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Gliederung
- Einleitung
- Entstehung und Kerngedanken des Begriffes `Inklusion`
- Sozialpolitischer Zugang: „Inklusion bietet zentrale Aspekte für ein neues sozialpolitisches Leitbild“
- Struktureller Zugang: „Inklusion steht im Widerspruch zum konsumtiven Sozialstaat“
- Literatur
1. Einleitung
Das Konzept der Inklusion[1] wird in der Wissenschaft, wie auch in der Sozialpolitik und in der Praxis kontrovers und interdisziplinär diskutiert und ist an vielen Stellen positiv wie negativ hoch aufgeladen[2]. Dem entsprechend wird dem Konzept paradigmatische Qualität in der sozialen Praxis und Sozialpolitik zugesprochen. Das liegt einerseits an der Mehrdimensionalität und der grundlegenden Veränderungsaufforderung an sozial- und bildungspolitische Systeme, wie auch an dem starken Aufforderungscharakter an Praktiker_innen und soziale Unterstützungsstrukturen und letztlich am Potential, als Bild des Zusammenlebens in Gänze nützlich zu sein. „Der neue Dekadenbegriff heißt Inklusion“, skizziert Dr. Karl-Heinz Imhäuser, Vorstand der Montag Stiftung[3] die positive Tragweite des Begriffs. Gleichzeitig wird das Konzept Inklusion aber auch an vielen Stellen als Kritik an den bisherigen Errungenschaften und Arbeitsweisen im Bereich der sozialen Unterstützungsstrukturen gedeutet. Manche fragen einerseits kritisch, braucht es ein neues Wort[4] für die gute bestehende Praxis der Integration? Andererseits spricht das Konzept der Inklusion eine starke Sehnsucht nach einem grundlegend sich zu verändernden Blickwinkel auf sozial- und bildungsstaatliche Leistungen und auf das Zusammenleben und –arbeiten insgesamt an.
Das vorliegende Essay ist ein Extrakt aus der Masterarbeit „Inklusion als sozialpolitischer Imperativ – Wo liegen die Chancen und Schwierigkeiten in der Umsetzung des Inklusionsgedankens in der Sozialpolitik der Bundesrepublik Deutschland?“[5], die im Sommer 2013 fertig gestellt wurde. Das Essay skizziert zwei der vier Kernthesen aus der Arbeit. Der Begriff Inklusion „wirkt“ auf unterschiedlichen Ebenen. Die Masterarbeit identifiziert vier Zugangsebenen – systemisch, strukturell, kulturell und praktisch. Erstere beinhaltet Fragen, wie sich die Diskussionen um Inklusion auf Gerechtigkeitsvorstellungen und sozialpolitische Paradigmen auswirken. Der strukturelle Zugang thematisiert die rechtlichen und sozialstaatlichen Leistungen in Bezug auf die Aufforderung Inklusion. Die kulturellen und praktischen Fragen beziehen sich auf die Umsetzung und Haltung „vor Ort“, also in den sozialen Einrichtungen, in den Schulen und in den Köpfen der Mitarbeitenden. Was also bedeutet Inklusion für die Einrichtung und für den Einzelnen?
Die beiden nun folgenden Kapitel stellen zwei Thesen vor, die den Begriff Inklusion in Bezug zum sozialpolitischen System Deutschlands und seiner rechtlichen Leistungsstruktur behandeln. Zuvor folgt eine definitorische Einordung des Begriffes Inklusion.
2. Entstehung und Kerngedanken des Begriffes `Inklusion`
Ursprünglich wurde der Begriff Inklusion vor allem im soziologischen Kontext genutzt und diente als Gegenpart zu Exklusion für die Beschreibung der soziologischen Verortung gesellschaftlicher Gruppen. Die Soziologie gebraucht die Begriffe Inklusion und Exklusion als „Grundkategorien systemtheoretisch orientierter Gesellschaftsanalysen“[6] zur Erforschung gesellschaftlicher Spannungsfelder wie beispielsweise Armut und Reichtum oder Einheimische und Fremde. Auch Niklas Luhmann benutzte den Begriff in Abgrenzung zu Exklusion, wenn er von den „verschiedenen Partizipationsmöglichkeiten und –schwierigkeiten des Individuums in der modernen, funktional differenzierten Gesellschaft“[7] spricht. Aus diesem Gebrauch heraus wurde der Begriff auch in anderen Disziplinen, zunächst vor allem innerhalb der Bildungspolitik und im (sonder-)pädagogischen Kontext, in seiner direkten Übersetzung genutzt: „Einschluss“ oder auch „Dazugehörigkeit“.
