Demokratisches Engagement braucht Kontinuität und Planungssicherheit.
Das Bundesprogramm "Demokratie leben!" fördert seit 2015 Projekte, die sich für Vielfalt und Demokratie einsetzen. 115,5 Millionen Euro flossen jährlich in verschiedene Projekte, darunter rund 400 Modellprojekte. Die geplanten Kürzungen für 2020 um 8 Millionen Euro wurden – nach erster Kritik der Träger – Anfang Oktober zurückgenommen. Ende Oktober verkündete Bundesministerin Franziska Giffey schließlich, dass auch in den folgenden Jahren mindestens 115 Mio. Euro zur Verfügung stehen sollen. Für die neue Förderperiode gingen laut Ministerium insgesamt über 1000 Interessenbekundungen ein. Davon wurden jedoch nur 100 zur Antragstellung aufgefordert, darunter lediglich sechs aus Sachsen.
Die Weiterentwicklung unseres Projekts RomaRespekt soll ab dem Jahr 2020 ebenfalls nicht gefördert werden. Unsere Forschung, politische Bildung und das Radio RomaRespekt können und werden deshalb so wohl nicht mehr stattfinden. Wichtige, mühsam aufgebaute Brücken zu und mit Rom_nja und Sint_ezze werden abreißen. Wichtige Projekte von Lokalrecherchen bis Empowerment fallen ersatzlos weg.
Aus Solidarität mit den vielen anderen betroffenen Projekten und aus der tiefen Überzeugung, dass die fachliche Arbeit auch im Bereich Antiromaismus unbedingt in hoher Qualität erweitert werden muss, hat Weiterdenken die bundesweite Petition "Demokratieförderung ausbauen statt kürzen!" sowie den offenen Brief sächsischer Initiativen unterzeichnet.
Auszug aus dem offenen Brief sächsischer Initiativen an Bundesministerin Dr. Franziska Giffey (5.11.2019):
"Sachsen ist in aller Munde: Rassistische Aufmärsche und Angriffe gehören zur Normalität - wir denken an Freital, Heidenau oder Chemnitz, mehrere rechte Terrorgruppen haben Anschläge verübt, der NSU hat hier seine Basis und sein Netzwerk. Eine rechtsautoritäre, offen rassistische Partei war bei den sächsischen Landtagswahlen zweitstärkste Kraft. Geflüchtete und Migrant*innen denken über Wegzug nach, es gibt Gegenden, in denen ihre Sicherheit nicht gewährleistet ist.
Engagement in Sachsen stärken
Viele Menschen in Sachsen engagieren sich für Menschenrechte und Demokratie und gegen Rassismus und Ausgrenzung. Wir als Modellprojekte im Bundesprogramm „Demokratie leben!” sind mit unserer politischen Bildungsarbeit ein wichtiger Teil davon. Wir klären auf, wir stiften Teilhabe, wir empowern und wir stehen beruflich und ganz persönlich für demokratische Werte in einem zunehmend autoritären, feindlichen Klima ein.
Doch nun stehen unsere Initiativen vor dem Aus. Statt ehemals 18 werden in Sachsen ab 2020 nur noch sechs Modellprojekte im Programm „Demokratie leben!” gefördert. Das ist ein radikaler Einschnitt in die Qualität der politischen Bildungs- und Demokratiearbeit und in demokratisch-zivilgesellschaftliche Strukturen in Sachsen.
Die Modellprojekte richten sich insbesondere an Zielgruppen, die durch andere Institutionen der Regelstrukturen nicht oder nur schwer erreicht werden. Es zeigt sich, dass viele Erwachsene und junge Menschen spezielle Angebote benötigen, um wirksam am demokratischen Leben teilhaben zu können. Modellprojekte können auf die spezifischen Anforderungen der Kontexte im städtischen und ländlichen Raum, in der Freizeit, der Schule und der Arbeitswelt professionell eingehen.
Gefährdet sind Prävention, Auseinandersetzung und Bildung rund um die Themen: Rassismus, Antiziganismus, Sexismus, Homo- und Transfeindlichkeit, Antisemitismus, völkischer Nationalismus, Neonazismus und extreme Rechte, Verschwörungsideologien, Abwertung erwerbsloser und armer Menschen.
Selbstorganisationen stärken - Empowerment für eine vielfältige Gesellschaft
In den Förderaufrufen des Ministeriums wird mehrfach betont, dass Perspektiven von marginalisierten, von Diskriminierung betroffenen Gruppen einbezogen bzw. zum Ausgangspunkt der Arbeit gemacht werden sollen. Trotzdem wurden die meisten Interessensbekundungen von Selbstorganisationen abgelehnt. Das ist ein herber Verlust und schickt besonders migrantische Selbstorganisationen in die Unsichtbarkeit. Doch die Stimmen von Geflüchteten, Migrant*innen und anderen von Diskriminierung betroffenen Menschen brauchen Verstärkung, gerade in Sachsen!
