– Es gilt das gesprochene Wort. –
Sehr geehrter Herr Siller,
sehr geehrte Damen und Herren,
herzlichen Dank für Ihre Einladung zur Doppel-Tagung „Inklusion {er-}leben“. Herzlich willkommen in Münster, herzlich willkommen in Leipzig! Ich freue mich, mit Ihnen heute ins Gespräch zu kommen und ich freue mich, dass Sie mit dieser Veranstaltung die Ergebnisse Ihres zweijährigen Verbundprojekts dokumentieren. Dies ist ein weiterer Schritt auf unserem Weg hin zu einer inklusiven Gesellschaft.
Heute wünschen Sie sich von mir, wie es im Programm heißt, Ausführungen zu „Inklusion als gesellschaftliche Herausforderung. Chancen und Risiken der zukünftigen Gesellschaft.“ Und es ist klar: Mit diesem Thema möchten Sie unsere gesellschaftliche Zukunft in den Blick nehmen. Diesem Wunsch von Ihnen komme ich gern nach, doch lässt sich unsere Zukunft nur dann gestalten, wenn wir unsere Wurzeln reflektieren. Wenn wir wissen, wer wir waren und wer wir demzufolge sind und sein wollen.
Vergangenheit ist etwas, was uns mit Gegenwart und Zukunft verbindet. Sie ist mehr als die Zeit, die wir in der Gegenwart hinter uns gelassen haben. Vergangenheit hat etwas mit „erinnern“ zu tun und mit „Identität“. Mit „Kultur“ und auch mit „Bildung“.
Der Historiker Golo Mann hat es treffend auf den Punkt gebracht – ich zitiere: „Indem wir wissen, wo wir sind und wie wir dahin kamen, wissen wir auch wieder, wer wir sind. Ohne Gedächtnis wüssten wir das nicht. Ohne Gedächtnis gäbe es keine Vergangenheit. Es gäbe auch keine Zukunft.“
Vergangenheit ist wichtig – Geschichten schaffen Identitäten. Individuelle und kollektive. Ihre Geschichten hier in Münster und in Leipzig, in der „Heinrich Böll Stiftung NRW“ und „weiterdenken Sachsen“ schaffen Ihre spezifische Identitäten und sind Ausgangspunkt für Ihre lokale und unsere globale Zukunft. Das ist, wie Sie es in den letzten zwei Jahren auch diskutierten, übrigens auch ein ganz zentraler Punkt für die Inklusion: Inklusion ist ein umfassender und globaler Gedanke, aber sie erhält lokal ein Gesicht.
Vergangenheit ist aber auch wichtig, damit sich vergangene Fehler und Schrecken nicht wiederholen. Die Vergangenheit bietet uns eine wahre Schatzkammer an Erfahrungen und Orientierungen, mit denen wir uns auseinandersetzen dürfen und müssen.
Wir dürfen und müssen aus der Vergangenheit lernen, um eine gemeinsame Zukunft zu gewinnen.
Wir müssen erinnern – das ist Kern einer inklusiven Gesellschaft und eines demokratischen Bewusstseins von Achtung, Wertschätzung und Verantwortung und Basis eines gemeinsamen gesellschaftlichen Miteinanders in Würde und mit gegenseitigem Respekt. Das sollten wir jeden Tag, das sollten wir besonders aber auch heute beachten.
Meine Damen und Herren,
heute vor 95 Jahren rief zuerst der stellvertretende SPD-Vorsitzende Philipp Scheidemann von einem Balkon des Berliner Reichstags die erste deutsche Republik aus, nach ihm, am selben Tag, Karl Liebknecht.
Heute vor 75 Jahren brannten in ganz Deutschland unzählige Synagogen. Läden und Wohnungen jüdischer Mitbürgerinnen und Mitbürger wurden geplündert und zerstört, sie selbst verfolgt und ermordet.
Heute vor 24 Jahren fiel die Berliner Mauer. Eine Mauer, die Menschen, Familien, Freunde und zwei deutsche Staaten 28 Jahre lang voneinander trennte.