Der pädagogische Begriff Inklusion wurde erstmals in den USA im Zuge der „kritischen Auseinandersetzung mit der Praxis schulischer Integration und ihrer Selektivität“ von Reynolds[8] verwendet. Im Folgenden wurden die Ansätze – „De-Kategorisierung“, „allgemeine Schule“ und „unified system“[9] auf der Ebene der Schule diskutiert und weiter verfeinert. Dabei wird deutlich, dass ein Ursprung der Inklusion in Bildungsfragen liegt und mit der kritischen Diskussion um Bildungsgerechtigkeit bzw. –gleichheit zusammenhängt, da die schulische Inklusion ein Ausschlussverbot einzelner Schüler_innen fordert.
Aber auch in Bezug zu anderen Kriterien mit Diskriminierungspotential oder auch „Teilhabebarrieren“ wurde schon in den 1980er Jahren der Begriff Inklusion genutzt, wie das Beispiel Mithu Alur zeigt. Sie beschreibt im Kontext eines Forschungsprojektes in Indien drei Barrieren gesellschaftlicher Partizipation: Armut, kulturelle Vorurteile und systemischer Ausschluss bestimmter Gruppen[10] und nennt die Aufhebung dieser strukturellen Barrieren Inklusion. Dieses Beispiel verdeutlicht die (sozial-)politische Dimension des Begriffes.
Zu Beginn der 1990er Jahre wurde `Inklusion` in Bezug zu der „inklusiven Schule“ und der „inklusiven Pädagogik, insbesondere mit der Salamanca Erklärung der Unesco[11] von 1994 weiter verbreitet und begann sich in der Bildungspolitik und Sonderpädagogik zu etablieren. Die Salamanca Erklärung formuliert im 2. Abschnitt: „we believe and proclaim in regular schools with this inclusive orientation are the most effective means of combating discriminatory attitudes, creating welcoming communities , building an inclusive society and achieving education for all; more over, they provide an effective education to the majority of children and improve the efficiency and ultimately the cost-effectiveness of the entire education system“[12]. Hier wird ein Vorteil einer inklusiven Bildung hervorgehoben: effektive Maßnahmen entgegen diskriminierenden Einstellungen. Hinzu kommt das positive Kriterium „Vielfalt“, das wichtige Aspekte liefert: Vielfalt als Gewinn, Heterogenität als Normalität und „Vielfalt ist bunt und bunt ist gut“. Der Ansatz, dass die Menschen, unabhängig, ob wir sie gruppenbezogen oder einzeln betrachten, und es nicht „den“ Menschen mit einer klaren Vergleichbarkeit oder mit dem Zuweisungspotential standardisierter und administrativer Kriterien gibt und er mit seinen Eigenschaften immer individuell bleibt – und damit nie in umfassende Systeme homogenisierbar ist - markiert einen neuen Blick, der die „Willkommenskultur“ anspricht: „Inklusion heißt, Menschen willkommen zu heißen. Niemand wird ausgeschlossen, alle gehören dazu: in unserer Gesellschaft, unserer Kommune, zu jeder kleinen oder großen Gruppe und Gemeinschaft“[13].
In Bezug auf das „Willkommensein“ oder auch die grundsätzliche Anerkennung des Individuums schreibt Monika Seifert: „Sie [die Inklusion] ist Ausdruck einer Philosophie der Gleichwertigkeit jedes Menschen, der Anerkennung von Verschiedenheit, der Solidarität der Gemeinschaft und der Vielfalt von Lebensformen“[14] und nennt einen wichtigen weiteren Aspekt: die Gleichwertigkeit. Diese skizzierten Ansätze beziehen sich auf das Gebot der Anerkennung der Einzigartigkeit des Menschen, und des daraus resultierenden Rechts auf Gleichwertigkeit. Dario Ianes nennt das Normalität: „Der Normalität muss eine erste Bedeutung (und Wert) als Gleichheit der Rechte zugewiesen werden: Normalität als gleicher Wert jedes Einzelnen, mit gleichen Rechten unabhängig von persönlichen, sozialen Beziehungen etc.“. Und weiter: „Das Bedürfnis nach Normalität ist also die Suche nach der Bestätigung, die gleichen Rechte wie alle zu besitzen, ein Mensch mit gleichem Wert wie alle anderen zu sein, die gleichen Chancen zu haben“[15].
