsrechts in Polen. Die Musik dazu: Blues, Reggae und manchmal Punk. »Wir dachten, man müsste doch den Sozialismus genießen können. Warum ist das nicht so?« Die Lektüre: Reiner Kunzes »Die wunderbaren Jahre« und Michail Alexandrowitsch Bakunin – »Wir mussten erst im Lexikon nachschlagen, was Anarchie bedeutet, das Freiwillige daran hat uns gefallen.«

Im Sommer 1979 schloss Tabor die 10. Klasse ab. Danach trampte er, dessen immer länger werdende Haare wiederholt zu heftigen Diskussionen in der Familie führten, mit Freunden durch die DDR. Auf Zeltplätzen bekamen die Teenager erste Kontakte zu Oppositionellen aus Ost-Berlin: »Die Freunde waren knapp zehn Jahre älter als wir und kamen aus der Künstler- und Kulturszene – immer auf der Suche nach Freiräumen. Sie nahmen uns mit in besetzte Wohnungen, zu Theateraufführungen mit selbst geschriebenen Stücken und einmal zu einem Gartenfest bei Robert Havemann.«

Nach dem kurzen Sommer der relativen Freiheit begann Stefan Tabor eine Lehre als Zerspanungsfacharbeiter mit Abitur. Währenddessen trotzten 1980 die Massenstreiks der Solidarność-Bewegung der polnischen Regierung das Danziger Abkommen ab. »Als 1981 das Kriegsrecht in Polen verhängt wurde, bekamen wir unsere Musterungsbefehle«, erinnert sich Tabor. »In der DDR war dein ganzes Leben vorgeplant – und damit auch, dass junge Männer zur Armee mussten. So sind wir schlagartig zur Friedensbewegung gekommen.« Die Freunde waren ebenfalls Lehrlinge: auf dem Bau, im Betonwerk, bei der Post. »Wir haben uns nur aufs Wochenende gefreut. Freitagnachmittags haben wir uns glücklich getroffen und sind raus, zum Beispiel nach Günthersdorf zur Disco, wo wir als Langhaarige auch mit kaputten Jeans reingelassen wurden.« Sein Cousin und er seien schon »durch unser Äußeres« aufgefallen – auch wenn in der DDR der achtziger Jahre in allen größeren Städten binationale Ehepaare und Kinder lebten. »Als wir größer wurden, kamen die Fragen: ›Wo kommst du her?‹« Später erst erfuhr er von den Beleidigungen und rassistischen Kommentaren, die seiner Mutter und ihm galten und vor denen ihn seine Familie schützte.

Ein Ort wurde für die »Langhaarigen« in Leipzig-Leutzsch immer wichtiger: die kleine Dorfkirche. Der Jugendpfarrer Martin Lösche, erinnert sich Stefan Tabor, »öffnete die Türen für die Junge Gemeinde – und uns. Immer mittwochs sind wir zur Jungen Gemeinde gegangen und haben über alles geredet: Wehrdienstverweigerung, Knast, Armee.« Theaterstücke wie »Die Polizei« des polnischen Regimekritikers Sławomir Mrożek und nicht zuletzt eine Bühnenadaption von Günter Eichs Hörspiel »Träume«, die Martin Lösche mit den Jugendlichen in Gemeindesälen aufführte, machten die Gruppe bekannt. Eine Konsequenz der Schlussszene mit Eichs bekannten Zeilen »Tut das Unnütze, singt die Lieder, die man aus eurem Mund nicht erwartet! Seid unbequem, seid Sand, nicht das Öl im Getriebe der Welt!«: Die Staatssicherheit legte den Operativen Vorgang »König« zu Jugendpfarrer Lösche an. Stefan Tabor sagt: »Innerhalb kürzester Zeit sind wir in eine Konfrontation gekommen.«

