Sorel, Deleuze und Gezi ein Jahr danach Ein Bericht aus der Türkei von Alphan Tuncer

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Als in Istanbul Bürger_innen für den Erhalt des Gezi Parks und damit gegen die autoritäre Politik Erdogans protestieren, lösten sie mit ihrer kreativen und unerwarteten Art des Widerstandes eine ungeahnte Welle der Solidarität in weiteren Städten der Türkei, aber auch in Europa aus. «Occupy Gezi” und «Taksim ist überall, überall ist Widerstand” verbreitet sich über soziale Netze und wird zum Slogan für eine neuartige Protestkultur. In unserer Reihe «Europa Salons» haben wir die Gezi-Ereignisse und ihre politischen Implikationen mit Alpahn Tuncer diskutiert. Er war auch der Reiseleiter unserer diesjährigen Bildungsreise «Istanbul 2014 - Stadt in Bewegung». Seine Analyse der Gezi-Proteste hat er im folgenden Kommentar zusammenfassend dargestellt.
 

Mehr als ein Jahr ist vergangen seit den Ereignissen im Gezi-Park – der nie dagewesenen Welle von Massenprotesten gegen die Regierung, die Ende Mai in Istanbul begannen und sich bald in viele andere Städte ausbreiteten. In diesem kurzen Kommentar möchte ich zu Beginn noch einmal auf das Ereignis zurückkommen, da sich in dem, was im Gezi-Park geschah, der problematische Charakter des soziokulturellen, politischen und ökonomischen Lebens widerspiegelt – mit anderen Worten, die missliche Lage der türkischen Demokratie. Es umfasste: (1) die wichtigen Akteur_innen, die weiterhin den Kurs des Landes bestimmen; (2) die kollektiven Vorstellungen dieser gesellschaftlichen Kräfte, in rhetorischer wie ideologischer Form; (3) und deren Handlungsstrategien und -taktiken.
Ich möchte zunächst betonen, dass der Auslöser für die Ereignisse nicht allein das Ergebnis dessen war, was Fernand Braudel (1982) l’histoire événementielle nannte, also, die Geschichte der Ereignisse. Vielmehr möchte ich behaupten, dass die Ereignisse im Ergebnis dessen auftraten, was Braudel als «konjunkturelle Geschichte» bezeichnet; die der 12-jährigen Herrschaft der AKP von Premierminister Erdoğan im Allgemeinen, und der wachsenden autoritären Tendenzen des Premierministers im Speziellen. Beim genaueren Hinsehen zeigt sich, dass der Vorfall, der die Ereignisse in Gang setzte – der Plan, den Taksim-Platz umzugestalten und mitten in der Stadt einen Nachbau der osmanischen Kaserne zu errichten – ein Markenzeichen Erdoğans war und als perfektes Beispiel für die Nutzung von Architektur für ideologische, politische und diskursive Zwecke betrachtet werden kann. Ich würde diese Strategie der AKP als «doppelseitigen Orientalismus» bezeichnen, da sie erstens bereits vorhandene orientalistische Vorstellungen (wie die Vermarktung von Istanbul als einem Ort, wo Okzident auf Orient trifft usw.) nutzt, um die Stadt besser zu vermarkten. Zweitens hat sie auch eine innenpolitische Komponente, nämlich den Aufbau von Verbindungen mit dem osmanischen Erbe, was Assoziationen mit der Vergangenheit schafft. Schließlich zeigt der Entwurf der Kaserne, zu dem eine Einkaufsmeile, Restaurants, Cafés, ein Hotel und «Bewohner_innen» gehören, die Markenzeichen der neoliberalen Ökonomie, an der die AKP festhält.
Schält man noch eine weitere Haut von der Zwiebel ab, dann stößt man auf die Kalyon-Gruppe, (den mit dem Bau der Taşkışla–Kaserne betrauten Hauptauftragnehmer) und dessen enge Beziehungen zum Premierminister stehen sinnbildlich für die Beziehungen zwischen Regierung und Privatwirtschaft unter der AKP-Herrschaft. Entsprechend erlebte die Kalyon Group im letzten Jahrzehnt einen gewaltigen Anstieg ihrer Vermögenswerte dank ihrer Fähigkeit, den Zuschlag für verschiedene staatliche Ausschreibungen für Bau- und Infrastrukturprojekte wie den dritten Flughafen von Istanbul zu erhalten. Die Gruppe kaufte außerdem die türkische Mediengruppe Sabah-ATV (Zeitung und Fernsehsender), die sich hiernach zu einem eingefleischten Unterstützer des Premierministers wandelte. Die Verbindung zwischen Privatsektor und Mediensektor wirft auch ein Licht auf die Haltung der wichtigsten führenden türkischen Fernsehsender und Zeitungen, Selbstzensur auszuüben. Zur Erinnerung: Während die Proteste ihren Höhepunkt erreichten, verhielten sich führende Nachrichtensender in der Türkei – wie CNN Türk, der lieber Dokumentarfilme über Pinguine zeigte, als sich zu den Ereignissen zu äußern – gegenüber den Geschehnissen gleichgültig.  Der feste Griff, in dem die Regierung die Medien hält, stellt daher den problematischen Charakter der Presse- und Redefreiheit dar. Er wirft auch ein Licht auf deren Schweigen zur Frage der extremen Brutalität der Polizei, durch die mehr als 10 junge Menschen starben und mehr als 8000 Menschen verletzt wurden; ein weiteres Markenzeichen des Erdoğan-Regimes.
