Es gibt keine Mitte - Naziproblem und «Rechtsextremismus»-Dilemma

Doris Liebscher:
Naziproblem und «Rechtsextremismus»-Dilemma.
Der Antidiskriminierungsansatz als Ausweg.

Das Problem: Es gibt keine Mitte

Die Diskussion um den Extremismusansatz und dessen Folgen für die Arbeit gegen Nazistrukturen und nazistische, menschenfeindliche und diskriminierende Einstellungen und Handlungen ist nicht neu. Seit Jahren verweisen Wissenschaft und Praxis darauf, dass die Unterscheidung zwischen einer politischen «Mitte der Gesellschaft» und deren extremen Rändern empirisch nicht haltbar ist, weil sie sich in einem komplexen Geflecht z.B. rassistischer, antisemitischer, völkischer, sozialdarwinistischer, autoritärer bzw. radikaldemokratischer, anarchistischer, sozialistischer, kommunistischer usw. Einstellungen auflöst.

Gleichzeitig werden die aus diesen Einstellungsmustern resultierenden beispielsweise rassistischen Praktiken in unserer Gesellschaft immer noch meist im Zusammenhang mit gewalttätigen Übergriffen oder völkisch rassistischer Hetze gegen sogenannte«Ausländer» thematisiert. Die Schuldigen sind dann schnell ausgemacht: «Rechtsextreme», organisierte Nazis, NPD. Weit weniger Thema ist, wie weit verbreitet rassistische, antisemitische, heterosexistische und autoritäre Einstellungen sind, die zu einem nazistischen Weltbild gehören. Dabei sind solche Anschauungen der Nährboden für Übergriffe und Gewalt, aber auch für alltägliche Diskriminierungen von solchen Menschen, die der vermeintlichen Norm nicht entsprechen. Dazu gehö­ren z.B. Flüchtlinge, MigrantInnen, Schwarze Deutsche, Menschen jüdischen oder muslimischen Glaubens, Schwule, behinderte oder obdachlose Menschen. Für die Betroffenen bedeutet dies eine Einschränkung an Lebensqualität und Entwicklungsmöglichkeiten, die sie oft alltäglich wahrnehmen. Eine Reihe von wissenschaftlichen Studien bestätigen immer wieder, dass Elemente von Ungleichheitsideologien, wie Rassismus, bei sehr vielen Menschen unabhängig von ihrem Geschlecht, Berufsstand, ihrer Parteipräferenz, ihrem Alter und ihrem Bildungsniveau vorkommen. (vgl. u. a. Brähler/Decker: Vom Rand zur Mitte, FES, Berlin 2006). Der Extremismusansatz, der rein formal die Haltung zu Verfassungsstaat, repräsentativer Demokratie und Gewalt zum Abgrenzungskriterium erhebt, kann dieses gesellschaftliche Potential der Zustimmung zu Versatzstücken nationalsozialistischer Ideologie nicht erfassen. Die Weltsicht, die anders als eine ungerichtete Aggression nachhaltig die Bereitschaft zur Diskriminierung von als «undeutsch» kategorisierten befördert, wird deshalb leider kaum thematisiert. Genauso bleiben die vielfältigen Formen der Diskriminierung unterhalb der Ebene körperlicher Gewalt unbearbeitet. Die offene oder subtile Ausgrenzung von Menschen, die als dem eigenen Kollektiv nicht zugehörig angesehen werden, wird mit dem Wort Alltagsdiskriminierung problematisierbar. Dieses Problem ist viel schwerer von einem Umfeld abzugrenzen, das zwar seinen Vorurteilen nicht gewalttätig Gehör verschaffen würde, aber die zur Gewalt führenden Unterscheidungen genauso trifft wie die Neonazis. Wo aber Gewalt bloß als ein nicht legales Mittel erscheint, das den allgemein geteilten Überzeugungen des gesunden Menschenverstandes zu ihrem Recht verhilft, dort ist die Gewalt für die TäterInnen immer auch mit einer Rechtfertigung versehen. Sie sehen sich als die Avantgarde, die sich über die Beschränkungen eines Staates hinwegsetzt, der entweder zu schwach sei, das Richtige zu tun oder als Ausdruck eines Systems gedeutet wird, das die Menschen gar nicht vertritt, sondern unterdrückt, was zu tun richtig wäre. 

