Pränataldiagnostik - ein Interview zu gesellschaftlichen, politischen und ethischen Fragestellungen

Dr. Anne-Katrin Olbrich auf einer Diskussion zu Pränataldiagnostik.

 

Wir haben Dr. Anne-Katrin Olbrich zu gesellschaftlichen, politischen und ethischen Fragestellungen der Pränataldiagnostik interviewt. Sie ist psychologische Beraterin in der Schwangeren-, Ehe- und Lebensberatung bei der Stadtmission Dresden sowie im Vorstand von weiterdenken - Heinrich-Böll-Stiftungen Sachsen.

Während Kritiker*innen das Recht auf Nichtwissen  fordern, betonen Befürworter*innen das Recht auf Wissen. Welches Wissen entsteht durch pränatale Untersuchungen?

Ich bin keine Ärztin und kann daher auf diese Frage nicht umfassend antworten. Als psychologische Beraterin sage ich: Das hängt davon ab, was ich wissen will. Das Recht auf Wissen und das Recht auf Nichtwissen schließen sich in der Praxis meist nicht aus: Es kann doch sein, dass ich ein bestimmtes Risiko ausschließen will, weil ich weiß, was es bedeutet, aber deshalb noch lange kein Rundum-Screening möchte.

Pränataldiagnostik kann Leben retten - sowohl das der Mutter als auch das des Ungeborenen: Das ist zum Beispiel der Fall, wenn das Kind so ungünstig liegt, dass eine normale Geburt nicht ohne schwerwiegendste Folgen möglich wäre; oder wenn das Ungebore einen schweren Herzfehler hat und eine normale Geburt nicht überleben könnte.

Pränataldiagnostik kann auch ein Segen sein, wenn ein konkreter Verdacht auf eine schwierige Erkrankung oder Fehlbildung eine unbefangene Schwangerschaft ohnehin nicht zulässt. Wie schön kann es sein, wenn dieser Verdacht möglicherweise ausgeräumt und der Rest der Schwangerschaft unbelastet erlebt werden kann.

Mit Hilfe der Pränataldiagnostik können Chromosomensätze ausgezählt werden. So können viele angeborene Behinderungen frühzeitig erkannt werden: am bekanntesten das Down Syndrom (das Chromosom 21 findet sich nicht nur zweimal, sondern dreimal). Wenn das Risiko einer genetischen Erkrankung vorliegt, kann man auch in tieferen genetischen Ebenen zunehmend mehr diagnostizieren. Meist muss dazu aber ein konkreter Hinweis vorliegen, wonach man suchen soll. Über die nichtinvasiven pränataldiagnostischen Verfahren, meist hochauflösender Ultraschall – unter Umständen in Kombination mit anderen Verfahren wie Blutuntersuchungen –, können erfahrene Pränataldiagnostiker*innen viel sehen: Liegt das Kind gut, sind seine Organe alle gut entwickelt – braucht es ein besonderes Geburtsmanagement, um einen guten Start ins Leben zu haben?

Inklusion ist ein gesellschaftliches Schlüsselwort. Gleichzeitig werden kaum noch Kinder mit einer Behinderung geboren. Wie passt das zusammen?

Zunächst: Im Jahr 2001 wurden in Deutschland 322.400 Kinder mit einer Behinderung geboren, 2015 waren es noch 290.300 Kinder. Das ist ein deutlicher Rückgang. Aber die Zahlen lassen nicht den Schluss zu, dass kaum noch Kinder mit einer Behinderung auf die Welt kommen.

Das wäre auch merkwürdig, entstehen doch auch während der Geburt hin und wieder Behinderungen, zum Beispiel durch Sauerstoffmangel. Darüber hinaus werden viele Behinderungen nicht als Grund für einen Abbruch betrachtet – sei es, weil Ärzte davon ausgehen, dass eine konkrete Behinderung operativ beseitigt oder gelindert werden kann, sei es, weil Eltern die konkrete Behinderung nicht als so beängstigend betrachten, dass sie sich ein Leben mit der Situation nicht vorstellen können (Blindheit beispielsweise), oder selbst gelernt haben, mit dieser Behinderung ein lebenswertes Leben zu führen, oder sei es auch, weil die Behinderung erst nach der Geburt – zum Teil deutlich nach der Geburt – diagnostiziert wird.