1918, 1938, 1989: Der 9. November ist ein besonderer Tag in der deutschen Geschichte. Er ist ein Tag der uns erinnert und mahnt. Er ist ein Tag, der oft „Schicksalstag“ genannt wird. Ist er das?
Nein, meine Damen und Herren. Der 9. November ist ein Tag der Erinnerung, er ist wichtig für unser Miteinander in Gegenwart und Zukunft, aber er ist kein Schicksalstag. Nicht das „Schicksal“ hat etwas mit den Menschen gemacht, sondern wie an jedem anderen Tag auch sind es Menschen die für ihr Handeln verantwortlich sind und waren. Für das, was sie tun, aber auch für das, was sie unterlassen zu tun.
Und auch deswegen ist dieser Tag ein ganz bedeutender Tag – auch für die Zukunft einer inklusiven Gesellschaft: Er mahnt uns, dass wir es sind die handelnd gestalten. Und dass jede unserer Handlungen – und Unterlassungen – Konsequenzen hat.
Unsere Handlungen – und Unterlassungen – bestimmen, wie wir mit menschenverachtendem und rassistischem Gedankengut in unserer Gesellschaft umgehen.
Unsere Handlungen – und Unterlassungen – bestimmen, ob und wie wir miteinander reden, kommunizieren.
Unsere Handlungen – und Unterlassungen – bestimmen, ob Mauern bleiben oder fallen. Manchmal deutlich sichtbar an der deutsch-deutschen Grenze, aber auch unsichtbar in unseren Köpfen und Herzen.
Erinnerung ist ganz entscheidend für den 9. November. Erinnerung ist aber auch entscheidend für unseren Weg in eine inklusive Gesellschaft. In eine Gesellschaft, in der nicht Grenzen und Mauern, Ausgrenzung und Intoleranz, sondern Solidarität, Respekt, Miteinander und Anerkennung unsere Handlungen bestimmen.
Indem wir uns erinnern treten wir aus der Enge eines Blickwinkels heraus. Wir setzen uns an die Stelle der anderen, wir fühlen mit, halten inne und bauen Brücken. Und damit haben wir für die Zukunft etwas ganz Wichtiges gelernt – etwas, das Kant in seiner „Kritik der Urteilskraft“ als eine der drei Maximen für den Gemeinsinn formulierte – ich zitiere: „Jederzeit an der Stelle des anderen denken!“
Meine Damen und Herren,
dieser kantische Gedanke ist ein ganz grundlegender Gedanke für eine inklusive Gesellschaft, in der niemand ausgegrenzt wird oder durch Mauern – sichtbar oder unsichtbar – behindert wird. Dieser Gedanke ist unmissverständlich, eindeutig und verlangt viel. Sehen wir Inklusion in diesem Kontext, wird ganz klar: Inklusion ist eine große gesellschaftliche Herausforderung.
Sie stellt unsere gegenwärtigen Denkmuster auf den Prüfstand. Sie fordert Anerkennung, Respekt und Solidarität statt nur „Leistung“, „Wettbewerb“ und „Nützlichkeit“. Sie verändert nicht nur unsere Umwelt, sie verändert uns.
Und darum müssen wir – als Staat, als Gesellschaft, aber auch jede und jeder Einzelne – immer wieder neu um den inklusiven Gedanken ringen. Auch das zeigt uns unsere Geschichte:
Wir dürfen uns nicht ausruhen, wir müssen hinschauen; wir dürfen nicht nur hinschauen, wir müssen handeln.
Inklusion ist Beteiligung – so lautet zu Recht ein Leitmotiv der heutigen Tagung. Und zwar stetige und ständige Beteiligung. Und nicht nur von wenigen, sondern von allen. Und das ganz konkret. Wir müssen immer wieder miteinander ins Gespräch kommen. Wir müssen immer wieder darauf Acht geben, dass sich auch alle an diesem Gespräch beteiligen können und Mauern niemanden einschränken, behindern oder begrenzen. Wenn nicht wir, wer dann?
Das ist eine große Chance. Eine Chance für eine demokratische Gesellschaft, in der jeder Mensch als Mensch von Anfang an selbstverständlich zugehörig ist. Unabhängig von Herkunft oder Handicap oder sozialem Status.