Das erste Mal dachte Stefan Tabor nach der Rockpalast-Fete im März 1980 übers Ausreisen nach – nach der ersten Hausbesetzung in Leipzig-Lindenau. »Wir hatten durchs Westfernsehen, aber auch durch Leute aus West-Berlin, die wir im Prenzlauer Berg kennengelernt hatten, von deren Hausbesetzungen erfahren. Einer aus unserem Kreis wohnte gegenüber von einem leer stehenden Haus in Leipzig-Lindenau. Wir haben zwei Etagen aufgeräumt, das Treppenhaus abgesichert, Geld zusammengelegt und Bier geholt. Den Strom für den alten Fernseher und das alte Radio haben wir über Hausdächer hinweg aus der Wohnung des Freundes abgezapft. Und weil wir überall erzählt hatten, dass wir eine Fete zur Rockpalast-Nacht machen würden, kamen mehr als hundert Langhaarige. Obwohl der Sound der Übertragung wirklich nicht weit reichte, war die Stimmung super – bis die Volkspolizei das ganze Viertel absperrte, ins Haus stürmte und auch mit Gummiknüppeln alle Leute aufs Präsidium brachte.« Stefan Tabor gelang es, sein Adressbuch und den Dietrich, mit dem die Haustür aufgeschlossen worden war, wegzuwerfen, bevor er auf einen Lkw verfrachtet wurde. An die folgenden Stunden in der kalten Märznacht auf dem Hof des Präsidiums der Volkspolizei Leipzig in der Beethovenstraße (heute Straße des 17. Juni) – mit Blick auf die Untersuchungshaftgebäude der Justiz und der Staatssicherheit – erinnert er sich heute noch: »Wir mussten die ganze Nacht mit Händen hinterm Kopf aufgereiht an einer Mauer stehen. Wer sich bewegte oder sprach, dem wurden Schläge angedroht oder verabreicht. Aus den vergitterten Fenstern des Untersuchungsknastes schrien die Gefangenen: ›Frischfleisch, Frischfleisch!‹ Nach einer Weile wurden alle jungen Frauen und Mädchen in den Keller gebracht. Dort mussten sie sich ausziehen und nackt Kniebeugen vor den Polizisten machen.«

Die meisten der festgenommenen Jugendlichen wurden nach stundenlangen Verhören wieder entlassen. Der Polizeieinsatz war noch lange Stadtgespräch – und eine Warnung an alle. Weil die Stasi wusste, dass Stefan Tabor zu den Organisatoren der Fete gehörte, wurde er zu einer Geldstrafe verurteilt: »300 Mark Strafe waren zwar viel Geld bei einem Lehrlingsgehalt von monatlich 120 Mark. Aber unsere Stärke war, dass bei uns das Finanzielle keine Rolle spielte. Bei einer Party wurde für die Strafen zusammengelegt.« Viel schwerer wog, dass auch der Personalausweis eingezogen wurde und Stefan Tabor einen Ersatzausweis, den berüchtigten PM 12, bekam. »Jetzt konnte ich zum Beispiel nicht mehr nach Prag trampen. Bei Kontrollen wurden wir ständig schikaniert.«

Stefan Tabor im Jahr 1986: »Wir dachten, dass wir nach 24 Stunden wieder zuhause sein würden«

Auf die DDR-weit wachsende Friedensbewegung reagierte der Apparat mit Repression: »Bei Kontrollen fing die Polizei an, den Leuten das ›Schwerter zu Pflugscharen‹-Zeichen aus den Jacken zu schneiden und deren Träger manchmal auch zu schlagen.« Als seine Berufsschulklasse nach Leningrad fuhr und Stefan Tabor mit dem PM 12 zu Hause bleiben musste, stellten eine Freundin und er 1982 einen Ausreiseantrag: »Wir hatten keine Eile, wir wollten mit der Friedensbewegung in der DDR etwas verändern und dachten, die Bearbeitung dauert sowieso noch etwa neun Jahre – so wurde es zumindest unter der Hand kommuniziert.« Die Mütter und die Großeltern waren schockiert: »Ihr arbeitet dem Westen in die Hände!« Nüchtern sagt Tabor: »Die Grundhaltung in der Familie war eigentlich, den Sozialismus nicht zu unterwandern oder zu schwächen und die guten Seiten zu sehen.«

