Dresdener LernKulturTage - Individuelles Lernen

Lesedauer: 10 Minuten

Im Rahmen des Bildungsforums der „Dresdener LernKulturTage“ 2012 diskutierten wir über die politischen Rahmenbedingungen für eine gelungene Lernkultur an sächsischen Schulen. Jenseits von Schulstrukturdebatten gilt die Etablierung einer guten Lernkultur als entscheidende Herausforderung des Schulwesens. Zwar ist weithin unstrittig, dass individuelle Förderung, methodische Vielfalt, Beteiligung von Schülern und Eltern sowie die Einbindung in das lokale Umfeld wesentliche Bestandteile einer gelungenen Lernkultur sind. Die Umsetzung lässt jedoch vielfach auf sich warten und scheitert allzu oft an den politischen Rahmenbedingungen.

Was kann also Politik tun, um eine innovative Lernkultur zu ermöglichen? Wie viel Selbstständigkeit und welche Unterstützungsleistungen brauchen Schulen, um Freude am Lernen und Leistungsfähigkeit zusammenzubringen? Welche Kompetenzen müssen in der Aus- und Weiterbildung von Lehrkräften vermittelt werden? Was muss sich verändern, damit sich Eltern und Schüler stärker einbringen können und wollen? Und nicht zuletzt: welche personelle und finanzielle Ausstattung brauchen Schulen, um eine erfolgreiche Lernkultur umsetzen zu können? Wir wollen im Rahmen einer Podiumsdiskussion Anspruch und Wirklichkeit der schulischen Lernkultur diskutieren.

18:00 Uhr

"Individualisierung - das Geheimnis guter Schulen"

Ausschnitte aus Filmen von Reinhard Kahl mit Einführung



19:30 Uhr  Vortrag von Christian Füller

"Individuelles Lernen als Zukunftsformel und Fetisch: Anmerkungen zu den rosaroten Kahlwölkchen"



anschließend Podiumsdiskussion

mit

Annekathrin Giegengack, MdL, bildungspolitische Sprecherin der Fraktion Bündnis90/ Die Grünen Thomas Colditz, MdL, bildungspolitischer Sprecher der CDU-Fraktion

Kerstin Reetz-Schulz, Geschäftsführerin Omse e.V.

Siegfried Kost, Geschäftsführer einer Freien Schule

Christian Füller, Journalist und Autor, Bildungsexperte 

Moderation: Burkhard Naumann

 

Hier die Kurzthesen von Christian Füller, die er auch auf seinem Blog pisaversteher.com veröffentlicht hat:

Individuelles Lernen 2: So einfach und so komplex

Indivividuelles Lernen ist kein Filmchen, sondern eine große Herausforderung. Es geht um nichts weniger als die seelische Krise von Kindheit und Schule.

3 Thesen für den Input bei den Lernkulturtagen

1: Individuelles Lernen ist Antwort auf eine dramatische Modernisierungslücke

Schulen werden im Prinzip noch wie die Armeen des alten Fritz bewegt!

Von vorne, im Gleichschritt, memorierend. Das darf mit den Herausforderungen des 21. Jahrunderts nichts mehr zu tun haben.

Individuelles Lernen ist einfache Antwort auf kollektive Erstarrung der Schule.  



2. Individuelles Lernen ist so schön und so komplex anzuschauen wie ein Fußballspiel des FC Barcelona:

Alles, was wir bisher übers Lernen wussten, wird auf den Kopf gestellt: Der Lehrer steht nicht mehr vorne, die Tafel ist ein riesiger Bildschirm, die Klassenzimmer diversifizieren sich

INDIVIDUELLES LERNEN IST IM VERSTEHEN UND IMPLEMENTIEREN EINE GIGANTISCHE INTELLEKTUELLE HERAUSFORDERUNG.



3. Individuelles Lernen bedarf einer Neuerfindung des Verhältnisses von Lehrer und Schüler.

Die Beziehung wird näher, besser – und gefährdeter

DER PÄDAGOGISCHE EROS IST KEINE ANTWORT AUF DIE BEZIEHUNGSKRISE, SONDERN TEIL DER SCHWEREN SEELISCHEN KRISE DER SCHULE.