Diese Chance ist aber gleichzeitig aber auch ein Risiko. Denn Inklusion entsteht nicht auf Knopfdruck, sondern ist ein Prozess. Sie fordert uns und fordert uns heraus.
Viele Gefühle begleiten einen solchen Prozess. Die Sorge, nicht genau zu wissen, was kommt, die Bequemlichkeit, Bestehendes – auch bestehende Mauern – zu akzeptieren, glücklicherweise aber auch die Neugier auf Neues.
Ich bin sehr froh, dass wir unsere Mauern schon ein Stückchen hinter uns gelassen und neue Wege abseits eingefahrener Denkweisen beschritten haben. Dass wir uns nach der Unterzeichnung der Behindertenrechtskonvention im Jahr 2009 im Dezember 2010 im nordrhein-westfälischen Landtag einig waren, gemeinsam auf den Weg machten und die Umsetzung dieser Konvention beschlossen haben.
Unsere Gesellschaft ist in Bewegung gekommen und dazu hat auch Ihr Verbundprojekt „hochinklusiv“ in entscheidender Weise beigetragen. Sie haben sich in den vergangenen zwei Jahren länderübergreifend beteiligt, haben sich engagiert. Haben neue und andere Wege gedacht, gelebt, erfahren. Haben bestehende Diskussionen aufgenommen und neue Impulse gesetzt. Haben versucht, Einzelnes zu einem großen Gesamtbild zusammenzufügen. Und gleichzeitig die lokalen Besonderheiten nicht aus dem Auge verloren.
Sie engagieren sich und kümmern sich um die Zukunft, – und zwar nicht sporadisch und unverbindlich, sondern organisiert und mit klaren Zielen.
Sie haben Ideen und Gestaltungswillen. Sie schaffen Solidargemeinschaften und geben Unterstützung.
Ihre Arbeit, Ihr Engagement ist eine große Bereicherung für unseren Weg hin zu einer inklusiven Gesellschaft. Denn Zukunft kann es für eine Gemeinschaft, die Inklusion leben will, nur geben, wenn es Menschen gibt, die bereit sind, Verantwortung für das Gemeinwesen zu übernehmen. Finanziell, ideell oder beides. Sie tun das und dafür möchte ich Ihnen sehr herzlich danken.
Wir selbst müssen die Veränderung sein, die wir in der Welt sehen wollen“, lautet ein berühmter Satz von Mahatma Ghandi.
Ja, so ist es. Wir müssen die Veränderung sein, und Inklusion gestalten heißt, nicht von Institutionen aus zu denken, sondern von den Bedürfnissen der Menschen, der Kinder, Jugendlichen, Bürgerinnen und Bürger.
Für eine zukünftige inklusive Gesellschaft brauchen wir nämlich beides:
Wir brauchen einen Staat, der für einen klaren Handlungsrahmen zur schrittweisen Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention sorgt, sodass eine inklusive Gesellschaft auch gedeihen kann. Da sind die Länder und Kommunen, da ist aber auch der Bund, gefordert. Alle müssen ihre Verantwortung wahrnehmen und dürfen sich nicht entziehen.
Wir brauchen aber auch engagierte Bürgerinnen und Bürger, die sich auf einer breiten Basis und mit gleichberechtigter Beteiligung aller Gruppen für eine inklusive Gesellschaft einsetzen. Hier ist jede und jeder Einzelne gefordert.
Meine Damen und Herren,
denken wir an unsere Zukunft, ist eines aber ganz besonders wichtig: Wir müssen diejenigen ins Zentrum rücken, die diese Zukunft gestalten werden, – und das sind unsere Kinder und Jugendlichen. Sie sind es, die die zukünftige inklusive Gesellschaft leben und erleben, sie sind es, die das, was wir heute beginnen, weiter führen.
Der Schlüssel für eine nachhaltig inklusive Gesellschaft liegt daher in Bildung. Fachlich und menschlich; – bezogen auf Wissen, Kompetenzen, Persönlichkeits- und Menschenbildung.
Unsere Kinder von heute gestalten die Welt von morgen. Die Haltung und das Miteinander, den Respekt, die Achtung und Wertschätzung sich und anderen gegenüber, die unsere Kinder heute erfahren, tragen sie in ihrer Haltung und ihrem Verhalten morgen weiter.