Damit kommt ein weiteres zentrales Element zum Tragen: die Chancengleichheit. Inklusion fordert gleiche Chancen für die bewusst gewünschte Verwirklichung des eigenen Lebens, und dazu gehören ggf. fördernde Elemente, die den Menschen befähigen, die Chancen wahrnehmen zu können. Dieses Gebot kann noch um eine Forderung ergänzt werden und wird damit im Umkehrschluss ein Verbot: „Inklusion wendet sich gegen jede Form der administrativen Etikettierung, denn sie hält sie für einen Ausdruck von Diskriminierung, der die Teilhabe am öffentlichen Leben mindert“[16]. In der Diskussion um den Begriff und seinen Interpretationsspielraum ist damit der Raum gegeben, Inklusion auf bisher unterschiedlich definierte Zielgruppen anzuwenden, wie auch in unterschiedlichen sozialpolitischen und wissenschaftlichen Bereichen. Es geht nicht mehr nur um das Zusammendenken auf der individuellen (Gruppen-)Ebene, beispielsweise behinderter und nicht behinderter Menschen, sondern um systemrelevante Aspekte, die originäre Systemlogiken in Frage stellen und eben systemische Barrieren anspricht: „Inklusion kann jedoch nicht wirksam voran getrieben werden, wenn sie sich ausschließlich auf die Teilhabe von Individuen konzentriert. Stattdessen müssen die Barrieren bedacht werden, die sich im Umfeld und im System befinden und die individuelle Teilhabe behindern“[17].
Damit werden Systembarrieren sprachlicher, formeller und informeller Art angesprochen, die inkompatibel mit dem Gedanken der Inklusion sind. Diese Komplexität in einem Begriff, zum Beispiel in Bezug auf die Abgrenzbarkeit zu anderen Leitideen und die fehlende Spezifizierung für die Praxis, ruft dementsprechend Kritik hervor: „Wie auch andere Begriffe, wie soziale Gerechtigkeit oder Freiheit, zeichnet sich Inklusion dadurch aus, dass sie jedermann plausibel oder selbstverständlich erscheinen. Ihr Nachteil besteht darin, dass sie wegen ihres allzu allgemeinen Inhalts nicht klar definierbar sind, zwar eine neue Richtung angeben, aber simplifiziert werden und damit an Durchschlagskraft verlieren“[18]. Hinzu kommt die fehlende Trennschärfe zu anderen Begriffen, insbesondere zu „Integration`. Dazu schreibt Hinz: „Inklusion ist keine (modernisierte) Integration, sondern ein bürgerrechtlich basierter Ansatz, der die Begrenzungen der Heil- und Sonderpädagogik sowie der Behindertenhilfe überwindet. `Inklusion von Behinderten` ist ein Widerspruch in sich selbst“[19]. Und nach Dannenbeck beginnt „der Weg der Inklusion […] beim Nachdenken über den eigenen Standpunkt“ [20].
Auf den Punkt bringt es Franz Fink: „Inklusion bedeutet, dass Rahmenbedingungen geschaffen werden, unter denen alle Bürger-/innen eines Gemeinwesens ihre selbstbestimmte Teilhabe verwirklichen können. Und das wiederum bedeutet, Zugang zu allen materiellen, sozialen und kulturellen Möglichkeiten und Prozessen einer Gesellschaft zu haben“[21]. Zentrale definitorische Elemente sind demnach Teilhabe, Selbstbestimmung, Chancengleichheit, Ausschlussverbot und Heterogenität als wünschenswerte Anerkennung von Normalität.