Niemand aus dem Freundeskreis von Stefan Tabor wollte den Wehrdienst bei der NVA ableisten – erst recht nicht, nachdem in Polen im Sommer 1981 das Kriegsrecht verhängt worden war. »Wir dachten, in ein paar Jahren wirst du eingezogen und dann wird möglicherweise in Polen einmarschiert, und du musst auf Streikende schießen.« Aber: »Wir wussten alle, auf Totalverweigerung standen bis zu 22 Monate Haft.« Um der ersten Musterung zu entgehen, ließ sich Stefan Tabor »ein Hörnchen« auf den Kopf schlagen und behauptete, er sei – einen Tag vor der Musterung – beim Pflaumenernten von der Leiter gefallen. Ein halbes Jahr später folgte der nächste Musterungstermin. Tabor täuschte eine psychische Krise vor, ließ sich in eine psychiatrische Klinik einweisen – und hatte Angst, nicht mehr rauszukommen. Es schien kaum ein Entrinnen aus dem Kreislauf von Musterung, Verweigerung, Haft, erneuter Musterung, wieder Verweigerung, wieder Haft zu geben.

Immer mehr ältere Freunde aus dem Prenzlauer Berg stellten Ausreiseanträge. Auch Stefan Tabor kam ins Grübeln: »Wir haben ja dauernd in einer schizophrenen Situation gelebt. Alle Leute waren permanent unzufrieden. Gleichzeitig hat kaum jemand den Mund wirklich aufgemacht.« Einer aus dem Freundeskreis beging Suizid, weil er verdächtigt wurde, ein Stasi-Zuträger zu sein – zu Unrecht, wie sich herausstellte. Immer öfter mussten sich »Langhaarige« und junge Punks aus der Leipziger Szene vor Gericht verantworten. »Sie haben wirklich mit allen Mitteln versucht, uns kaputtzumachen«, sagt Tabor. In seiner Stimme schwingt noch immer Fassungslosigkeit darüber mit, dass die ganze Macht des Staatsapparats gegen junge Leute mit ausgefransten Jeans, langen Haaren und bunten Armreifen in Bewegung gesetzt wurde.

Im Herbst 1983 demonstrierten in Westdeutschland Hunderttausende gegen den Nato-Doppelbeschluss. Die Proteste der DDR­Friedensbewegung waren dagegen winzig: Am 5. November 1983 versammelten sich etwa 50 Menschen zum stillen Friedensgebet vor dem Alten Rathaus in Leipzig. Eine Woche später waren es 120, die schnell von der Volkspolizei auseinandergedrängt wurden. Die Kerzenproteste inspirierten: Kurz vor Beginn der 26. Leipziger Dokumentar- und Kurzfilmwoche setzten sich Stefan Tabor und seine Freunde vor dem Kino Capitol, wo die Eröffnung in Anwesenheit in- und ausländischer Festivalbesucher stattfinden sollte, schweigend in einem Kreis mit brennenden Kerzen aufs Pflaster.