Sie kennen alle das Sprichwort „Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr“.
Dass das in dieser Pauschalität so nicht stimmt, hat uns die moderne Hirnforschung in den letzten Jahren eindrucksvoll gezeigt. Natürlich kann Hans noch lernen! – Und Christa, Ayse und Mesut auch.
Aber wir lernen als Kinder leichter, schneller und nachhaltiger und vor allem: das was wir jetzt erfahren, ist das, was wir kennen, was uns vertraut ist, was wir leben, was wir verinnerlichen und woraus wir schöpfen!
Viele Studien belegen, dass man sich vor Dingen und Einstellungen fürchtet, die man oder frau nicht kennt. Umso wichtiger ist ein vielfältig gestalteter Lebensraum „Schule“, sind reichhaltige innerschulische und außerschulische Angebote und inklusive Lerngruppen.
Denn das, was unsere Kinder jetzt in der Gegenwart mit allen Sinnen lernen, erfahren und einüben – be-greifen im vollen Wortsinn –, können sie in der Zukunft umsetzen; aus erlernter, verinnerlichter Erfahrung schöpfen.
Was das nun ganz konkret bedeutet und welchen Herausforderungen wir dabei begegnen, möchte ich Ihnen anhand von drei Grundsätzen abschließend kurz etwas näher erläutern.
Mein erster Grundsatz lautet:
Gesellschaft verändert sich nur durch Bildung. Denn nur durch Bildung geben wir jungen Menschen die Gelegenheit, ihre Potentiale bestmöglich zu entfalten, sich frei und selbstbestimmt zu entwickeln und verantwortungsvolle Mitglieder unserer demokratischen Gesellschaft zu werden.
Mein zweiter Grundsatz ist:
Der bewusste Schritt von der Homogenität zur Vielfalt ist der Schritt von der Ausgrenzung zur Chancengerechtigkeit. So verändern wir mit Schule die Gesellschaft.
Und mein dritter Grundsatz lautet:
Inklusion ist eine Form des gesellschaftlichen Umgangs mit Vielfalt und Verschiedenheit. Sie impliziert eine Gleichwertigkeit jedes Einzelnen und anerkennt jede individuelle Persönlichkeit und jedes individuelle Entwicklungspotential als wertvoll.
Meine Damen und Herren, ich komme zum ersten Punkt:
So heterogen der Bildungsbegriff im Einzelnen auch verstanden wird – ich glaube, wir sind uns alle einig:
Bildung ist die Grundlage dafür, den Lebensalltag kompetent zu bewältigen und so die eigene Zukunft selbstbestimmt zu gestalten. Sie ist Voraussetzung für soziale Integration und gesellschaftliche Teilhabe und legt den Grundstock für Eigenverantwortung und Solidarität in einer demokratischen Gesellschaft.
Die Frage ist nun – und hier scheiden sich bekanntlich die Geister: Wie muss Schule sein, damit unsere Kinder und Jugendlichen als Erwachsene ihr Leben selbstständig führen und zum Wohle der Gemeinschaft beitragen können?
Ich denke, dass es wichtig ist, dass wir unseren Blick weiten, dass auch hier Mauern fallen. Dass wir die individuellen Fähigkeiten und Talente jedes Kindes und jedes Jugendlichen in den Blick nehmen, dass jedes Kind entsprechend seiner Fähigkeiten die passende Förderung erhält und wir verstehen, dass weder eine Momentaufnahme in Klasse 4 noch der Besuch einer Förderschule über den gesamten weiteren Schulerfolg und damit den Lebenserfolg eines Kindes entscheiden dürfen.
Nicht das Kind muss sich der Schule anpassen, sondern das System muss förderliche Funktion für jedes Kind, seine und ihre unterschiedlichen Talente, Begabungen und Potentiale bereitstellen. Mit Jutta Allmendinger gesprochen: „Die Schulen sind für die Schüler da.“
Ich ergänze: Und zwar für die, die wir haben, und nicht für die, die wir gern hätten!