Wir brauchen ein transparentes Verfahren und nachhaltige Förderung
Das Auswahlverfahren der Projekte ist nicht transparent. Selbst positive Bewertungen anerkannter Träger, Konzepte oder Ansätze scheinen nicht in die Förderpolitik eingeflossen zu sein. Auswahlkriterien und -verfahren müssen transparent gemacht werden.
Bildung funktioniert nicht über Nacht, sondern bedarf Dauerhaftigkeit. Die nachhaltigen Netzwerke, die wir initiieren und stärken, ermöglichen eine zuverlässige Ansprechbarkeit während der Projektlaufzeit. In allen Sparten unserer Arbeit verstärkt sich der Bedarf massiv. Unsere Glaubwürdigkeit bezüglich unserer Schwerpunkte bedarf daher einer kontinuierlichen Arbeit.
Stattdessen herrscht eine prekäre Lebens- und Arbeitssituation für die Angestellten. Die Bewerbung um Projekte befördert Konkurrenz zwischen Trägern, die eigentlich kooperieren und sich ergänzen. Weder werden Inhalte nachhaltig erhalten, noch faire Arbeitsverhältnisse gestiftet.
Wir brauchen dringend dauerhafte, verlässliche und nachhaltige Förderung demokratischer Bildungsarbeit. Die gegenwärtige politische Situation lässt sich nicht allein im Ehrenamt stemmen.
Die Bundesstruktur kann stärken und schützen
Die Schwerpunktverschiebung hin zu den kommunalen „Partnerschaften für Demokratie“ (PfD) und zulasten der zivilgesellschaftlichen Modellprojekte schafft zwei weitere Probleme. Zum einen fördern die „Partnerschaften für Demokratie“ mit geringen Beträgen überwiegend ehrenamtliches Engagement und ermöglichen somit nur in geringem Umfang professionelle Arbeit von Fachkräften vor Ort. Wir schätzen diese kleinteilige Präventionsstruktur, aber sie ersetzt weder die Erprobung und Etablierung modellhafter Ansätze, noch sichert sie Stellen für Fachkräfte und eine langfristige Expertise.
Zum anderen besteht die Gefahr, dass die Vergabe wichtiger Projektförderung durch Kommunen verhindert wird. Dies ist dann der Fall, wenn in Begleitausschüssen der „Partnerschaften für Demokratie” wenig Expertise vorhanden ist oder sie unter Druck extrem rechter Politiker*innen stehen. Gerade in Sachsen sind extrem rechte Politiker*innen in vielen Kommunalparlamenten vertreten. Das heißt, zivilgesellschaftliche Projekte werden nicht nur angefeindet, sondern in ihrer Existenz bedroht. PfD und Modellprojekte ergänzen sich vor Ort sinnvoll und geben sich gegenseitig fachliche und methodische Unterstützung.
In Sachsens stehen zivilgesellschaftliche Initiativen zunehmend unter Druck. Sie erleiden durch ihre klare Haltung für Demokratie und gegen antidemokratische Positionen verbale Anfeindungen und gewalttätige Angriffe. Die wenigen vorhandenen demokratischen Initiativen erhalten wichtige Rückendeckung von Modellprojekten. Dieser Rückhalt wird ab 2020 fehlen.
Je mehr Zeit wir verlieren, desto mehr Boden gewinnen die Antidemokrat*innen!
Solidarität darf kein Lippenbekenntnis sein, daher fordern wir von der Bundesregierung für Sachsen:
- Sofortmaßnahmen zur Kompensation der Ausfälle aus dem Bundesprogramm, konkret die Aufstockung der Anzahl der Modellprojekte, um mindestens die Höhe der zusätzlich bewilligten Mittel von 8 Mio. Euro.
- Zusätzlich zu innovativen Modellprojekten muss politische Bildung und Demokratiearbeit dauerhaft und institutionell gefördert werden. Es bedarf der Weiterförderung erfolgreicher Ansätze. Dazu muss endlich der gesetzliche Rahmen geschaffen werden.
- Ein transparentes System der Bewertungen und Entscheidungen der Interessenbekundungen.
- Die Einrichtung eines Beirats, in dem Trägerorganisationen Einfluss auf die künftige Ausgestaltung nehmen können.
- Die Umsetzung der Empfehlungen des ersten NSU-Untersuchungsausschusses des Deutschen Bundestages.
Wir schließen uns weiterhin der Forderung des bundesweiten offenen Briefes „Demokratie mobilisieren” vom 18.10.2019 an, die Mittel auf 200 Millionen Euro jährlich für die gesamte Förderperiode aufzustocken. Die Aufstockung sollte denjenigen Projekten und Aktivitäten zugutekommen, die auf derzeitige und auf künftige Probleme Antworten finden. (...)"