Die Erkenntnis: Rein in die Mitte

Die Erkenntnis, dass Konzepte zum Scheitern verurteilt sind, die von den Prämissen: gesellschaftliches Randproblem, individuelles Vorurteil und Gewaltproblem ausgehen, hat sich nach knapp 20 Jahren staatlicher Programme gegen sogenannten «Rechtsextremismus» immer mehr durchgesetzt. Die jahrelange Fokussierung auf TäterInnen, auf Jugendliche und auf Gewalt hat weder zu einer Zurückdrängung lokaler Nazistrukturen geführt, noch etwas daran geändert, dass rassistische, antisemitische, völkisch-nationalistische, behindertenfeindliche, heterosexistische und anderer Elemente nationalsozialistischer Ideologie in breiten Gesellschaftsschichten konsensfähig sind. Als politische Gegenkonzepte empfehlen die AutorInnen der verschiedenen Einstellungsstudien, wie auch die Bewertungen bisheriger Bundesprogramme deshalb u.a. eine inhaltliche Auseinandersetzung mit den genannten Einstellungen und die Stärkung einer partizipativen, demokratischen Streitkultur, statt auf Law and Order – Politik zu setzen. Insbesondere die weite Verbreitung von Rassismus als «Einstiegsdroge in den Rechtsextremismus» müsse problematisiert werden. Die Auseinandersetzung müsse gleichzeitig in der gesamten Gesellschaft und ihren Institutionen: in der Ausbildung, am Arbeitsplatz, in der Verwaltung und in Freizeitorganisation geführt werden, statt ein Jugend-, Gewalt-, bzw. Minderheitenproblem zu konstruieren.
In der Praxis hat sich das mittlerweile durchaus niedergeschlagen. Zahlreiche Beratungs-, Aufklärungs- und Sensibilisierungsprojekten engagieren sich allen extremismustheoretischen Förderlogiken und Antragsformularien zum Trotz zum Beispiel für Betroffene ganz unterschiedlicher Form von rassistischer Diskriminierung oder diskutieren in breiten gesellschaftlichen Schichten über Antisemitismus oder über normierende Geschlechterbilder.  

Das Dilemma: alle Reden von der Mitte

Trotzdem werden diese Erkenntnisse in den meisten Fällen noch nicht angemessen reflektiert oder bleiben Lippenkenntnisse ohne Konsequenzen. Ob Decker und Brähler, das Forum Kritische Rechtsextremismusforschung oder die im Netzwerk Tolerantes Sachsen organisierten Träger und Initiativen: Sie bezeichnen sich weiterhin als «RechtsextremismusexpertInnen», sprechen vom «Extremismus der Mitte» , definieren Nazistrukturen weiter als Phänomen des «Rechtsextremismus» oder «der extremen Rechten». Viele arbeiten weiter in Bündnissen «gegen Extremismus» und weisen darauf hin, dass es in ihrer Region gerade gar kein Problem mit «Linksextremismus» gäbe, statt solche Bezeichnungen mit Verweis auf die politischen Folgen des Extremismusansatzes zu verweigern. Damit machen sie den eigentlich ja «falschen» oder «unwissenschaftlichen» Extremismusansatz sprachfähig und damit diskursiv wirkungsmächtig. Sie reproduzieren auch dessen Logik: Das Bild einer demokratischen Mitte der Gesellschaft, die ihre Wertvorstellungen, gegen die Bedrohung von den «extremen Rändern», von «außen» also verteidigen muss. Eine genauere Definition dessen, wer oder was politisch bzw. gesellschaftlich «Mitte» ist, also als demokratisch / als normal gilt und daraus die Legitimität seiner/ihrer Position ableitet und wer oder was eben nicht, bleibt die inhaltsleere Rede von den Extremen immer schuldig.

Die Gründe für diesen Widerspruch zwischen Erkenntnis und Praxis sind sicherlich vielfältig: Das Vokabular und die Logik der Förderprogramme, von der die eigene Arbeit finanziell abhängig ist, folgen der Extremismusformel. Lokale Bündnisse mit möglichst vielen gesellschaftlichen Akteuren sind leichter zu schließen und erscheinen damit größer und erfolgreicher, wenn der Streit um die «Extremismusfrage» nicht geführt wird. Politische Anerkennung und gesellschaftliche Unterstützung steigen eher, wenn das Engagement sich «Gegen Extremismus und Gewalt» richtet, als gegen rassistische Diskriminierung in Behörden, gegen völkisch-nationalistische Statements im Stadtrat und der lokalen Presse oder gegen sexistische und homophobe Sprüche beim lokalen Sportverein.