Was vermutlich zu diesem Gefühl führt, dass kaum noch Menschen mit Behinderung geboren würden, sind die Diagnosen Down Syndrom und andere zum Teil dramatischere Chromosomenanomalien, die relativ früh durch Pränataldiagnostik erkannt werden können und relativ oft zum Abbruch der Schwangerschaft führen.
Insofern ist das Thema Inklusion selbstverständlich auch weiterhin ein Thema. Zumal zahlenmäßig die meisten Behinderungen im Laufe eines Lebens auftreten und nicht schon vor der Geburt.

Und wer sagt denn, dass Inklusion nicht schon vor der Geburt beginnen kann? Nach meiner Erfahrung ist das „Recht auf Nichtwissen“ nicht der einzige Weg, sich auch für ein Kind mit einem Handicap zu entscheiden. Wir wünschen uns alle gesunde und fitte Kinder, und wir sind vermutlich alle zunächst erschrocken bis zutiefst erschüttert, wenn eine Diagnose zu der Erkenntnis führt: Das wird ein ganz anderes Leben. Ob das vor oder nach der Geburt passiert: Die Erschütterung ist da. Familien, die sich trotzdem für das Kind entschieden haben, meinten im Nachhinein auch: Für mich war es gut, zu wissen.

Wie frei und selbstbestimmt sind Frauen beziehungsweise Paare in der Entscheidung für oder gegen Pränataldiagnostik und für oder gegen ein Kind mit möglicher Behinderung?

Das ist eine große Frage! Das Gesetz ist da ganz eindeutig: Niemand darf eine Frau oder ein Paar dazu zwingen, ein Kind mit einer möglichen Behinderung nicht auszutragen. Ein Abbruch einer Schwangerschaft ist nur möglich, wenn es sich mit dem Leben der Frau nicht vereinbaren lässt, sie in schwere physische oder psychische Notlagen bringt. Insofern sind die Frauen in ihrer Entscheidung frei. Aber schon der Hinweis auf das Paar zeigt: Wir leben in Beziehungen – zunächst zum Partner, in Verantwortung zu Kindern, in Familien. Dazu kommt der Druck, den andere Menschen haben und zurückgeben: in erster Linie Ärzte, aber auch Arbeitgeber, Freunde …

Ärzte unterliegen auch gesetzgeberischem Druck: Sie müssen im Sinne des Selbstbestimmungsrechts der Frau über alle erkennbaren Fehlbildungen und deren mögliche Implikationen informieren. Andernfalls können sie juristisch auf Haftung belangt werden. Dazu kommen noch die Erfahrungen, die auch Ärzte prägen. Insofern wird es zunehmend schwieriger, eine freie und selbstbestimmte Entscheidung auf der Basis des Rechts auf Nichtwissen zu finden. Dazu müssen die Paare sich einig sein und ziemlich energisch bleiben.

Im Umkehrschluss habe ich die Erfahrung und verbinde damit auch meine ganze Hoffnung, dass eine freie und selbstbestimmte Entscheidung eher mit dem Recht auf Wissen verbunden wird: Dazu gehört dann aber nicht nur die medizinische Sicht, sondern vor allem die Reflexion eigener Werte, Lebensentwürfe, der Umgang mit großen Herausforderungen und das Gefühl, dass und wie sie auf die eigene Selbstverwirklichung zurückwirken.

Welche Entscheidung Frauen und Paare auch treffen – wenn sie sich diese Entscheidung selbst erarbeitet haben, dann können sie daran wachsen. Wenn sie in dem Gefühl bleiben, dass sie fremdbestimmt wurden, dann wird auch diese Erfahrung sie lange begleiten.

Was braucht es im Hinblick auf Gesellschaft, Ärzt*innen und Politik, damit sich Frauen und Paare frei und ohne Druck für oder gegen pränatale Diagnostik und für oder gegen ein Kind mit möglicher Behinderung entscheiden können?

Es braucht eher einen Blick auf das Leben der Familien mit behinderten Familienangehörigen. Es braucht eine Idee von Inklusion, die nicht an Leistung gebunden ist. Das heißt aus meiner Sicht: Inklusion beginnt nicht in der Schule, sondern im Alltag der Zivilgesellschaft und dort vor allem da, wo man sich wirklich mit Respekt und Gewinn an Lebenshorizont begegnet.