Die Bildungspolitik ist hier in der Pflicht, einen Rahmen zu schaffen, der Aufforderungscharakter hat, und genau das ist Kern unseres Schulkonsenses und des gerade verabschiedeten 9. Schulrechtsänderungsgesetzes.
Denn der Wert von Bildung, meine Damen und Herren, bemisst sich weder ausschließlich am Maßstab der Realisierung von fernen Idealen noch an rein ökonomischen Fragen der Effektivität und Exklusivität eines Bildungssystems.
Der Wert von Bildung zeigt sich vielmehr an der Möglichkeit des Einzelnen zur Teilhabe.
Und wenn es der Schule zukünftig immer besser gelingt, Angebote zu formulieren, die den Einzelnen herausfordern, seine Möglichkeiten zu erkunden und seine Potenziale auszuschöpfen, dann sind wir meiner Meinung nach einer inklusiven Schule und damit einer zukünftigen inklusiven Gesellschaft ein großes Stück näher gekommen.
Der Schulkonsens in Nordrhein-Westfalen ist ein erster Schritt auf diesem Weg. Eine nationale Bildungsstrategie wäre – darauf aufbauend – erstrebenswert. Sie erscheint mir auch möglich, wenn alle Ebenen miteinander reden und wir gemeinsam eine Strategie entwickeln, wie wir unser Bildungssystem für die Zukunft fit machen können.
Politische Auseinandersetzungen sind wichtig, sie sind das wesentliche Merkmal einer Demokratie. Sie dürfen aber nicht zu Lasten unserer Kinder und Jugendlichen ausgetragen werden.
Meine Damen und Herren,
ein Bildungskonsens im Großen beginnt im Kleinen und das heißt, dass der Neubeginn nicht auf den Trümmern des Alten erfolgt, sondern auf den Fundamenten. Das bedeutet, wir brauchen Unterstützung. Unterstützung der Kolleginnen und Kollegen vor Ort, von Eltern, Schulträgern, Schulaufsicht. Wir brauchen ein Miteinander und kein Gegeneinander. Wir brauchen ein gesellschaftliches Klima, das der Behindertenrechtskonvention gerecht wird. Sehr prägnant formulierte dies Hubert Hüppe, der Beauftragte der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen – ich zitiere: „Wer Inklusion will, sucht Wege – wer sie nicht will, sucht Begründungen.“
Wenn wir alle konstruktiv daran mitwirken, Wege zu suchen, können wir, denke ich, zuversichtlich für die weitere Entwicklung der Inklusion, sowohl in den Schulen als auch davon ausgehend in unserer Gesellschaft sein.
Meine Damen und Herren,
ich komme zu meinem zweiten Punkt: Der bewusste Schritt von der Homogenität zur Vielfalt ist der Schritt von der Ausgrenzung zur Chancengerechtigkeit.
Einerlei wo wir auf Menschen oder Menschengruppen treffen, immer sehen wir: Jeder Mensch ist einzigartig und jede Gruppe heterogen. Wichtig ist, dass wir diese Vielfalt der Individualitäten wertschätzen und niemanden durch Mauern ausschließen.
Chancengerechtigkeit will also eine Gleichwertigkeit aller Menschen ohne das Ziel einer Gleichartigkeit. Das will ich an dieser Stelle ganz deutlich sagen. Es geht gerade bei Inklusion nicht um Gleichmacherei! Es geht um Anerkennung und Wertschätzung jedes Individuums in seiner Einzigartigkeit.
Es geht also um eine Gleichbehandlung aller verschiedenen Menschen in Anerkennung ihrer Unterschiedlichkeit. Es geht darum, endlich mit unserer Sortierung von Menschen in bestimmte Schubladen und Systeme aufzuhören.
Leider läuft nach Hunderten von Jahren die „Pädagogik der Vielfalt“ in Deutschland immer noch ins Leere.
„In heterogenen Gruppen erfolgreich miteinander umgehen und miteinander handeln können“, lautet eine von drei Schlüsselkompetenzen, die der OECD wichtig sind. Wie soll das in einem gegliederten Schulsystem geschehen, das von einer vermeintlichen und willkürlich gesetzten Homogenität ausgeht? Wie sollen dort Schülerinnen und Schüler lernen, Menschen aus anderen sozialen und kulturellen Gruppen anerkennend und respektvoll zu begegnen?