Regine Sylvester erinnert sich in einem Beitrag für das 2014 erschienene Buch »Die Sicherheit des Festivals ist zu gewährleisten!«: »Von einer Seite der Straße zur anderen hingen wie jedes Jahr die Banner mit dem Motto des Leipziger DOK-Filmfestivals ›Filme der Welt – für den Frieden der Welt‹. Neu waren die jungen Leute, zwei Dutzend vielleicht. Sie bildeten unter den Bannern einen Kreis und hielten brennende Kerzen in der Hand, ein Zeichen der Friedensbewegung. Es war ganz still. Der Protest hatte kaum Zuschauer. Ich blieb stehen, angerührt von der Ernsthaftigkeit der kleinen Gruppe.« Die Journalistin notierte auch, was dann geschah: »Plötzlich Rufe, Bremsen quietschten. Ein Lkw mit großer Plane stoppte, Polizisten sprangen von der Ladefläche und rannten zu der Gruppe, dann waren auch Zivilisten dabei, und alle zerrten die Beteiligten mit Gewalt zum Lkw. Aber zuallererst schlugen sie ihnen die Kerzen aus der Hand, die klackernd über den Asphalt rollten.«

Die kleine Gruppe erzeugte Wirkung: Internationale Festivalbesucher und Journalisten waren entsetzt über das brutale Vorgehen der Volkspolizei. Sie gründeten ein Ad-hoc-Komitee und erzwangen ein Gespräch mit dem stellvertretenden Kulturminister. Kritische DDR-Filmemacher, Schriftsteller und Kulturschaffende debattierten, wie sie sich zu dem Ereignis verhalten sollten. Auch Tagesschau und Der Spiegel berichteten.

»Wir waren uns sicher, die internationale Aufmerksamkeit würde uns schützen«, erinnert sich Tabor. »Deshalb waren wir relativ ruhig, als wir in den Keller des Polizeipräsidiums gebracht wurden. Wir dachten, dass wir nach 24 Stunden wieder zu Hause sein würden.« Dort wussten alle längst Bescheid, das Westfernsehen hatte über die Verhaftungen berichtet. Doch von den 16 festgenommenen jungen Frauen und Männern wurden nur zehn in derselben Nacht oder am nächsten Tag wieder nach Hause geschickt. Stefan Tabor sowie drei Freundinnen – eine davon hochschwanger –, sein Cousin und ein weiterer Freund wurden ins MfS-Untersuchungsgefängnis überstellt. Nachdem die Gruppe verhaftet worden war, kursierte ein Witz: »Anfrage an die Leipziger Volkszeitung: Ist es ratsam, beim Kauf von Kerzen Zahnbürste und Schlafanzug mitzunehmen?« Der 20-jährige Stefan Tabor saß einige Tage in Einzelhaft, anschließend in einer Zweierzelle mit Glasbausteinen statt Fenstern. Ihm wurde gedroht: »Das geht auf Spionage – unter fünf Jahren kommen Sie hier nicht raus.« Vier Monate lang wurde Stefan Tabor an sechs Tagen pro Woche vernommen. Dann bekam er einen Mitgefangenen auf die Zelle, einen alten Bekannten aus der Leipziger Jugendszene, der ihn »zu den Tatvorwürfen ausfragte«. Erst nach dem Ende der Haft fand er heraus, »dass der als IM für die Stasi noch alte Geschichten aufklären sollte und gezielt auf die Jugendopposition angesetzt war«.

Stefan Tabor sagt: »Das schönste Geräusch in der Stasi-U-Haft war sonntags das Kirchenglockenläuten. Mit diesem Gruß von draußen und mit den fünf Büchern, die wir alle 14 Tage aus der Bibliothek bekamen, konnte man sich rausträumen.« Am anstrengendsten hingegen sei die Ungewissheit gewesen, »ob es sich um Jahre handelt, bis du wieder draußen bist«. In den Familien der Festgenommenen herrschte Ausnahmezustand. Sie beauftragten eine Anwältin und zwei Anwälte, darunter Wolfgang Vogel, bekannt als Vermittler für Freikäufe von politischen Häftlingen. Er habe den Angehörigen wiederholt erklärt, die Bonner Regierung habe kein Interesse am Freikauf von DDR-Friedensaktivisten, weil es davon schon genügend vor der eigenen Haustür gebe. Im April 1984 sahen sich die jungen Leute beim Prozess wieder. Das Urteil: Stefan Tabor und sein Cousin wurden als Rädelsführer zu zwei Jahren beziehungsweise 18 Monaten Haft verurteilt. Tabor sagt: »Die Rechtsanwältin, die meinen Cousin vertrat, forderte Freispruch – ohne Erfolg. Das war dennoch ein wirklich eindrucksvoller Moment in dem Prozess, der unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfand.« Ein weiterer Freund und eine Freundin wurden zu zwölf beziehungsweise neun Monaten Haft verurteilt. Nach dem Prozess notierte eine Mutter: »Ich bin erschüttert. Und das alles wegen einer brennenden Kerze. Ich glaube nicht, daß das im Sinne unserer Regierung ist.«