 

Indidviduelles Lernen – Zauberformel und Beschwörungsfetisch

Christian Füller, 27. April 2012



Alle sprechen darüber. Keiner kommt daran vorbei, egal ob der reaktionäre Realschullehrerverband oder die versteinert linke Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft. Von der grünen Bildungsministerin aus NRW, Sylvia Löhrmann, bis zu ihrem bayerischen CSU-Pendant Ludwig Spaenle verwenden sie den Begriff. Der Blockbuster der Bildungsdebatte ist: das individuelle Lernen.

Was ist dieses individuelle Lernen? Wieso ist es zum neuen Leitmotiv geworden? Und gibt es nicht allen Grund, den Begriff und seine pädagogische Wirklichkeit zu hinterfragen, wenn das Label eine so überragende Bedeutung bekommen hat?

Individuelles Lernen bedeutet: Jeder Schüler lernt in seiner Geschwindikeit, in seiner Eigenart – und die Lerngruppe bliebt trotzdem prinzipiell zusammen.

Das individuelle Lernen ist anders als sein Gegenstück, der Frontalunterricht, kein Marsch im Gleichschritt. Es ist kein zwingend gleichzeitiges Abarbeiten von Lernzielen, bei dem sich die Geschwindigkeit notwendig immer an ein mittleres Publikum richtet: und eine Reihe langsamer lernender Schüler abhängt und bestraft; und ein Gruppe potenzieller Schnellerner langweilt.

Das ist ein unbestreitbarer Vorteil – und dennoch ist das ständig vorgetragene Mantra des indviduellen Lernens auch eine Fassade. Ein Wolkenkuckucksheim, das in der Realität teilweise nur mit Mühe eingeführt werden kann. Zwischen Anspruch und Wirklichkeit klaffen teilweise erhebliche Lücken. Das individuelle Lernen in seiner hochpotenten Endstufe erreicht die Masse der Schulen derzeit noch nicht. Dafür gibt es verschiedenste Gründe, und von denen soll hier die Rede sein: Inkompatibilität, Inkompetenz, Inakzeptanz und – das ist das schlimmste – eine gefährliche Mischform von allen drei Gründen.



Meine These lautet daher:

Der Schritt von der „Feuerzangenbowle“ zu den „Treibhäusern der Zukunft“ ist keine cineastische Frage, sondern Ergebnis eines gemeinsamen Umdenkens:

  •     Lehrer müssen den Sortierauftrag vergessen

  •     Eltern ihren Klassenkampf aufhören

  •     Politiker nachhaltig Rahmenbedingungen setzen

Das alle gilt, wenn wir das individuelle Lernen wollen; wollen wir es? Warum wollen wir es?

Ich will es. Und dafür gibt es drei Gründe: (ausgeführt, Siehe unten)



No 1: Die weit verbreitete finstere Realität der Stino-Schule, der ganz normalen Regelschule und ihrer Didaktik.

No 2: Die Tatsache, dass bereits seit 100 Jahren alternative Lern- und Lehrformen praktiziert werden

No 3: Das sich rasend schnell ausbreitende Motto des Lernen2.0 mit kollaborativen Web-Tools

Vom Lernen1.0 zu 2.0 dauert es acht bis 15 Jahre



Warum führen wir, wenn die Ergebnisse des Lernens1.0 so schlecht und die Welt des Lernens2.0 so rosarot ist, dann nicht einfach 2.0 ein? Weil anders als bei einem Bettriebssystem Lernen2.0 nicht einfach hochgeladen werden kann. Schulen sind komplexe soziale Systeme, die nicht neu installiert, kurz abgeschaltet und wieder hochgefahren werden. Und, was die Propagandisten weder des pädagogischen noch des digitalen Lernen2.0 verraten: Nach 1.0 kommt 1.1 bis 1.10, 11, 12 oder gar mehr – und dann erst kommt 2.0. Der Schritt zum Lernen2.0 dauert keine logische Sekunde, sondern acht bis 15 Jahre – sofern alle Beteiligten mitspielen. Aber das tun sie nicht.



Genauer: Sie tun es (allenfalls an einer konkreten Schule) unter Anleitung einer charismatischen Rektorenfigur, unterstützt von einem engagierten Lernteam und, nicht selten, gestützt einem hochsolidarischem Umfeld (Eltern, Wirtschaft, Gesellschaft) Und: sie benötigen, mindestens, die Tolerierung durch eine vielschichtige Administration.

