Occupy Gezi Park – was die Proteste für die Türkei und Europa bedeuten

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Das erste Thema dieser Europasalon-Triade war der türkischen Protestbewegung gewidmet: „Occupy Gezi Park – was die Proteste für die Türkei und Europa bedeuten.“

Den Auftakt im Chemnitzer Weltecho (28.10.) machten Mehtap Söyler von der Universität Freiburg und Alphan Tuncer aus Berlin. Beide sind promovierte Politikwissenschaftler_innen der Humboldt-Universität Berlin und während der Proteste in Istanbul gewesen. Mit ihren Bildern, die sie dem Publikum präsentierten, haben sie den jungen Interessierten einen lebendigen Eindruck von der Occupy Bewegung vermitteln können. Auf Nachfragen der Moderatorin Iwelina Fröhlich vom Lehrstuhl für Didaktik der politischen Bildung an der Technischen Universität Dresden, wurden weitere Hintergründe der Proteste klar.

 Dass diese „Bewegung“ eine sehr heterogene Zusammenkunft unterschiedlicher Gruppen ist, die dort auf dem Taksim-Platz in Istanbul gegen den Bau eines weiteren Einkaufszentrums protestieren, hat man von Mehtap Söyler und Alphan Tuncer erfahren können. Feministinnen, Aleviten, Kurden, antikapitalistische Muslime, homo- und transsexuelle Aktivist_innen , sogar Galatasaray und Besiktas- Anhänger - eigentlich verfeindete Fußballfans bestimmten das Bild. Sie setzen sich der mehr und mehr autoritär regierenden AKP zur Wehr und fordern die Freiheit des öffentlichen Raums.

Das, so betont Mehtap Söyler auch am zweiten Abend im Literaturhaus Augustin in Dresden (29.10.), sei ein wesentlicher Aspekt der Proteste: Im Vergleich zu anderen Protesten sind diese Menschen keine Opfer der Finanzkrise. Zwar fühlten sie sich auch benachteiligt, seien aber von der eingeschränkten Freiheit des öffentlichen Raumes, der Meinungs- und Versammlungsfreiheit bedroht, weniger von wirtschaftlicher und sozialer Not. Sie gehörten der türkischen Mittelschicht an, die eigentlich sogar vom wirtschaftlichen Wachstum unter Tayyip Erdogans Regierung profitiert haben.

Außerdem sei dies keine Generation, die zum ersten Mal auf die Straße geht, so die These von Dr. Gökhan Tuncer, Dozent im deutsch-türkischen Masterstudiengang an der Humboldt-Universität Berlin, der gemeinsam mit Mehtap Söyler zum Europasalon in Dresden gekommen war. Vielmehr ließe sich der Protest in die Geschichte einer Reihe kleinerer Proteste einbetten, die auf dem Gezi-Park stattgefunden haben. Frauen, Umwelt- und Antiatom-Aktivist_innen und Homo- und Transsexuelle sind schon in den 1980er und 1990er Jahren immer wieder für ihre Rechte auf die Straße gegangen. Wie die Proteste in Europa und insbesondere in Deutschland und der Türkei wahrgenommen werden, interessierte das Publikum in Dresden. Auch hier wurde in der Diskussion deutlich, dass sich zwischen den AKP-Befürworter_innen, die größtenteils aus ländlichen Regionen der Türkei stammen und ihren städtischen Gegnern Gräben auftun. So sei auch die Spaltung der Gesellschaft eine Gefahr für die türkische Gesellschaft. 

In Leipzig sorgten die Vorträge von Herrn Dr. Malte Fuhrmann und Dr. Gökhan Tuncer für eine rege Diskussion und teils hitzige Reaktionen des Publikums. Ersterer war Mitarbeiter am Zentrum Moderner Orient in Berlin, lehrte an der Fatih Universität in Istanbul und am dortigen Orient-Institut und war selbst als Beobachter und Aktivist bei den Protesten im Gezi-Park dabei. Er analysierte die Gruppe der Protestierenden aus historisch-städtebaulicher Sicht, dokumentierte die dortige Stimmung mit Bildern und unterstrich ähnlich wie die anderen Referent_innen die nie dagewesene Heterogenität der Demonstrant_innen. Als „gemeinsam individuell“ lässt sich vielleicht die dort entstandene Protestkultur gut zusammenfassen. Dr. Gökhan Tuncer sorgte für Widerspruch im Publikum, als er die Regierung Erdogan missverständlich als Experten-Regierung deklarierte. Für Tuncer stehen die Proteste in der Türkei nicht in einer Reihe mit denen des arabischen Frühlings, da es in Istanbul nicht darum ging, ein autoritäres Regime zu stürzen, sondern Korrekturen herbeizuführen. Es handele sich im strengen Sinne nicht um eine genuin politische Protestkultur, sondern eher um eine sozio-urbane, wie es eine Stimme aus dem Publikum nannte.

Alle drei Veranstaltungen waren von der Hoffnung geprägt, dass die Proteste nicht im Sande verlaufen, sondern nachhaltig wirken. Möglich ist, dass sie nicht nur den Bau eines Einkaufszentrums am Gezi Park, sondern eine weitere Kommerzialisierung und Gentrifizierung der türkischen Städte verhindern können. Und über die Straße hinaus ist auch ein weiteres neues Pflänzchen gewachsen: Die vor einigen Wochen neu gegründete Gezi Partei.