Interview mit Mandy Herrmann
Mandy Herrmann ist Kindheitspädagogin und arbeitet als Kita-Leiterin im Wartburgkreis. Zurzeit macht sie außerdem ihren Master-Abschluss im Studiengang „Soziale Arbeit“ mit dem Vertiefungsschwerpunkt „Bildung für nachhaltige Entwicklung“.
Mandy Herrmann ist Mitglied des bundesweiten „GEW-Arbeitskreises Inklusion“ und Vorstandsmitglied im Arbeitskreis „Kontaktvoll“ (Programm „Vielfalt tut gut“) in Eisenach. Des Weiteren ist sie ständiger Gast im Fachbeirat zur Weiterentwicklung des „Thüringer Bildungsplanes bis 18 Jahre“ und leitet Workshops, begleitet Teams und besucht und unterstützt Fachtagungen zum Thema „Inklusion und Partizipation“ sowie „Inklusive Pädagogik“.
Der Begriff „Inklusion“ scheint relativ neu zu sein. Stimmt das?
Mandy Herrmann:
Neu ist der Begriff nicht. Viele kennen ihn aus dem soziologischen Bereich von Niklas Luhmanns Systemtheorie. Er hat das Dual der Inklusion/Exklusion geprägt. Inklusion bedeutet wörtlich Einschluss.
Und was bedeutet Inklusion heute?
Mandy Herrmann:
Heutzutage wird der Begriff sehr von der frühkindlichen Bildung her geprägt. Er wird verstanden als die erweiterte Form der Integration. Wobei die Unterscheidung wichtig ist, es geht nicht ausschließlich um Menschen mit Behinderungen oder Beeinträchtigungen. Inklusion wendet sich Vielfalt positiv zu, umfasst alle Dimensionen von Heterogenität, also regional, sozial, kulturell und anders bedingte Eigenschaften und Fähigkeiten; Geschlechterrollen, ethnische Herkünfte, Nationalitäten, Religionen oder körperliche Bedingungen. Menschen sollen willkommen geheißen werden. Es hat viel mit innerer Haltung zu tun, mit Respekt, Anerkennung und Wertschätzung dem anderen gegenüber.
Wir müssen schon bei Kindern mit einer vorurteilsbewussten Bildung und Erziehung beginnen. Nehme ich ein Kind wirklich so an, wie es ist? Stereotypen wie „Jungs weinen nicht“ oder „Mädchen lieben Pferde“ behindern eine echte Inklusion. Die Aufgabe jedes einzelnen, der ErzieherInnnen, der Eltern, der Großeltern etc., ist es, da zu sensibilisieren.
Inklusion ist ein Menschenrecht und muss unbedingt eingefordert werden, wie es die UNESCO seit den 90er Jahren als Ziel festgeschrieben hat.
Was ist der konkrete Unterschied zur Integration?
Mandy Herrmann:
Integration bedeutet, jemand Außenstehendes in eine bestehende Gruppe einzugliedern. Inklusion will mehr. Es soll nicht nur um das Dabeisein gehen, sondern um echten Einbezug im Sinne von Beteiligung, und zwar von Beginn an.
Das bedeutet für ein bestehendes System, dass es sich für die Vielfalt öffnen und echte Teilhabe ermöglichen muss. Integration setzt immer eine Zweigruppenkategorisierung voraus, wie „Deutsche und Ausländer“ oder „Behinderte und Nichtbehinderte“. Dagegen wehrt sich die Inklusion, bei der es darum geht, eine heterogene Gruppe zu ermöglichen und die Vielfalt darin als Chance zu sehen.
Bei der Integration war Barrierefreiheit ein wichtiges Thema. Wie ist das bei der Inklusion?
Mandy Herrmann:
Natürlich ist auch hier Barrierefreiheit noch ein Thema. Die Rahmenbedingungen müssen nach wie vor geschaffen werden. Inklusion unterstreicht, wie sensibel man mit Barrierefreiheit umgehen sollte. Es ist natürlich wichtig, wie sich z.B. Zugänglichkeiten für Gebäude gestalten oder wie tatsächlich erreichbar gesellschaftliche Angebote sind.