Kahls Filme sind wie Himmelbetten ohne Bauanleitung



Wer einen der betörenden Filme von Reinhard Kahl sieht, und zwischendurch jauchzt und jubelt, dem sei gesagt: Es ist ein wichtiges und schönes Bild, das Kahl zeichnet – aber es ist noch nicht die fertige Realität, sondern immer noch eine Utopie. Jede Schule muss sich ihr individuelles Lernen gewissermaßen selbst erkämpfen, und es ist immer mit mehr Engagement, mehr Arbeit und mehr Verzicht verbunden. Es wird freilich mit einem enormen Gewinn an Lernfreude und positiven Lebensernergien belohnt. Bei Kahls Kongressen ist es verpönt „aber“ zu sagen und es ist geradezu verboten, zu jammern. Das hat einen gewissen Charme für die Konstruktion einer utopischen Idee. Aber es birgt auch die Gefahr der praktischen Enttäuschung, die bespielsweise auftritt, wenn der Ikea-Kunde immer das Himmelbett vor Augen hat, das er sich gerade gekauft hat, aber die Kartons, die Bauanleitungen und die – fehlenden – Schrauben erst noch studieren muss. Der Vorteil: Ikea-Möbel haben eine Bauanleitung – Kahl-Filme nicht.

Die drei am weitesten verbreiteten Probleme lassen sich unter Inkompatibilität, Inkompetenz und Inakzeptanz fassen:



No 1: Inkompatibilität bedeutet, dass das Lernen2.0 ein ganzes Arrangement von aufeinander abgestimmten Bausteinen braucht – sonst geht es nicht: Die Kernelemente sind

  • Abschaffung des vorgeschriebenen Kollektiv-Lehrplans zugunsten von individuell gestaltbaren Wochenplänen und/oder Logbüchern

  • Abschaffung der 45-Minutentakte zugunsten längerer Zeitphasen, die bis zu sechswöchigen Großprojekten reichen

  •  Abschaffung bzw. Auflösung der Fächer zugunsten eines Sets von Lernformaten wie Lernbüro, Projekt, Werkstatt etc.

  • (Weitgehende) Abschaffung von zentralen Tests mit Noten zu dezentralen „Prüfungsformen“ wie Präsentation etc. mit alternativen Bewertungen wie Lernentwicklungsberichten sowie Personalgesprächen

  • Transformation der Lehrerrolle vom steuernden Wissensträger und -vermittler hin zum Moderator, Lernbegleiter und Arrangeur von Lerngelegenheiten: mehr Pädagogik (weniger Fachwissen?)

Interessant ist: Ich habe viele solcher Schulen besucht, und ich habe noch kein 1:1-identisches Arrangement an Lernformaten gesehen. Der riesige PR- und Implementationsvorteil des Frontalunterrichts ist: Jeder versteht sofort, was gemeint ist, weil es jeder erlebt bzw. erlitten hat und weil es auch ein simples Arrangement ist.

Die Feuerzangenbowle ist entzückend und Dr. Pfeiffer alias Heinz Rühmann versteht jeder. Kahls Filme sind entzückend, aber didaktisch versteht man sie nicht, jedenfalls nicht vom bloßen Ansehen.

Oder in der Fußballsprache: Manndeckung versteht jeder sofort! Eine Viererkette aber ist ein komplexes Modell, das von Spielern und Zuschauern ein höheres Maß an Intelligenz erfordert. Womit wir beim zweiten Problem sind:



No 2: Inkompetenz

Nicht wenige Lehrer sagen wahlweise, sie könnten den neuen Unterricht nicht bzw. sie glaubten nicht, dass er funktioniert. Es ist egal, ob das eine Tatsache oder Faulheit ist, das Problem ist real. Teilweise verabschieden sich 30 bis 40 Prozent der Lehrerkollegien innerlich oder äußerlich von dem neuen System: Sie verweigern sich oder sie gehen. Das ist für jedes Kollegium ein schwerer Schlag bei der Umstellung. Stellen sie sich vor, sie spielen ein 4:3:3-System und das Mittelfeld besteht darauf, weiter Manndeckung zu praktizieren.



