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Aktenkilometer in die Vergangenheit

Lesedauer: 9 Minuten

 Sebastian Brünger, Dramaturg des Regiekollektivs Rimini Protokoll, beschreibt, wie in dem interaktiven und ortsspezifischen Theaterprojekt „Radioortung – 10 Aktenkilometer Dresden“ historische Quellen der Audioüberwachung durch die Stasi sowohl mit Originalorten als auch mit modernen Überwachungstechniken in Smartphones zusammengeführt werden.  

Wer heutzutage sein Smartphone benutzt, hinterlässt Spuren. Ob beim sms-Versand, beim Internetsurfen oder schlicht beim Spazierengehen – das kluge Mobiltelefon sammelt nicht nur Daten über das Einkaufsverhalten und Interessengebiete seiner Nutzer_innen (wie jeder andere Computer mit den entsprechenden Programmen auch). Nein, das Entscheidende ist, dass das Mobiltelefon sich permament seiner selbst versichert, wo es gerade steckt – und damit die realen Bewegungen seines Benutzers auf einer großen virtuellen Karte nachzeichnet. Jeder Funkmast, jedes offene wlan wird so zum Meldegänger des eigenen Bewegungsprofils. Durch das globale System der Satellitenortung in Perfektion gebracht, lässt sich jeder Smartphonenutzer im Idealfall bis auf 10 Meter genau lokalisieren. Was einst der Stolz hochgerüsteter Militärapparate war, passt nun in jede Manteltasche. Während eine Minderheit diese Smartphones als „Ortungswanzen“ verteufelt und sich mit ihren persönlichen Daten vor nsa, Google etc. nicht ausziehen will, kann sich die Mehrheit ein Leben ohne dieses Gerät gar nicht mehr vorstellen und käme sich geradezu nackt vor, das Haus ohne dies zu verlassen. Nun könnte man einwenden: Technik an sich ist weder gut, noch schlecht, sondern Menschen sind es, die diese Technik gebrauchen – und missbrauchen. Und das Sicherheits- und Rechtsempfinden jedes Einzelnen ist relativ zu der Gesellschaft und der Zeit, in der wir leben. Technik ist Potential. Auch für die Kunst.  

Technik war auch für das Aktenkilometer-Projekt von Rimini Protokoll der ursprüngliche, erste Impuls: Der Berliner Klangkünstler Udo Noll hatte eine App entwickelt, um mit Smartphones Sounds im öffentlichen Raum anzuhören – eine Art Google-Karte für Sounds – und die Hörspielredakteure von Deutschlandradio waren an verschiedene Künstler_innen mit der Frage herangetreten, ob sie sich mit der Technik auseinandersetzen wollten. Bei Rimini Protokoll befeuerte die Anfrage von Deutschlandradio die Idee, sich des Staatssicherheitsdienstes der ddr anzunehmen, mit dem wir uns in früheren Projekten bereits mehrmals aber nur oberflächlich beschäftigt hatten. Der zündende Gedanke war, das heutige Potential von digitaler Technik mit einer historischen Form von Überwachung und Kontrolle zu koppeln. So haben wir begonnen, uns für Stasi-Akten zu interessieren, wie sie an konkreten Orten entstanden sind, was sie über die Beobachteten berichten, was sie indirekt auch über die Verfasser_ innen erzählen. Konkret auf Dresden hatte uns der Landesbeauftrage für Stasi-Unterlagen Lutz Rathenow aufmerksam gemacht – auf den besonderen Status von Dresden zu ddr-Zeiten, das eine eigenwillige Beziehung aus Nähe und Distanz zu Berlin pflegte, das im „Tal der Ahnungslosen“ auch gleichsam die meisten Ausreiseanträge der ddr registriert hatte – und auf das nicht zuletzt auch die Stasi einen besonderen Blick hatte.  

