Inklusion, Exklusion und Arbeitsgesellschaft

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Impulsreferat im Rahmen der Veranstaltung „Inklusion und Ausgrenzung in der Arbeitsgesellschaft“ der Heinrich-Böll-Stiftung Sachsen-Anhalt am 8. Oktober 2012 in Halle/Saale.

Was lässt sich in knappen Worten zu einem so großen Thema wie „Inklusion, Exklusion und Arbeitsgesellschaft“ sagen? Ich werde einige grob umrissene Hinweise geben und vier Thesen zur Diskussion stellen.

Meine erste These lautet: Was Inklusion und Exklusion bedeuten, erschließt sich nur aus dem geschichtlichen Zusammenhang. Der Begriff Exklusion, wie wir ihn heute diskutieren, kam in Frankreich in den 1980er Jahren auf und wurde danach über die Europäische Union rasch in ganz Europa verbreitet. Er bezeichnet einen historischen Einschnitt: das Ende der Periode relativer Vollbeschäftigung, der abnehmenden Einkommensungleichheit und des zunehmenden sozialstaatlichen Schutzes vor Marktabhängigkeiten, wie sie für das Vierteljahrhundert nach dem Zweiten Weltkrieg charakteristisch war. Oder umgekehrt formuliert:
Exklusion konnte erst zum Thema werden, nachdem die zuvor erfahrene Inklusion nicht mehr selbstverständlich war, mit wieder zunehmender Armut, der Rückkehr und Verfestigung der Arbeitslosigkeit und der Rücknahme sozialstaatlicher Absicherungen.

Dies führt mich direkt zu meiner zweiten These: Die wichtigsten Dimensionen, in denen heute über gesellschaftliche Zugehörigkeit und Teilhabe, sprich: Inklusion, entschieden wird, sind Arbeit, insbesondere Erwerbsarbeit, sowie persönliche, politische und soziale Bürger und Bürgerinnenrechte. Hinzu kommt eine dritte wesentliche Dimension: die Einbindung in verlässliche soziale Nahbeziehungen. Inwiefern sind dies entscheidende Dimensionen der Inklusion? Erwerbsarbeit vermittelt nicht nur Einkommen, sondern bindet darüber hinaus die Erwerbstätigen in objektivierte, institutionell geregelte Verhältnisse wechselseitiger Abhängigkeit ein, in die gesellschaftliche Arbeitsteilung. Damit ist die Erfahrung eng verbunden, nicht nur persönlich, sondern auch gesellschaftlich „gebraucht zu werden“. Französische Soziologen sprechen hier von Inklusion durch Interdependenz. Wechselseitigkeit spielt ebenfalls eine entscheidende Rolle bei der Einbindung in die sozialen Nahbeziehungen von Familie, Partnerschaften und Bekanntenkreisen. Hier ist es allerdings weniger die vertraglich geregelte, als die informelle Gegenseitigkeit von Unterstützung und Loyalität, die zählt. Diese Dimension der Zugehörigkeit möchte ich deshalb als Dimension der Reziprozität bezeichnen.
Schließlich: Inklusion durch persönliche, politische und soziale Rechte. Sie begründen die gesellschaftliche Teilhabe durch den Bürgerstatus. Dabei sind die historisch jüngsten, die sozialen Rechte, für Teilhabe besonders bedeutsam. Denn sie sollen die materielle Grundlage des Bürgerstatus gewährleisten. Bis ins frühe 20. Jahrhundert hinein galt als Bürger nur derjenige, der über Eigentum verfügte, somit über materielle Sicherheiten, und damit entscheidungsfähig war. Die lohnabhängigen Massen, vom Eigentum ausgeschlossen, zählten nicht, oder bestenfalls, wie in Preußen, als Bürger dritter Klasse. Erst mit der Einführung sozialer Sicherungssysteme wurde ein „Sozialeigentum“ (Castel) geschaffen, das auch den Lohnabhängigen einen Schutz vor den Wechselfällen des Markts und den Folgen der Konkurrenz bot, somit materielle Sicherheiten, die es erlaubten, das Leben über den Tag hinaus zu planen. Und erst damit wurden eine Verallgemeinerung des Bürgerstatus und somit Demokratie möglich. Soziale Rechte sind Schutz- und Teilhaberechte, deshalb spreche ich hier von der Dimension der Partizipation.
Entscheidend ist nun, dass sowohl die Arbeitsteilung als auch die sozialen Nahbeziehungen als auch die Bürgerrechte, also Interdependenz, Reziprozität und Partizipation, auf je eigene Weise einen Beitrag zur Inklusion leisten. Sie ergänzen einander, lassen sich in ihrer inkludierenden Wirkung aber nicht durch einander ersetzen. Anders gesagt: Für eine „inklusive Arbeitsgesellschaft“ genügt es nicht, dass alle erwerbsfähigen Menschen Erwerbsarbeit haben können. Sie müssen vielmehr als Bürgerinnen und Bürger zugleich durch soziale Rechte vor Marktabhängigkeiten geschützt sein und ihr Leben außerhalb der Erwerbsarbeit in ihren so­zialen Beziehungen selbst gestalten können.