Trotzdem oder gerade deshalb ist gesellschaftspolitische Intervention und Prävention immer auch streitbar und umstritten. Sie muss individuelle Einstellungsmuster, aber auch instititutionelle Praktiken und gesellschaftliche Diskurse problematisieren – und wenn nötig auch skandalisieren – , die soziale Ungleichheit naturalisieren und essentialisieren und dadurch Menschen von gesellschaftlicher Teilhabe ausschließen.

Die Lösung: steckt im Detail

Dass das möglich ist, ohne auf begriffliche Klarheit in der Beschreibung der eigenen Arbeit, der eigenen Ziele und der eigenen Problemanalyse verzichten zu müssen, zeigt der Antidiskriminierungsansatz. Dieser Ansatz problematisiert Einstellungen und Handlungen und Strukturen, die das Alltagsleben diskriminierter Menschen nachhaltig beeinträchtigen, auch wenn es sich nicht um körperliche Gewalt handelt. Antidiskriminierungsarbeit richtet den Blick auf Benachteiligungen bzw. Herabwürdigungen von Menschen aufgrund rassistischer oder antisemitische Zuschreibungen, der Religion, des Geschlechts, des Lebensalters, der sexuellen Orientierung, wegen einer Behinderung oder wegen der sozialen Herkunft. Diese Diskriminierungsdimensionen entsprechen genau den von Decker/Brähler, Heitmeyer u.a. skizzierten Ideologien der Ungleichheit, also Rassismus, Antisemitismus, Sexismus, Sozialdarwinismus, Homophobie und Abwertung von obdachlosen und von behinderten Menschen.

Die Untersuchungen des Antidiskriminierungsbüro Sachsen haben gezeigt, dass Diskriminierung auf unterschiedlichen Ebenen gleichzeitig auftritt:

  • als individuell diskriminierende Handlung einzelner Menschen,
  • als diskriminierende Struktur, z.B. in Gesetzen oder in Verwaltungsverfahren,
  • als Diskriminierung auf der Ebene der Öffentlichkeit, z.B. in stereotypen Bildern über «die Anderen» und in politischen Debatten, in denen Zugehörigkeit und Normalität verhandelt wird.

Dabei sind die Mechanismen von Diskriminierung oftmals sehr subtil. Die Spitze des Eisbergs stellen zweifelsohne gewaltförmige Übergriffe dar. Auf Dauer nicht weniger verletzend und ausschließend und für viele Betroffene wesentlich präsenter sind jedoch die anderen Ebenen von Diskriminierung. Rassismus und andere Formen von Diskriminierung sind danach kein individuelles Problem, sondern institutionell verankerte und sozial legitimierte Alltagsphänomene, die in ihrer Komplexität bezeichnet, analysiert und thematisiert werden müssen.

Die Strategien, die der Antidiskriminierungsansatz verfolgt, setzen an den verschiedenen Ebenen von Diskriminierung an. Zunächst heißt das: Stärkung und Einbeziehung der Betroffenen, durch Information, Beratung und Unterstützung bei der Durchsetzung ihrer Rechte auf Gleichbehandlung. Auf der anderen Seite geht es darum, diskriminierende Strukturen und Ausschlussmechanismen zu erkennen und zu verändern. Deshalb muss auch die Mehrheitsgesellschaft für die oben genannten Ausschlüsse und Diskriminierungsmechanismen sensibilisiert werden. Zu all dem gehört das deutliche Signal: Plurale Lebensweisen sind normal und begrüßenswert, sie dürfen nicht mit Ausgrenzung und Benachteiligung bestraft werden.

Die Normalität von Diskriminierung und der Nachweis der Vitalität von Ungleichheitsideologien sind auch als Appell zu verstehen. Unser Blick erweitert sich: nicht die Betroffenen von Gewalt und Diskriminierung haben oder sind das «Problem», weil sie «anders» sind. Das Problem sind auch nicht ausschließlich organisierte Nazis oder offen völkische RassistInnen oder Homophobe. Das Problem sind ebenso die individuellen und strukturellen Widerstände der Mehrheitsgesellschaft, die nicht sieht oder nicht sehen will, dass auch sie sich verändern muss, damit alle Menschen die Möglichkeit zu gleicher Teilhabe bekommen. Gleichzeitig muss deutlich werden, dass diskriminierte Menschen bei der Durchsetzung dieser Rechte ernst genommen und unterstützt werden, weil das Recht auf Gleichbehandlung für alle EinwohnerInnen gleichermaßen gilt.