Nach einer ersten Recherchephase in Dresden und einem Schneeballsystem von Aufrufen, Anzeigen und Fragen, Fragen, Fragen konnten wir diverse Menschen finden, die uns an die Orte ihrer Begegnungen mit der Stasi führten, dort ihre alten Akten aufschlugen und darin lasen. Dabei entstand eine große Bandbreite an Erfahrungen und Haltungen, an Erinnerungen und Emotionen. So standen wir in einem der ersten Interviews mit einer Frau vor dem Haus, in dem sie mit ihrem Mann gewohnt hatte, und sie las aus ihrer Akte vor, in der ihr Mann von dem in jenem Haus gemeinsam gelebten Leben in allen Einzelheiten der Stasi berichtete. Jenseits der direkt Betroffenen haben wir auch früh Kontakt zu Mitarbeiter_innen der Stasi- Unterlagenbehörde gesucht, die von der Betreuung in der Akteneinsicht erzählten oder erklärten, warum Namen von anderen Opfern in den Akten geschwärzt werden – von Täter_innen aber nicht. Auf einer dritten Ebene wurden Interviews mit Historiker_innen durchgeführt, die die Erfahrungen der Betroffenen in größere Zusammenhänge einzuordnen verstanden oder auch die Formen der Abhörtechnik erklärten, wie Stimmen durch geschlossene Fenster „abgenommen“ werden konnten. Thematisch war das Spektrum schließlich so breit wie die tatsächliche Karte von Dresden, auf der die Orte verteilt waren. Das Gebiet erstreckt sich vom überwachten Kino „Schauburg“ in der Dresdner Neustadt im Norden bis zum Hauptbahnhof im Süden, wo im Herbst 1989 der Protest erst eskalierte und dann ein erster Dialog zwischen Demonstrierenden und Staatsmacht zustande kam. Im Westen wurde das Gebiet begrenzt durch das Schauspielhaus, wo unter den Augen „inoffizieller Mitarbeiter“ kontroverse Inszenierungen erarbeitet wurden, im Osten durch die ehemalige Bezirksverwaltung des mfs in der Bautzner Straße bzw. das Fußballstadion von Dynamo Dresden.  

Ein zweiter Rechercheweg führte uns in die Archive des Bundesbeauftragten für Stasi-Unterlagen. Dort liegen immer noch unzählige Tonbänder meist aus der Zeit der 1980er Jahre. Hier faszinierten uns zum einen Telefonaufzeichnungen der Telefonzentrale der Bezirksverwaltung, bei der regelmäßig Anrufe zu Vorkommnissen in Dresden eingingen. Das mfs hatte sich sozusagen auch selbst abgehört, und so ungezwungen und unverblümt haben wohl die wenigsten Dresdner Stasi-Leute reden hören. Diese Tondokumente vermitteln einen Eindruck, über welche Dinge die Mitarbeiter des mfs Meldungen erstattet haben und wie der Austausch von Informationen im Zeitalter von Münzfernsprechern und Fernschreibern stattgefunden hat. Eine andere Art eindrücklicher Tondokumente sind die Originalmitschnitte von Verhören und akustischen Bespitzelungen durch das mfs. Diese Mitschnitte wurden für unser Projekt anonymisiert und zeugen von den mfs-Methoden der direkten und indirekten Verfolgung und Repression. Nicht zuletzt gibt es eine Vielzahl an aufgenommenen Berichten von Inoffiziellen Mitarbeiter_innen – ob aus der Kreuzkirche, von Robotron am Pirnaischen Platz oder aus konspirativen Wohnungen auf der Prager Straße.  

Am Ende des Entwicklungsprozesses stand ein Projekt, das die Stasiakten und ihre Zuarbeiten konkret und im Detail erfahrbar macht – an den Orten ihrer Entstehung, aus der Perspektive der Betroffenen. Die Besucher des Hörspiels können mit einem Stadtplan und einem Smartphone durch Dresden laufen, hören dabei an den authentischen Orten Auszüge aus Stasi-Akten von damals sowie Erinnerungen und Kommentare von Betroffenen aus heutiger Sicht. Die Stadt wird zu einem hörbaren, höchst subjektiven Archiv, über acht Stunden Audiomaterial sind im Dresdner Stadtraum verteilt. Alleine oder in Gruppen gilt es dabei für die Hörspiel-Besucher_innen, sich für eine Route zu entscheiden und an über 100 Orten selbst mit der Rolle der Überwachungsinstanz umzugehen: Wie nah kommt man den „Objekten“, wie offensichtlich schaut man hin, wie offen gibt man sich als Beobachter_in zu erkennen? Nicht zuletzt sind alle Teilnehmenden für die anderen Besucher_innen durch die einheitlichen Kopfhörer klar und „komplizenhaft“ auszumachen. Im „Kontrollzentrum“ im Schauspielhaus können alle Teilnehmenden auf einer virtuellen Karte in Echtzeit nachvollzogen und mit sms-Nachrichten daran erinnert werden, dass auch sie als Beobachter_innen beobachtet werden.  