Damit komme ich zu meiner dritten These: Inklusion ist in kapitalistischen Gesellschaften immer gefährdet. Das liegt wesentlich an der prekären Verbindung von Erwerbsarbeit und sozialen Rechten. Die Arbeitsteilung in kapitalistischen Gesellschaften ist weitgehend marktförmig organisiert und schließt ein Machtgefälle von Kapital und Arbeit ein. Unternehmerische Entscheidungen befinden über den Zugang zur Inklusionsinstanz Erwerbsarbeit, nicht der Bürgerstatus. Ein soziales Recht auf Arbeit kann es de facto in diesen Verhältnissen nicht geben. Gleichzeitig sind die sozialstaatlichen Systeme, die vor Marktabhängigkeiten in einem gewissen Umfang schützen sollen, auf die Erträge aus Erwerbsarbeit angewiesen, sie können ihrerseits aber Erwerbsarbeit nicht als soziales Recht garantieren. An dieser „syste­mischen“ Schwachstelle der Inklusion setzen seit den 1980er Jahren die „Schockwellen“ (Castel) des Wandels der Arbeits‑ und Beschäftigungsverhältnisse an und unterspülen, um im Bild zu bleiben, die materiellen Grundlagen der Demokratie.
Nicht Naturgewalt hat die Schockwellen ausgelöst, sondern menschliches Handeln, allerdings nicht immer unter selbst gewählten Umständen. Zu den Auslösern gehören die politische Neuordnung und Liberalisierung der Finanzmärkte, die strategische Neuorientierung von Großunternehmen auf die Bedienung in erster Linie der Anlegerinteressen, die Schaf­fung eines geeinten Europas mit dem Vorrang eines gemeinsamen Marktes und einer ge­meinsamen Währung, ohne gleichzeitig die politische und soziale Einigung zu bewerkstelli­gen. Die Folgen machen sich in allen drei Dimensionen der Inklusion bemerkbar: als Entsi­cherung von Arbeitsverhältnissen, zunehmende Ungleichheit der Einkommen und Lebens­chancen, zunehmende soziale Ängste und Belastungen der sozialen Beziehungen.
Allerdings werden nicht alle Menschen in gleicher Weise und in gleichem Maße von den Schockwellen erfasst. Unter der Oberfläche zunehmender Individualisierung bestehen Tiefenstrukturen der Klassen‑ und Schichtungsungleichheiten fort, aber auch Ungleichheiten der Geschlechterverhältnisse, regionale Disparitäten, Disparitäten zwischen Branchen und Betrieben. Die Einkommens‑ und Vermögensstatistik belegt, dass es eine Klasse von Profiteuren gibt, die sich immer weiter von der großen gesellschaftlichen Mehrheit absetzt. Die Mittelklassen in Deutschland wiederum verfügen noch über beträchtlichen sozialstaatlichen Rückhalt, über Qualifikations‑ und Vermögensreserven, die zumindest vor Ausgrenzung schützen. Aber Arbeitsbelastungen, Arbeitsplatzunsicherheit und Zukunftsängste nehmen zu. Von Ausgrenzung bedroht oder betroffen sind vor allem die unteren Ränge der Klassenstruktur, Angehörige der Arbeiterschaft. Aus ihnen rekrutiert sich in erster Linie die Langzeit­arbeitslosigkeit, die Armut der Arbeitenden, die Prekarität der anhaltend unsicher Beschäf­tigten. Was aber bedeutet Ausgrenzung? In der Dimension der Erwerbsarbeit: Ausschluss aus der gesellschaftlich anerkannten Arbeitsteilung, Abbruch der Wechselseitigkeit sozialer Beziehungen, die durch Erwerbsarbeit gestiftet werden, einseitige Abhängigkeit des Fürsor­geempfängers. In der Dimension der Bürgerrechte: Verlust der materiellen Mittel, um ein Leben zu führen, wie es gesellschaftlich erwartet und als kulturell angemessen gilt; Verlust der realen Möglichkeit, das eigene Leben und das des Gemeinwesens zu gestalten. In der Dimension sozialer Nahbeziehungen: soziale Isolation oder Beschränkung auf den Sozialkreis von Menschen in ähnlicher Lage.

Meine vierte und abschließende These, die hier angedeutet werden soll, lautet: Ausgrenzung lässt sich nicht durch die „Wiedereingliederung“ der Ausgeschlossenen in ausgrenzende Verhältnisse überwinden. Wer Demokratie will, muss die ausgrenzenden Verhältnisse selbst in Frage stellen.
In Deutschland wie in anderen europäischen Ländern auch hat eine grundlegende Umorientierung von Sozialstaatlichkeit stattgefunden. Der Schutz vor Marktabhängigkeiten wird zu­rückgenommen, stattdessen soll die Marktgängigkeit der Menschen gefördert werden. Es ist allerdings eine Illusion, auf diesem Weg bürgerschaftliche Inklusion gewährleisten zu kön­nen. Denn die Logik von Markt, Konkurrenz und Markmacht geht immer wieder und not­wendigerweise über individuelle Qualifikationen und Leistungen hinweg.
Wer Demokratie will, wird eine Politik des Sozialen verfolgen müssen, die darauf abzielt, die materiellen Grundlagen des Bürgerstatus zu stärken. Dabei wird es darauf ankommen, die Eigenständigkeit der drei wesentlichen Inklusionsinstanzen im Auge zu behalten, ihre je eigenen Beiträge zur Inklusion, und nach neuen Wegen zu suchen, sie miteinander zu verbinden. Das Fordern und Fördern der Erwerbsbeteiligung von Menschen allein und um jeden Preis dagegen bleibt der Marktlogik verfallen und hält die Ausgrenzungsprozesse in Gang.

 
 
 

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