Doch geht es bei Inklusion vordergründig um Barrieren in den Köpfen der Menschen. Wie geht man selbst mit Vorurteilen um, wie sensibel bin ich für Barrieren, die ich selbst anderen gegenüber aufstelle, in dem ich vielleicht kulturelle Traditionen nicht beachte oder andere ausgrenze, in dem ich Stereotypen erliege? Oder auch, was ich als sehr wichtig erachte, daran zu denken, Webseiten oder Wegbeschreibungen, Gebrauchsanweisungen und Spielanleitungen in einfacher Sprache zu formulieren. Auch das ist Barrierefreiheit.
Nur wenn man sensibilisiert ist, kann man Barrieren wirklich abbauen.
Welche Einrichtungen sollten oder müssen sich mit dem Thema auseinandersetzen?
Mandy Herrmann:
Inklusion gehört in die ganze Gesellschaft und muss auf allen Ebenen diskutiert werden. Die ganze Gesellschaft muss inklusiv handeln und denken. Da zählt jede Kommune, jede städtische Einrichtung, jede Fraktion und jeder Verein; alle müssen sich mit dem Thema auseinandersetzen.
Inklusion gilt heute als realistischer und realisierbarer Anspruch und Leitidee für jegliche Institution, die die Verschiedenheit von Menschen anerkennen und einbeziehen will.
Wo wird Inklusion schon gelebt bzw. umgesetzt?
Mandy Herrmann:
Es gibt schon eine Menge guter Beispiele, vorrangig im Bildungsbereich. Beispielsweise ist im Thüringer Kita-Gesetz schon festgeschrieben, dass jedes Kind jede Einrichtung besuchen darf. Es gibt zwar weiterhin integrative Einrichtungen und Regeleinrichtungen, doch die Eltern haben per Gesetz grundsätzlich die Wahl und viele Eltern nutzen dies. Auch der Thüringer Bildungsplan hat inklusive Strukturen. Inklusion braucht aber dennoch für mich eine offensivere Benennung in den erziehungswissenschaftlichen Grundlagen. Thüringen möchte ein inklusives Bildungssystem haben, aber daran wird noch gearbeitet.
Ist Inklusion ein Thema der Politik, insbesondere der Landespolitik in Thüringen?
Mandy Herrmann:
Unbedingt. Der Druck von internationaler als auch von nationaler Seite ist hoch; Stichworte sind beispielsweise Behindertenrechtskonvention oder Kinderrechtskonvention.
Es gibt eine Verpflichtung zur Inklusion mit ganz klaren rechtlichen Vorgaben. Inklusion ist keine Freiwilligkeit mehr. Sie muss strategisch eingefordert werden.
Es gibt Maßnahmepläne und es besteht ein Interesse und ein Wille in der Landespolitik. Aber all das muss klarer formuliert sein und vor allem transparenter werden. So ein wichtiges Thema muss viel bekannter gemacht werden. Die Mitarbeiter in den Verwaltungen müssen geschult werden, es sollte Fortbildungen und Fachtagungen zum Thema Inklusion geben. Und nicht zuletzt gehört die Inklusion in alle Ausbildungen hinein. Nur wenn etwas thematisiert wird, kann man es leben.
Gibt es Einrichtungen / Personen, die sich besonders intensiv damit beschäftigen?
Mandy Herrmann:
Alle sind gefragt: PolitikerInnen, WissenschaftlerInnen, die Verwaltung, freie und kommunale Träger. Sie sollten sich die Frage stelle, wie inklusiv ihre Einrichtungen sind.
Man kann mit kleinen Schritten anfangen, z.B. einen Stadtplan auch in Blindenschrift anbieten oder ein „Guten Tag“ am Eingang einer Kindertagesstätte in verschiedenen Sprachen anbringen. Es gibt viele Möglichkeiten, sich an diesem Prozess zu beteiligen, nämlich immer dann, wenn es um Gerechtigkeit geht. Das beginnt in der Kindereinrichtung und hört im Seniorenheim nicht auf.