3. „Inklusion bietet zentrale Aspekte für ein neues sozialpolitisches Leitbild“
Einige zentrale Aspekte der Inklusion sind Gegenstand moderner Gerechtigkeitstheorien. Begriffe wie Teilhabe, Selbstbestimmung, Empowerment und Chancengleichheit finden sich sowohl nach dem 2. Gerechtigkeitsgrundsatzes von Rawls[22], als auch in dem Capability Approach von Sen und Nussbaum wieder[23]. Beide Ansätze verfolgen den Gedanken der gleichen Chancen (Positionserreichung), nicht aber der Gleichheit unter den Menschen. Inklusion bewegt sich zwischen einer materiell ausgleichenden und chancenbezogenen sozialen Gerechtigkeit, wobei der Fokus auf den Chancen liegt. Genauso ist existenzielle Sicherheit durch materielle Kompensation vereinbar mit dem inklusiven Gedanken. Inklusion propagiert demnach eine soziale Gerechtigkeit, die das Individuum und seine Ausgangslagen stärkt; sie anerkennt Unterschiede zwischen den Menschen, erlaubt aber nicht, dass sich diese unveränderbar und im Vorfeld in der Wahrnehmung der Verwirklichung der eigenen Biografie auswirken. Diese Vorstellung einer sozialen Gerechtigkeit findet auch mehr und mehr Anklang in sozialpolitischen Strukturen und finanzielle Leistungen, wie beispielsweise Teilhabe, Chancengleichheit, Aktivierung und Selbstbestimmung in den Sozialgesetzbüchern IX, XI und XII zeigen. Darüber hinaus sind aktuelle sozialpolitische Diskussionen im grundsätzlichen Stil geprägt von diesen Begriffen und einer chancenbezogenen Sozialpolitik, wie etwa Debatten um Sozialraumbudgets, um den Kita-Ausbau oder um die Ambulantisierungsprozesse in Pflege und Behindertenhilfe zeigen.
Die Chance der Inklusion liegt insbesondere darin, dass die bestehende Sozialpolitik mit kompensierendem Charakter nicht grundsätzlich in Frage gestellt wird durch das Konzept der Inklusion, sondern dadurch nur bestehende Leistungen in ihrer Intention erweitert werden oder aber weitere Leistungen dazu kommen. Als „Zielpunkt moderner Sozialpolitik“[24] genügt damit das Konzept der Inklusion und kann auf Grund seiner zentralen Elemente als neues sozialpolitisches Leitbild genutzt werden, obgleich viele kompensierende Leistungen gleichzeitig erhalten bleiben können.
Schwierigkeiten sind wiederum im Kontext der aktuellen marktwirtschaftlichen Verhältnisse zu erkennen, dessen „Gesetze“ insbesondere die persönliche marktwirtschaftliche Verwertbarkeit der eigenen Person betreffen. Es wird eine Leistungsfähigkeit definiert, die in allgemeiner Form immer mehr Menschen nicht erbringen können. Anlehnend an den Satz von Anne-Dore Stein[25], nachdem Merkmale von Menschen an den Stellen homogenisiert werden, wo eine gemeinsame Schwäche der „Leistungsfähigkeit hinsichtlich der wirtschaftlichen Verwertbarkeit der eigenen Arbeitskraft“[26] identifiziert wird, bieten kapitalistische Strukturen durch wenige „Leistungskriterien“ auch nur wenig Ansatzpunkte für Chancengleichheit, da definierte, kurzfristige und standardisierte Leistungen (Produktivität, Effizienz) erbracht werden müssen, die viele Menschen in einem zu starren Raster ausschließen. Andererseits ist auch die Sozialpolitik stark von der eigenen Legitimation durch eine wirtschaftliche Verwertbarkeit abhängig. Sie kann dafür einerseits den Chancencharakter der Inklusion nutzen, da dieser einen individuellen Forderungscharakter enthält, aber andererseits viele Leistungen nach wirtschaftlichen Maßstäben nicht legitimiert. Das wirkt sich auf die sozialen Unterstützersysteme aus. Diese können nur in wirtschaftlichen Komplexen agieren, und Aufgaben die keine wirtschaftliche Abrechnung zur Folge haben, sind nicht dauerhaft leistbar.