Ganz konkret: Thesen zur Diskussion

Was bedeutet das für die konkrete Arbeit wissenschaftlicher, politischer und zivilgesellschaftlicher Akteure, die sich mit Nazistrukturen, nazistischen Ideologemen und mit (Anti)diskriminierung beschäftigen? Einige Thesen zum Abschluss:

1. Empowerment und Repräsentation  
Diskriminierte Gruppen müssen als eigenständige Subjekte und Akteure ernst genommen werden. Sie müssen besonders dabei unterstützt werden, ihre Rechte auf Gleichbehandlung zu kennen, durchzusetzen und für sich selbst zu sprechen. Dazu bedarf es Anlaufstellen für Betroffene von Gewalt und von Diskriminierung. Gleichzeitig müssen bestehende wissenschaftliche, politische und Beratungsnetzwerke und Institutionen gesellschaftliche Diversität und die Dimensionen von Diskriminierung stärker in der eigenen personellen Zusammensetzung und Themensetzung verankern.
 

2. Förderpraxis und politische Streitkultur
Die Erkenntnis, dass Rassismus, Antisemitismus und andere Ideologien der Ungleichwertigkeit ein gesamtgesellschaftliches Problem sind, muss sich in der Förderpraxis und Strategieentwicklung niederschlagen. Die inhaltliche Auseinandersetzung in gesellschaftlichen Bündnissen ist unsere Aufgabe und Chance als Akteure der Zivilgesellschaft. Dazu kann auch eine kritische Positionierung zu diskriminierenden Einstellungen und Strukturen von BündnispartnerInnen gehören. Die Zusammenarbeit von Initiativen und Behörden darf nicht auf Kosten der Unabhängigkeit und kritischen Rolle der Initiativen geschehen.

3. Bezeichnungspraxis
Die Verwendung des Begriffs «Rechtsextremismus» reproduziert das Wissen über «Ränder» und «Mitte» der Gesellschaft. Einerseits entnennt der Begriff, die dahinter stehenden konkreten Einstellungen und Handlungen: das Naziproblem, aber auch Rassismus, Antisemitismus und andere Ungleichwertigkeitsideologien. Andererseits verschließt er den Blick vor den strukturellen und alltäglichen Diskriminierungserfahrungen vieler Menschen. Er kann unproblematisch durch die Benennung der konkreten Ideologeme bzw. Ungleichheitsverhältnisse und Diskriminierungspraktiken ersetzt werden: Rassismus, Heterosexismus, Sozialdarwinismus, Autoritätsgläubigkeit zum Beispiel. Im Fall nationalsozialistischer Ideologien und Politikprogramme sollten die Weltbilder und Protagonist_innen als das bezeichnet werden was sie sind: als nazistisch, bzw. als (Neo)Nazis.

 

Doris Liebscher ist Volljuristin und Magistra des Europarechts. Seit 2005 ist sie im unabhängigen Antidiskriminierungsbüro Sachsen in Leipzig als Beraterin und Dozentin für Antidiskriminierungsrecht-und –kultur tätig. Sie arbeitet am EU-Forschungsprojekt „Right wing youth violence prevention programms (RYPP)" der Universität Leipzig mit und promoviert zum „Rasse"-Begriff und Rassismusverständnis im deutschen Recht. Letzte Veröffentlichungen: zusammen mit Christian Schmidt: Verwischte Ziele. Warum die Bemühungen gegen Nazi-Strukturen seit knapp 20 Jahren immer wieder scheitern. In: Friedrich Burschel. (Hrsg.). Stadt-Land-Rechts. Brauner Alltag in der deutschen Provinz. Berlin. 2010.; zusammen mit Christian Schmidt: Grenzen lokaler Demokratie. Zivilgesellschaftliche Strukturen gegen Nazis im ländlichen Raum. In: Bundestagsfraktion Bündnis90/Die Grünen. (Hrsg.). Grenzen lokaler Demokratie. Zivilgesellschaftliche Strukturen gegen Nazis im ländlichen Raum. Berlin. 2007.