Auf die Stasi-Untersuchungshaft folgte die Haftstrafe in der JVA Naumburg. »Erst da verstanden wir, dass wir in eine Verhaftungswelle geraten waren. Überall wurden damals Menschen aus der Friedensbewegung ebenso verhaftet wie Leute, die nur einen Ausreiseantrag gestellt hatten.« Wochentags arbeitete Stefan Tabor im Schichtbetrieb, wie alle Inhaftierten. Mit vergitterten Bussen wurden sie quer durch die Stadt zum VEB Metallwaren (MEWA) Naumburg gefahren. Dort fertigten sie Rollen, Winkel und Scharniere für Möbel der Firma IKEA. In der Haftanstalt war Tabor in einer 24-Personen-Zelle untergebracht. Zum Glück waren sein Cousin und ein Freund auch in Naumburg inhaftiert – beim Hofgang konnten sie sich austauschen. Als Tabor von einem »Stubenältesten« rassistisch beleidigt wurde, kam es zum Handgemenge.

An einem Morgen Ende Oktober 1984 wurde die Zelle aufgeschlossen – wie immer. Doch statt in den Hof gebracht, durchgezählt und zur Arbeitsstelle gefahren zu werden, hieß es: »Tabor! Sachen packen und mitkommen!« Dann ging alles ganz schnell: »Plötzlich wurden wir drei mit einem grauen Lkw nach Karl-Marx-Stadt in die Stasi-U-Haftanstalt Kaßberg gebracht und nacheinander zu einem Gespräch zur Entlassung aus der Staatsbürgerschaft eingeladen«, erinnert sich Tabor. »Wir waren wirklich im Zweifel, ob wir einen offiziellen Antrag stellen sollten. Schließlich entschieden wir uns dafür, weil wir bei einer Entlassung in die DDR mit erneuten NVA-Musterungen, Konfrontationen und Verhaftungen rechneten.« Auf dem Kaßberg verbrachte Stefan Tabor nur noch wenige Tage. »Am 7. November 1984 wurde mir der Antrag vorgelegt mit der Frage: ›Wollen Sie die Entlassung aus der Staatsbürgerschaft beantragen?‹« In dem Bus, der ihn und seinen Cousin wenig später aus der DDR brachte, waren Häftlinge aus verschiedenen DDR-Gefängnissen. Noch heute staunt er darüber, wie »schlagartig sich dein Leben verändert, indem du einfach die Straße entlangfährst und die Grenze ohne Kontrolle am Diplomatenübergang überquerst«.

Stefan Tabor und sein Cousin zogen nach Berlin-Kreuzberg. Dort trafen sie ihre Lebensgefährtinnen und Freunde aus der alternativen Jugendszene in Leipzig und Jena wieder, lebten in Wohngemeinschaften, reisten und demonstrierten. Die Lust am Reisen hat Stefan Tabor bis heute nicht verloren. Sein Job als Ingenieur für Windkrafttechnik führt ihn in alle Welt. »Das war schon immer mein Traum.«

 

Dieser Text stammt aus dem Sammelband »Ständige Ausreise - Schwierige Wege aus der DDR« (herausgegeben von Jana Göbel und Matthias Meisner, Christoph Links Verlag)