Eine Abkehr von Prinzipien der „Fürsorge“ und „Barmherzigkeit“, die häufig willkürlich definiert die Sozialpolitik lange Zeit geprägt haben, ist mit dem inklusiven Konzept wiederum gut möglich. Aber hier muss noch der Gedanke angebracht werden, dass das „Verbot“ von einer im Vorfeld definierter Hilfsbedürftigkeit und daraus resultierenden Barmherzigkeitsgedanken auch den Weg einer Marktwirtschaft ebnet. Wenn nun von Chancengleichheit und Befähigung gesprochen wird, werden diese Elemente zwangsläufig mit der wirtschaftlichen Verwertbarkeit des Einzelnen in Verbindung gebracht und evt. daran gemessen. Darin liegt die Gefahr, die der Satz „Fördern und Fordern“ verdeutlicht: wir fördern die Chancen, die eine marktwirtschaftliche Verwertbarkeit verbessern, wir fordern aber gleichzeitig die wirtschaftliche Verwertbarkeit. Bemessungsgrundlage ist einzig diese Art der Verwertbarkeit. D.h. nicht individuelle Chancen der eigenen Lebensführung stehen im Vordergrund, sondern eine „Chancenherstellung“ zur Entlastung der Sozialsysteme, sprich Herstellung von irgendeiner Art Arbeitsfähigkeit. Viele Menschen werden durch dieses „Raster“ fallen, u.a. dadurch, weil ihnen keine „Hilfsbedürftigkeit“ und auch „Abhängigkeit“ von anderen, durch inklusive Konzepte „erlaubt“ werden[27]. Hier steht die teilweise erwünschte „Hilfsabhängigkeit“[28] der individuellen Autonomie und dem Empowerment des Einzelnen entgegen. Beides ist in der Gesellschaft zu beobachten: nicht jeder will autonom und selbstbestimmt durch das Leben gehen mit einem Fokus auf seine persönlichen Chancen, viele Menschen sind gerne bereit, hilfsbedürftig zu sein. Ein Beispiel, dass diese Art der Kategorisierung schlicht Menschen insgesamt von sozialstaatlichen Leitungen ausschließen, zeigt der Umgang mit sog. „Grenzgängern“ im Arbeitsbereich. Menschen, die zu „leistungsfähig“ sind für die Arbeit in Werkstätten für Menschen mit Behinderung, aber zu labil für den Konkurrenzkampf im allgemeinen Arbeitsmarkt, fallen aus dem Raster.
4. „Inklusion steht überwiegend im Widerspruch zum deutschen, konsumtiven Sozialstaat“
Es existiert in der BRD (noch) kein „Inklusionsanspruch“ in bundesdeutschen Gesetzen, der auch als solcher deklariert wäre. Aber Teilaspekte von Inklusion wie die Begriffe Teilhabe und Aktivierung sind einerseits wie oben erwähnt mittlerweile gesetzlich verankert[29]. Andererseits formuliert Artikel 2, Absatz 2, SGB I zugleich die Möglichkeit der Inanspruchnahme sozialer Rechte, die aber nur bei Bedürftigkeit Geltung erlangen. Zunächst muss also eine Prüfung der Anspruchsberechtigung stattfinden. Damit existiert ein struktureller Widerspruch zu dem Inklusionsgedanken: Sozialleistungen werden grundsätzlich nur dann erbracht, wenn der Anspruch klar identifiziert ist. Es findet dementsprechend eine Kompensation von Benachteiligung statt, aber erst nachdem Benachteiligung definiert wurde. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass sämtliche Leistungen und die Anspruchsgruppen im Vorfeld festgelegt werden müssen. Dies geschieht u.a. mit Abweichdefinitionen vom „typischen Zustand“ einer Altersgruppe. Dazu kommt, dass die Sozialgesetzbücher den „gesetzlich normierten Anspruch“ definieren, aber die Umsetzung bei den Sozialhilfeträgern liegt, die in vielen Fällen nach „Ermessen“ zu handeln haben[30] und damit in jedem Fall nach „Recht und Gesetz“[31] entscheiden müssen. Soziale Anliegen lassen sich aber eben nicht in Schablonen abbilden, und somit arbeitet das gesamte Sozialhilfeträgersystem immer im eigenen Ermessen, wobei die grundlegende Sozialleistungsstruktur dahinter kategorial angelegt ist. Inklusion verlangt die Herstellung von Chancengleichheit, um damit Exklusion gar nicht erst zu zulassen. Exklusion findet aber im bestehenden System automatisch dann statt, wenn die Sozialleistungen kategorial arbeiten und damit Minderheiten etikettieren oder, schlimmer noch, stigmatisieren. Das ist gut an den öffentlichen Diskussionen um „Hartz 4-Beziehende“, arbeitslose oder behinderte Menschen zu erkennen. Damit ergeben sich große Schwierigkeiten, die sich in dem Zusammendenken der inklusiven Theorie und der strukturellen, sozialpolitischen Praxis ergeben und demnach auch in allen Feldern zu finden sind. Inklusion fordert einen investiven Sozialstaat, der individuell und präventiv funktioniert. Die Sozialgesetzbücher arbeiten aber überwiegend mit konsumtiven Sozialleistungen[32], wohingegen der investive Sozialstaat den Fokus auf „Maßnahmen zur Verbesserung der Gelegenheitsstrukturen“[33], also Chancen, legt und sich damit von dem nachsorgenden Sozialstaat abgrenzt. Dieser „reagiert“ auf Bedarfe, indem er Defizite definiert und diese dann ausgleicht.
