Der verdächtige Alltag – eine Spurensuche
Stolz sagt die Behörde, weltweit einmalig zu sein. Es gibt keinen schnellen Weg, um in ihr Inneres zu gelangen. Anträge müssen zuerst gestellt und schließlich bewilligt werden. Sorgfältigkeit im Umgang mit dem von ihr verwalteten Gut ist eines ihrer Arbeitsprinzipien. In Regalkilometern bewahrt sie, fügt zusammen und interpretiert, wie die Geschichte verstanden werden muss. Ihrem Ursprung entwachsen, bleibt sie dennoch ein Archiv. Nachdem die Zentrale meinen Antrag zur Aufarbeitung genehmigt hatte, konnte ich die schwere Tür an der abgerundeten Ecke des Eingangs passieren. Ich durchquerte einen dunklen Flur mit kurzer, steiler Treppe und öffnete eine kleine Glastür zum schmalen Empfangsraum, der von einem Tresen geteilt wurde. Durch einen Anruf überprüfte das Wachpersonal, ob es tatsächlich an diesem Tag und zu dieser Uhrzeit eine Terminvereinbarung mit einem Sachbearbeiter der Behörde gab. Das Wachpersonal trug marineblaue Uniformen. Die herausschauenden hellblauen Kragenspitzen und die dunkelblaue Krawatte ließen die Wachleute bestimmt und seriös erscheinen. Wem galt ihr Schutz, dem Drinnen oder dem Draußen? Nachdem alle Formalien überprüft waren, erhielt ich einen Spindschlüssel und quittierte dessen Ausgabezeit und Nummer auf einem Formblatt. Einen der zwei Durchschläge erhielt ich, um ihn später beim Verlassen der Behörde gemeinsam mit dem Schlüssel wieder abzugeben. Von einer eintretenden Sachbearbeiterin, die von da an meine Betreuerin war, wurde ich abgeholt und ins Wartezimmer begleitet, um dort auf sie und die von mir bestellten Akten zu warten. Die Sachbearbeiterin erschien schließlich wieder im Warteraum, um mich in den großen Saal zu begleiten. Sie schob den Wagen mit den Akten und setzte ihre Schritte langsam und ohne Hast. Manche der Akten waren ausgebeult und aufgebläht und konnten ihren Inhalt kaum noch fassen. Andere im aufgetürmten Stapel waren zart und schienen nur ein Blatt zu bergen. Jede Akte hatte eine Kennzeichnung, die sich aus Buchstaben, römischen Ziffern und Zahlen zusammensetzte. Diese Beschriftung stammte noch aus der Zeit, in der die Akten angelegt wurden. Die Behörde hatte blau gestempelt vier weitere Buchstaben hinzugefügt, bstu. Im Wartezimmer und auf dem Weg zum Saal flüsterten die Sachbearbeiterin und ich miteinander, obwohl es keine Aufforderungen gab, leise zu sprechen. Angekommen im großen Saal, empfing mich ein freundliches Nicken von Seiten der Aufsichtsperson an der Stirnseite des Raumes. Vor dieser Aufsichtsperson standen Tische mit jeweils einem Stuhl. Ich suchte mir einen Platz aus, am liebsten war mir der Tisch gleich neben der Wand. Dort nahm ich Platz, die Sachbearbeiterin stellte den Aktenwagen neben mir ab. Auf die Frage, wie lange ich bleiben würde, gab ich zur Antwort, das würde ich je nach Aktenlage entscheiden. Ich richtete mich am Tisch ein, sortierte die Mappen, legte Stift und Papier für Notizen zurecht und versuchte, mich auf das vor mir Liegende zu konzentrierten. Den sauren, abgestandenen und muffigen Geruch des alten Papiers, der mir stets beim Aufschlagen der Akten entgegenkam, nahm ich erst nach etlichen Besuchen in der Behörde als gegeben hin. In den Akten entdeckte ich Randvermerke in roter und schwarzer Farbe, dazu Ausrufe oder Fragezeichen zur Verstärkung der Berichte. Empörung, Emotionen. Kringel, die persönlich wurden. Dazwischen immer wieder mit Büroklammern befestigte Blätter, die verhindern sollten, dass auf dem darunter liegenden Bogen Namen sichtbar werden. Seiten über Seiten entblätterte ich. Abgelegtes Leben in Berichten und Bildern, von denen die Beschriebenen und Fotografierten nichts ahnten. Identitäten festgehalten und später abgeheftet auf dem Weg zum Garten, Briefkasten, Betrieb, zum Baggersee oder beim Gehen mit dem Hund. Schon während dieses ersten Besuches kam in mir das Verlangen auf, eine der kleinen schwarzweißen Fotografien aus der Akte vor mir mitzunehmen. Ich hielt das Bild eines Jungen, der auf einem Stein saß und zu Boden blickte, in den Händen. Jedes Mal ließ ich es mir bringen. Mir war nicht klar, ob er über etwas nachdachte oder gedankenleer die Ameisen, Käfer oder Sandkörner vor sich beobachtete. Erst nach einer Weile entdeckte ich den Hund, der mit einem Lächeln vom rechten Bildrand geradewegs auf den Jungen zugelaufen kam. Es schien mir damals noch ein Leichtes zu sein, diese Fotografie und weitere, an denen ich, kaum dass ich sie einmal gesehen hatte, zu hängen begonnen hatte, langsam und unmerklich in meiner Hosentasche verschwinden zu lassen. Mehr und mehr konzentrierte ich mich auf das Verhalten der Aufsichtsperson, doch ein Rest von Unsicherheit blieb. Um sie besser einschätzen zu können, ließ ich Stifte vom Tisch fallen, band mir meine Schnürsenkel neu, kramte in meinen Hosentaschen, putzte mir die Nase oder hüstelte hörbar. Ich konnte auch bei größter Achtsamkeit keine Regung bei der Aufsichtsperson erkennen. Später jedoch, nachdem ich die Behörde regelmäßig besucht hatte, war ich mir sicher, dass das Aufsichtspersonal darin ausgebildet war, mich unbeobachtet wähnen zu lassen. Neben einer gründlichen Schulung musste vor allem ihre langjährige Routine sie zu Meistern im Ahnen, Beobachten und Erkennen von nicht erlaubtem Verhalten gemacht haben. Nur zu berechtigt fand ich das Misstrauen, hätte ich mich doch schon längst dieser kleinen schwarz-weißen Fotografien bemächtigt, sie nach draußen gebracht, sie der Freiheit und Zerstörung preisgegeben.