Meine Damen und Herren,
Schulen haben die Aufgabe, Kinder zu unterrichten, sie zu bilden und ihnen gesellschaftliche Werte zu vermitteln. Wie sollen sie diese Aufgabe erfüllen, wenn die Kinder getrennt werden und ihnen dadurch Lebenswelten verschlossen bleiben?
Den Umgang mit Vielfalt nicht erlernen zu können und das Menschenrecht auf inklusives Lernen zu verweigern, sind zentrale Probleme unseres Schulsystems. Unser Schulsystem lässt zu viele zurück – auch die Exzellenz.
Bei längerem gemeinsamem inklusivem Lernen werden wir niemanden verlieren, aber viele und viel gewinnen. Und unsere Potenziale heben. Ich verweise nur auf den gerade in der ZEIT erschienenen Artikel „Perlentaucher auf der Suche“ über eine Schule, an der Förderschüler und Hochbegabte gemeinsam lernen.
Allerdings: Es wäre vermessen zu glauben, die Bildung von heterogenen Lerngruppen käme pädagogischen „Schneekugeln“ gleich, in denen sich Prozesse durch einfaches Umstülpen wie von selbst in Gang setzen. Auch das zeigt der ZEIT-Artikel deutlich.
Gemeinsames und individuelles Lernen in heterogenen Gruppen setzt wirksame und ausgefeilte Konzepte der inneren Differenzierung voraus, die das Individuelle mit dem Gemeinsamen verbinden und Lernprozesse aufeinander zuführen, wo dies möglich ist.
Die Kunst für die Lehrenden dabei ist es, die Schere im Kopf zu überwinden. Es gibt nicht den „Mittelkopf“, wie Ernst Christian Trapp es im ausgehenden 18. Jahrhundert postulierte, an dem Lehre und Lernen ausgerichtet werden könnte. Im Gegenteil: Im 20. Jahrhundert müssen wir Schülerinnen und Schülern zieldifferentes, individuelles Lernen ermöglichen.
Natürlich ist das eine Herausforderung. Für unsere Schulen, aber auch für unser gesellschaftliches Miteinander.
Eine Entwicklung in die beschriebene Richtung setzt voraus, dass Lehrkräfte in der Schule und Bürgerinnen und Bürger im gesellschaftlichen Zusammenleben, ein anderes Selbstbild entwickeln müssen. Mehr als bisher erfordert dieses, dass Wertschätzung und damit eine ganzheitliche Sicht auf die Schülerinnen und Schüler und auf die Mitbürgerinnen und Mitbürger zu einem Schlüsselmoment des eigenen Handelns wird.
Das Denken muss von der Überzeugung ausgehen, dass die Kinder und Jugendlichen, die Mitbürgerinnen und Mitbürger wertvoll sind. Und zwar jede und jeder. Nicht die Skepsis und der Blick auf die Defizite dürfen die Ausgangspunkte sein, sondern das Vertrauen.
Der deutsche Sozialphilosoph Axel Honneth, Direktor am Institut für Sozialforschung der Universität Frankfurt und Professor an der Columbia University in New York City, hat diese Sichtweise so zusammengefasst:
„Wir müssen eine Tugend der Gewährung von vorweggenommener Anerkennung […] und ein Vertrauen in die Begabung und Fähigkeiten jedes Einzelnen entwickeln".
Nur Anerkennung und Vertrauen führen dazu, dass Mauern und Ausgrenzung in Schule und Gesellschaft keinen Ort mehr haben und Solidarität unser Handeln bestimmt.
Damit komme ich zu meinem dritten und letzten Punkt meines Beitrags:
Inklusion ist eine Form des gesellschaftlichen Umgangs mit Vielfalt und Verschiedenheit.
Meine Damen und Herren,
Deutschland hat die UN-Behindertenkonvention unterzeichnet, sie ist Auftrag und Verpflichtung für alle staatlichen Ebenen. Aber es geht im Kern der Sache nicht um Aufträge oder Pflichten. Es kommt auf die Haltung an!