Auf der Ebene der Vereinten Nationen existieren wichtige Errungenschaften im Sinne inklusiver Strukturen und Gesetze, wie das ICF[UB1] [34] und die UN-BRK[35], wobei letzteres verbindliches Völkerrecht markiert. Ebenso sind moderne sozialpolitische Gesetzgebungen der Bundesrepublik, wie oben gezeigt, mehr und mehr mit Elementen der Inklusion gespickt. Die Chancen liegen also in den aufgenommen Begriffen und deren (zukünftige) Auswertung.
Schwierigkeiten sind in dem Bereich der Identifikation von Hilfsbedürftigkeit und Inanspruchnahme von sozialen Leistungen zu sehen. In diesem Punkt existieren auch viele sog. Schnittstellenproblematiken[36], einerseits zwischen den unterschiedlichen Gesetzgebungsebenen (UN-BRK vs. deutsche Sozialgesetzbücher) und innerhalb der Sozialgesetzbücher (Beispiel: SGB XI und XII für Pflegeleistungen für beeinträchtigte Menschen – das SGB XII prüft grundsätzlich Einkommen und Vermögen vor dem Erbringen einer Leistung, das SGB XI nicht) und andererseits auch zwischen den Begriffen und Zuständigkeiten. Der Begriff „Rehabilitation“ (Wiederherstellung zu einem definierten Status) beispielsweise ist inkongruent mit Selbstbestimmung (Erreichen eines selbstgewählten Status`). Oder das Wunsch- und Wahlrecht im SGB IX steht im Widerspruch zu Teilen der Eingliederungshilfe im SGB XII. Zudem existiert eine Vielzahl von zuständigen Stellen, die den inklusiven Grundsatz der individuellen Unterstützung und „koordinierten Leistung“ in der Praxis erschweren. Das SGB ist in seiner „Tradition“ durch den konsumtiven Sozialstaat geprägt. In erster Linie werden materielle Ausgleiche in erschwerten Lebenslagen mit dem SGB ermöglicht. Die Begründung sozialstaatlicher Leistungen ist in erster Linie dem Gedanken eines „Regulativs“ der Marktwirtschaft und dem sozialen Rechtsstaat aus Artikel 28, Grundgesetz, geschuldet. Dabei wird an den meisten Stellen reagiert und nicht wie im inklusiven Sinne gefordert, im Vorfeld agiert. Das Reagieren besteht zudem noch darin, Menschen mit sozialen Anliegen so zu unterstützen, dass sie in definierte Regelsysteme zurückkehren können. Das zeigt u.a. der Begriff „Eingliederungshilfe“ im SGB XII. Eine inklusive Gesetzgebung ginge von individuellen Teilhabechancen aus und würde nicht eingliedern müssen, da zuvor nicht ausgegliedert wurde. Diskussionen um Anspruchsberechtigungen, Abweichungen von einem „typischen Zustand“ oder dem Ermessensspielraum der Rehabilitationsträger zeigen diese Diskrepanz zwischen heutiger Praxis und einem inklusiven Anspruch und bergen demnach erhebliche Schwierigkeiten in der Umsetzung. Die Hypothese, dass „Inklusion im Widerspruch zum konsumtiven Sozialstaat steht“, beschreibt die Chancen und Schwierigkeiten: so lange der Fokus auf materiellen Ausgleich, pauschale Kategorien der Anspruchsberechtigungen und das Eingliedern in definierte Systeme mit dem Ziel der wirtschaftlichen Unabhängigkeit der Menschen, wird es schwierig sein, inklusive Ansätze zu praktizieren. Auf der anderen Seite existieren Chancen durch investive Elemente im SGB, wie zum Beispiel den Vorrang der Prävention in §3, SGB IX und durch zentrale Begriffe in der Gesetzgebung und erste Umsetzungsstrategien, die individuelle und weitestgehend unstandardisierte Vorgänge zulassen[37]. Aber auch insbesondere die UN-BRK birgt die große Chance als programmatische Konvention ein Umdenken zu erzeugen und auch (gerichtliche) Präzedenzfälle zu produzieren, sowie bestehende Regelsysteme in der BRD sozialpolitisch zumindest auf den Prüfstand zu stellen[38].