Wer ist der Hauptmotor in Thüringen?
Mandy Herrmann:
Viele freie Träger haben sich schon auf den Weg gemacht, da wäre der Paritätische Wohlfahrtsverband zu nennen, die Diakonie oder die Caritas. Die GEW (Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft) macht sich sehr stark für Inklusion. Auch das Thüringer Kultusministerium ist sehr um das Thema bemüht. Gesamtgesellschaftlich zeigt sich hier die Böll-Stiftung sehr aktiv mit ihrem Verbundprojekt „Hochinklusiv“.
Wo liegen die Grenzen der Inklusion?
Mandy Herrmann:
Inklusion endet dort, wo jemand sie nicht möchte. Auch innerhalb von inklusiven Systemen kann der Wunsch nach Differenz wieder wachsen. Da kann es sein, dass sich Teile der Gruppe von der Gruppe absetzen und dadurch eine neue Gruppe entsteht. Inklusion gibt es nie ohne Exklusion. Auch in einer inklusiven Schule wird es immer negative soziale Reaktionen und Ablehnung geben. Es gibt eben mehr oder weniger inklusiv gelingende Prozesse. Da hilft Gelassenheit. Menschliche Gruppen sind eben so. Damit muss man leben.
Aber es gibt auch von außen gemachte Grenzen, beispielsweise im deutschen Bildungssystem. Durch das Festhalten am separierenden System in den Schulen werden viele Zugänge erst gar nicht ermöglicht. Das gilt auch für Organisationen, Vereine und ihre Satzungen. Da ergeben sich Grenzen, wo keine sein müssten.
Wie sehen die Perspektiven aus?
Mandy Herrmann:
Inklusion ist immer ein offener Prozess mit dem Ziel, Barrieren (in den Köpfen) abzubauen. Das Modell eignet sich sehr gut, um Bildungsgerechtigkeit zu erreichen. Darin liegt eine Perspektive der Inklusion.
Es gibt gute Ansätze und es ist ganz wichtig, dass man dahingehend weitermacht.
Wie könnte es in Thüringen in zehn Jahren aussehen? Welche Entwicklung würdest du als realistisch einschätzen?
Mandy Herrmann:
Ich wäre eine ganz schreckliche Pessimistin und würde gegen alle meine Ideale sprechen, wenn ich sagen würde, alles bleibt, wie es ist. Inklusion ist in Bewegung und wir müssen diese Bewegung vorantreiben.
Vielleicht werden wir in zehn Jahren gar nicht mehr darüber reden, dass Kinder in verschiedenen Schulen angemeldet werden müssen. Ich wünsche mir, dass die Wege einfacher werden, die Übergänge weicher und dass es insgesamt gerechter zugeht.
Wenn Inklusion als Leitbild übernommen wird, ist schon ganz viel getan.
Was eine tatsächliche Zukunftsvision von mir ist, ist, dass es Inklusionsbüros in den Kommunen in Thüringen gibt. In anderen Bundesländern existiert so etwas bereits.
Das wäre auch nachdenkenswert für Verwaltungen im Allgemeinen. Dort gibt es z.B. Ausländerbeauftragte, Integrationsbeauftragte, Frauenbeauftragte, Gleichstellungsbeauftragte und so weiter. Was aber, wenn nun jemand kommt, weiblich, mit Migrationshintergrund, behindert und alleinerziehend. Wohin soll sie sich wenden? Wie viele Stellen muss ein Mensch also in unserer "schönen bürokratischen Ordnung" anlaufen? Klar kann nicht jedeR MitarbeiterIn alles tun und wissen. Aber ich finde, das sollte im Sinne der Inklusion mal überdacht werden, auch im Sinne als Beratungs-und Informationszentren: Inklusionsbüros.
Für mich persönlich gilt das, was Gandhi einmal sagte: Sei du die Veränderung, die du dir wünschst für diese Welt.
Das Interview führte Carmen Fiedler.