Die Mobilfunktechnik der Selbstverortung und des Hörspiel-Hörens vor Ort ist eine Möglichkeit, aus der Gegenwart heraus eine Sonde in die Vergangenheit zu schicken – eine Art zeitliche Probebohrung an konkreten Orten in Dresden, um das Thema Staatssicherheit für eine breite Öffentlichkeit erfahrbar zu machen. Durch die Zeitzeugen_inneninterviews in Kombination mit Original-Tondokumenten der Bezirksverwaltung Dresden haben wir vielfältige Zugänge geschaffen, die das Thema öffnen und zu Diskussionen anregen. Das breite Spektrum an Stimmen veranschaulicht die vielfältige Durchdringung der Dresdner Gesellschaft durch das mfs in Politik, Sport, Medien, Kultur, Alltag etc. und ermöglicht so jedem einzelnen Besucher, sich jenseits von eindimensionalen Täter-Opfer-Zuschreibungen dazu in Bezug zu setzen sowie sich eine eigene Meinung zu bilden. Die Mobilfunktechnik ist ein eigenwilliges Medium, das neuartige Perspektiven eröffnet – sowohl für jüngere Generationen, die keine oder kaum eigene Erfahrungen mehr mit der ddr verbinden, als auch für ältere Generationen, die gegebenenfalls des Themas Stasi schon überdrüssig sind.  

Denn letztlich ist es jeder einzelnen Besucher_in selbst überlassen: Er oder sie muss sich mit dem Telefon entscheiden, welche Route gelaufen wird – welches Hörspiel man sich zusammenstellen will. Er oder sie muss sich an den Orten verhalten – als Zuhörer und Beobachterin, den Blick der Stasi nachvollziehend. Er oder sie muss sich entscheiden, welchen Geschichten gefolgt wird, welche Personen man verfolgt. Denn letztlich findet sich jeder Besucher_ in zwischen drei starken Erzählinstanzen wieder, die alle drei einen mächtigen Authentizitätseffekt haben. Da ist zum einen die Autorität der Akte selbst. Ein Bericht im Stasi- Deutsch mit Stempel wirkt noch immer – bedrohlich, befremdlich oder absurd. Da ist zum zweiten die Unmittelbarkeit des Ortes, an dem man sich bewegt. Auch wenn er in der Gegenwart vielleicht etwas anders aussieht – der Zauber der Vergangenheit scheint ihm immer noch inne zu wohnen. Nicht zuletzt vermitteln drittens die Stimmen der Betroffenen eine emotionale Wahrhaftigkeit, die im ersten Moment immer überwältigend wirkt. Die Erinnerung der Zeitzeug_innen ist die Verbindung in eine Welt, die nicht die unsrige ist, die wir aber durch sie zu begreifen meinen. Kurzum: Alle drei Instanzen versprechen maximale Echtheit, aber so etwas wie eine „historische Wahrheit“ wird sich immer nur irgendwo zwischen den Instanzen finden lassen. Arbeiten von Rimini Protokoll wie „10 Aktenkilometer“ verdeutlichen und spielen mit diesen Effekten von Authentizität. Die Verwendung von dokumentarischem Material befragt hier den vermeintlich klaren Gegensatz von Fakten versus Fiktionen und eröffnet im besten Fall neue Sichtweisen auf das, was wir auf Theaterund Lebensbühnen zu sehen gewohnt sind. Eine solche Arbeitsweise beansprucht dabei keine eindeutige, richtige Position oder ein politisches Programm. Nicht zuletzt dadurch unterscheiden sich unsere Arbeiten von den Klassikern des „Dokumentarischen Theaters“ der 1960er Jahre. In diesem Sinne müssen sich die Läufer_innen der Aktenkilometer selbst entscheiden, wie sie sich einer „historischen Wahrheit“ annähern wollen. Am Ende führen die Besucher_innen selbst die Geschichten zusammen, schreiben sie zu Ende, verbinden die Fäden des Hörspiels zu einem eigenen Bild und gleichen es mit ihren Erfahrungen und ihrer Gegenwart ab. Am Ende, wenn die Besucher_innen sich ihr eigenes Hörspiel erlaufen haben, geben sie das Smartphone wieder im Theater ab und bekommen dafür eine spezielle Karte zurück. Eine Karte, die genau nachzeichnet, wo sie gewesen sind, wo sie verweilt sind und zugehört haben, oder wo sie schnell durchgelaufen sind und kein Interesse hatten. Das Telefon ist Medium und Kontrollinstanz in einem. Wenn man sich auf auf die Technik einlässt, kann man sich ihr nicht entziehen – in der Kunst, wie im realen Leben.