Dennoch bleibt die Frage der eigenen Überzeugung bzw. der der sozialen Einrichtung, Inklusion umzusetzen. Wer das nicht möchte kann auf Grund der bestehenden Struktur sich mit allem Recht auf eben diese „alte“ Struktur „zurück ziehen“ (beispielsweise steht die finanzielle Existenz über dem Auftrag Inklusion umzusetzen). Es besteht aus diesem Grund eine große Gefahr eines „Image-Missbrauchs“ durch das Wort, ohne Inhalte tatsächlich darauf auszulegen. Eine Beobachtung zeigt, dass Inklusion nur an den Stellen anfänglich umgesetzt wird, wo Mehrwerte, zumeist in Form von Geldmitteln, daraus entstehen. Zudem gibt es Befürworter einer „Top-Down-Strategie“, insbesondere unter den Mitarbeiter_innen außerhalb der Führungsebenen, und Befürworter einer „Bottom-Up-Strategie“ in der Umsetzung von Inklusion, insbesondere in der Führungsebene. Dies kreiert fehlende Verantwortungsbereitschaften. An vielen Stellen wird der Handlungsauftrag „hin- und hergeschoben“. Inklusion wird bisher nicht aus sich heraus als Handlungsauftrag verstanden und wird durch fehlende sozialpolitische Strategien zusätzlich unterminiert.
5. Literatur
Amrhein, Bettina. 2011. Inklusion in der Sekundarstufe. Bad Heilbrunn : Julius Klinkhardt Verlag.
Booth, Tony. 2012. Ein internationaler Blick auf inklusive Bildung. Wert für alle? . [Buchverf.] Andreas Hinz und Ulrich Niehoff (Hrsg.) Ingrid Körner. Von der Integration zur Inklusion. Marburg : Lebenshife Verlag, 2012, S. 53-74.
Dannenbeck, Clemens und Dorrance, Carmen. 2011. Inklusion in Einrichtungen der Kinder- und Jugendarbeit - ein Fortbildungsmodul . [Buchverf.] Petra Flieger und Volker Schönwiese. Menschenrechte Integration Inklusion. Bad Heilbrunn : Julius Klinkhardt Verlag, S. 205-212.
Fink, F. (2011). Der steinige Weg zur Inklusion. In T. H. Franz Fink, Inklusion in der Behindertenhilfe und Psychatrie (S. 13-28). Freiburg: Lambertus Verlag.
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Katzenbach, D. (2007). Vielfalt braucht Struktur. Frankfurt am Main: Kolloquien 12.
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Opielka, Michael. 2008. Sozailpolitik. Hamburg : Rowohlt Verlag.
Rawls, J. (1975). Eine Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt: Suhrkamp.
Schablon, Kai-Uwe. 2010. Community Care: Professionelle unterstützte Gemeinwesenseinbindung erwachsener geistig behinderter Menschen. Marburg : Lebenshilfe Verlag.
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Wunder, M. (2011). Die deutsche Liga für das Kind. Abgerufen am 12.1.2013 von http://liga-kind.de/fruehe/611_wunder.php.