Es geht nicht nur darum, Vereinbarungen zu unterzeichnen, Gebäude umzubauen oder Fortbildungen anzubieten. Es geht um sehr viel mehr!
Das hat Bundespräsident Gauck im Oktober 2012 in einer Rede sehr eindrucksvoll ausgeführt – ich zitiere:
„Dass all diese Kinder, all diese Verschiedenen gemeinsam in einer Schule zu jungen Erwachsenen reifen, ist mehr als ein Bildungsansatz. Es ist ein neues Lebenskonzept. […] Weil wir den Wert eines jeden Menschen anerkennen […] [J]eder [soll] seinen Platz im Klassenzimmer und in der Mitte unserer Gesellschaft finden.“
Es geht einer inklusiven Schule in einer inklusiven Gesellschaft also darum, jedem einzelnen Individuum durch die Beseitigung gesellschaftlich bedingter Nachteile ein Höchstmaß an Entfaltungsmöglichkeiten zu eröffnen.
Es geht um echte Chancengerechtigkeit für all unsere Kinder und Jugendlichen, Mitbürgerinnen und Mitbürger. Egal welcher Herkunft, egal aus welchem Elternhaus, egal ob mit oder ohne Handicap.
Wenn wir das ernst nehmen, kann der Grundgedanke der Inklusion gelingen. Dazu müssen wir allerdings folgendes beachten:
Erstens: Inklusion muss entlang der Bildungsbiografie des Einzelnen entwickelt werden. Individuelle Förderung, die auch zieldifferentes Lernen umfasst, ist eine Basis dafür.
Zweitens: Inklusion muss sich in Dynamik und Ausgestaltung an lokalen Gegebenheiten, den Wünschen der Eltern und Schülerinnen und Schülern und der Entscheidungsträger vor Ort ausrichten, und es gilt: Wo eine inklusive Beschulung an Regelschulen gewünscht ist, soll sie ermöglicht werden.
Drittens: Inklusion ist umfassend und muss in allen gesellschaftlichen Ebenen gelebt werden. In allen Schulformen des längeren gemeinsamen Lernens ebenso wie in Gymnasien, Realschulen, Berufskollegs. In kleinen, mittelständischen und großen Unternehmen ebenso wie in allen Institutionen. Ansonsten droht eine erneute Separierung unter anderen Vorzeichen.
Basis für alle drei genannten Punkte ist eine gelebte Kultur des Behaltens und der Wertschätzung.
Und genau das sind meines Erachtens die wirklichen Herausforderungen, vor denen wir stehen: die Veränderung der Haltung und das Bewusstsein „Inklusion geht uns alle an“.
Meine Damen und Herren,
ich komme zum Ende und fasse kurz zusammen:
Ich bin der Auffassung, dass eine funktionierende demokratische Gesellschaft davon lebt, dass sie sich auf die gleichen Rechte für alle ihre Mitglieder und die Vielfalt ihrer Lebensentwürfe stützt. Genau dies ist auch ein Auftrag aus unserer Vergangenheit.
Das bedeutet in der Konsequenz, dass jedem einzelnen Individuum unter Beseitigung der gesellschaftlichen Nachteile ein Höchstmaß an Entfaltungsmöglichkeiten eröffnet werden muss.
Politisch gesehen handelt es sich hierbei um einen notwendigen Prozess in der Gesellschaft, der auch in der Schule seinen Raum findet und finden muss, aber für alle Lebensbereiche Geltung beansprucht.
Entscheidend ist dabei:
Individuen sind gleichwertig, aber nicht gleichartig. Deshalb geht es auch nicht um die Individualisierung von Leistungsansprüchen, sondern um die Individualisierung von Förderarrangements, um die individuellen Entwicklungsmöglichkeiten auszuschöpfen.
Lassen Sie mich an dieser Stelle schließen. Ich bin überzeugt davon, dass ein Mentalitätswechsel der entscheidende Schlüssel für die vor uns liegenden Aufgaben ist.
Wir alle haben es gemeinsam in der Hand, wie inklusiv und zukunftsfest demokratisch wir unsere Gesellschaft gestalten.
Ich wünsche uns allen, dass uns dies gelingt!
Vielen Dank.