No 3: Inakzeptanz

Das neue Lernen hat drei bitterböse Gegner – die Eltern, die Politiker, die Lehrerverbände – und einen völlig überdrehten Lautsprecher: die Presse. Alle vier sind konservativ eingestellt, alle vier sind jederzeit bereit, mitten im Verfahren den ganzen Betrieb lahmzulegen. Es ist, als wenn sich die Familie darauf geeinigt hätte, das Lamm im schonenden Niedertemperaturverfahren zu garen – und alle paar Minuten rennt jemand an den Ofen und dreht auf 220 Grad.



Was können wir nun tun, um das individuelle Lernen erfolgreich in den Schulen einzuführen? Und ist es überhaupt der richtige Weg?

Drei Gründe, warum das Lernen2.0 kommen wird



No 1: Die weit verbreitete finstere Realität der Stino-Schule, der ganz normalen Regelschule und ihrer Didaktik.

Die Ergebnisse der gegliederten Schule und ihres Benotungs- und Sortiersystems sind kein Vergnügen. Sie sind im Gegenteil ein demokratisches, demografisches und arbeitsmarktpolitisches Risiko. Von Chancengleichheit kann keine Rede sein. Ein Land wie die Bundesrepublik kann es sich nicht leisten, durch negative Ausleseeffekte Zigtausende Schüler ohne Abschluss aus den Schulen zu entlassen, 400.000 Schüler in so genannten Förderschulen einzusperren und fast eine Millionen Schüler in niedere Schulformen zu stecken. In diesen demotivierenden differenziellen Lernmilieus werden Schüler am Lernen mehr gehindert als gefördert: Man spricht zurecht von Unterschichtsfabriken.

Ich erspare mir, die Ergebnisse der – von den Kultusministern absichtlich unterdrückten – Baumertstudie und viele andere Risikoschülerstatisiken vorzutragen und verweise nur auf einen für jeden einsehbaren Skandal: Seit der ersten Pisastudie vor zehn Jahren ist es nur in drei von 16 Bundesländern (in ingesamt drei gemessenen Domänen) gelungen, mehr Spitzenschüler als Risikoschüler zu produzieren: Sachsen, Thüringen und Bayern. Das ist untragbar, und dieses Ergebnis ist eng mit der der so genannten „Lernmethode“ der Lehr- und Stundenplanschule verbunden.



No 2: Die Tatsache, dass bereits seit 100 Jahren alternative Lern- und Lehrformen praktiziert werden, die allerdings erst in jüngerer Zeit zu einer durchgearbeiteten Pädagogik geführt haben: dem individuellen Lernen. Wir finden heute in ca. 200 bis schätzungsweise 300 deutsche Schulen individuelles Lernen in ausgebauter Form vor. Dort ist ein – relativ komplexes – neues Lernarrangement zu beobachten, das dem einzelnen Schüler viel mehr individuelle Freiheiten lässt und seine intrinsische Motivation erheblich anspornt. Die Ergebnisse dieser Schulen sind beachtlich. Sie sind in der Negativbilanz viel weniger schlecht, sie sind in der Positivbilanz vor allem durch überragende Einzelleistungen und durch ein – gefühlt – höheres Selbstbewusstsein gut.



No 3: Das sich rasend schnell ausbreitende Motto des Lernen2.0 mit kollaborativen Web-Tools

Zu der Gruppe derer, die das individuelle Lernen propagieren, hat sich in den letzten drei bis fünf Jahren eine Gruppe von digital natives und Lehrer-Bloggern gesellt, die das Lernen2.0 auf ihre Fahnen schreiben. Die Prinzipien sind die gleichen, wobei die Nerds Individualität und Kollaboration als die ureigensten Sekundärtugenden des Web2.0 ansehen: Das Netz erhöht die kreativen und produktiven Fähigkeiten des Individuums – jedermensch kann heute binnen wenigen Minuten einen intelligenten (oder bekloppten) BlogBeitrag auf einem handelsüblichen Smartphone herstellen, multimedial ausschmücken und ihn mit ein paar Bildschirmberührungen für die ganze Welt sichtbar machen. Das heißt, er kann seine originelle Leistung sehr schnell mit sehr vielen teilen – und sie von einem hochintelligenten (und teilweise komplett bescheuerten) Kollektiv veredeln lassen. Oder sich von ihm beschimpfen, stalken und beschämen lassen. (kollaborative oder Schwarmintelligenz vs. Shitstorm)

 

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