Schließlich kommen wir zur türkischen Jugend. Sie war es, die den Geist von Gezi erschuf, mit ihrem Mut, ihrer Energie und noch wichtiger, mit ihrem Wunsch und ihrer Fähigkeit, friedliche Methoden für den Widerstand gegen die Polizeibrutalität einzusetzen und 15 Tage lang eine quasi utopische Landschaft im Herzen Istanbuls zu schaffen. Die Szene eines «Bücherlesungs»-Sit-Ins direkt gegenüber den schwer bewaffneten Beamten der Bereitschaftspolizei während der ersten Tage des Protestes spiegelt meiner Meinung nach ganz klar den Charakter und den Unterschied dieser Bewegung im Vergleich zu früheren wider. Die Betonung der Pluralform, d.h., die «Bücher», verdeutlicht ihren Unterschied. Die Bewegung basierte von daher nicht auf einem einzigen «Buch», sondern auf mehreren «Büchern». Wenn wir daher Gilles Deleuze und Felix Guattari verwenden, können wir schlussfolgern, dass die Gezi-Bewegung mehr dem entsprach, was die Genannten als ein «Rhizom» bezeichneten, das sich auszeichnet durch «unaufhörlich hergestellte Verbindungen zwischen semiotischen Ketten, Machtorganisationen und Umständen bezüglich Kunst, Wissenschaft und sozialem Kampf», anstelle der klassischen «Organisationsstruktur des Wurzel-Baum-Systems». Darin liegt die Schwierigkeit von Gezi, die ich als Nächstes zu erklären versuchen möchte. Da sie keinen gemeinsamen Ursprung hatte, sondern auf einer Vielzahl beruhte, bestand das Problem der Atmosphäre nach Gezi darin, all diese verschiedenen gesellschaftlichen Kräfte um ein gemeinsames Programm herum zu organisieren. Obwohl diese Erfahrung sich nicht in einer breiten, fundierten Bewegung vergegenständlichte, die die Regierung herausforderte, ist sie doch wertvoll und besitzt das Potenzial, in der Zukunft der Türkei eine entscheidende Rolle zu spielen.
An dieser Stelle wollte ich gern Überlegungen anstellen zu dem, was Georges Sorel (1950) in seinem Buch «Über die Gewalt» mit Bezug auf die neue sozialistische Bewegung, die sich eben formierte, schrieb: «Alle Mitglieder der neuen Schule wissen, dass sie sich sehr anstrengen müssten, um die Vorurteile ihrer Erziehung zu überwinden, um die Assoziationen von Gedanken beiseite zu schieben, die spontan in ihrem Geist entstanden, und in einer Weise zu argumentieren, die in keiner Weise der entsprach, die ihnen beigebracht worden war». (1950: 159). Dies entspricht genau dem Dilemma und der Herausforderung, mit denen sich die Protestierenden von Gezi heute konfrontiert sehen. Sie mussten ein neues Vokabular finden, neue Praktiken, um Brücken und Verbindungen herzustellen, um jenen Geist wiederzubeleben, den hervorzurufen ihnen in diesen wenigen fünfzehn Tagen auf dem Taksim gelang. An dieser Stelle kann es hilfreich sein, über einen weiteren Gedanken Sorels nachzudenken. Da Sorel extrem stark damit beschäftigt war, eine Möglichkeit zur Errichtung einer sozialistischen Gesellschaft zu finden, griff er zwei Konzepte auf, die von dem neapolitanischen Philosophen Giambattista Vico (1668-1744) eingeführt worden waren, nämlich: (1) ricorso  «das Wiedererscheinen eines kreativen Geistes, der die dekadente Gesellschaft wiederbeleben könnte» – wie der des Urchristentums – und (2) das Konzept des «Sozialmythos», jenes «kollektive Bild, die soziale Poesie, die starke Emotionen heraufbeschwören kann, wodurch kreative Energie zu Handlungen mobilisiert wird» (Cox 2002: 51). Vor diesem Hintergrund bewahrt sich die Erfahrung von Gezi, der Kampf jener Tage, immer noch ihre magische Aura des Protestes und kann selbst ein «Sozialmythos» für das ricorso des türkischen gesellschaftspolitischen Lebens sein.

Ausgewählte Bibliografie
Braudel, Fernand (1982): On History. Chicago: The University of Chicago Press.
Cox, Robert W. (2002): The Political Economy of a Plural World: Critical Reflections on Power, Morals and Civilization. London and New York: Routledge.
Sorel, Georges (1950): Reflections on Violence. The Free Press: Glencoe, Illinois.