[1] Der Begriff Inklusion wird in der Literatur sehr vielfältig umschrieben; er wird als Konzept, Idee und Gedanke, über Leitbild, Wert oder Vorhaben bis hin als Paradigma oder Theorie bezeichnet. In diesem Essay spreche ich von dem Konzept oder dem Gedanken der Inklusion, da er mehr ist als eine Idee, aber als Leitbild nur anfänglich nutzbar ist und als Theorie erst noch verifiziert werden muss (z.B. Hinz 2006).
[2] Beispielsweise die Debatte zwischen Andreas Hinz und Helmut Reiser in Katzenbach (2007) oder Wocken (2010).
[3] Imhäuser, 2011.
[4] Zum Beispiel Michael Wunder: „Inklusion. Nur ein neues Wort oder ein anderes Konzept?“ (Wunder, 2011).
[5] Nikolai Goldschmidt: „Inklusion als sozialpolitischer Imperativ – Wo liegen die Chancen und Schwierigkeiten in der Umsetzung des Inklusionsgedankens in der Sozialpolitik der Bundesrepublik Deutschland?“, Master Sozialpolitik, Universität Bremen.
[6] Gestrich, 2007, S. 9.
[7] Speck, 2010, S. 63.
[8] Reynolds 1976 in: Hinz, Körner, & Niehoff, 2012, S. 34.
[9] ebd. S. 35.
[10] ebd. S. 38.
[11] im englischen Original; die deutsche Übersetzung liefert `Integration`.
[12] UNESCO, 1994.
[13] Montag Stiftung , 2011, S. 18.
[14] Seifert, 2006, S. 100.
[15] Ianes, 2009, S. 10.
[16] Amrhein, 2011, S. 19.
[17] Booth, 2012, S. 54.
[18] Speck, 2010, S. 68.
[19] Hinz, 2009, S. 5.
[20] Dannenbeck & Dorrance, 2011, S. 208.
[21] Fink, 2011, S. 21.
[22] Vgl. Rawls, 1971.
[23] Vgl. Sen 1979.
[24] Fuchs-Goldschmidt, 2010.
[25] Stein, 2012, S.95.
[26] ebd.
[27] Im Subsystem Schule lässt sich dieser Gedanke im Kleinen gut verdeutlichen: die beginnende Inklusion an Schulen ist am bestehenden System ausgerichtet, d.h. behinderte Schüler_innen werden an der Leistungsfähigkeit und an den Umgangsstandards des ursprünglichen Systems gemessen und nicht an individuellen (neuen) Maßstäben. Das hat zur Folge, dass in der Wahrnehmung vieler die behinderten Schüler_innen schlichtweg leistungsschwach sind. Leistung bezieht sich dabei auf definierte Kriterien im heutigen Lehrplan. Wenn dann gefördert wird, dann in Richtung der definierten Leistungskriterien, die häufig nicht vereinbar sind mit individuellen Behinderungen. Ein großer Indikator dieser Problemlage ist das bestehende Notensystem, das lediglich eine Vergleichbarkeit der zu beurteilenden Schüler_innen anhand von definierten Kriterien zulässt, aber eben nicht absolute Leistungen. Auch Kriterien wie „Sozialkompetenz“ oder „Personalkompetenz“ lassen zwar neue Maßstabsgedanken zu, andererseits sind sie aber, solange sie in Noten abgebildet werden, nur relativ und damit wenig aussagend, da standardisierte Verhaltensmuster dem Recht auf Individualität entgegen stehen. Die inklusive Schule kann also nur mit individuellem Curricula, unabhängigen und prozesshaften Leistungsmaßstäben und absoluten Leistungsbewertungen (z.B. in individueller Textform) funktionieren, mit dem Ziel der bestmöglichen Chancenherstellung für die eigene Lebensführung.
[28] Diese generiert Anspruchsberechtigungen für sozialstaatliche Leistungen. Ein Beispiel zeigt das „Bemühen“ um einen Grad der Behinderung oder einer Pflegestufe.
[29] Bundesgesetzlich verankert sind diese Begriffe im SGB II, III, VIII und IX.
[30] vgl. Schablon, 2010, S. 33.
[31] ebd.
[32] Auch: vorsorgender und nachsorgender Sozialstaat. Opielka, 2008, S. 92.
[33] Opielka, 2008, S. 92.
[34] Die ICF oder auch International Classification of Functioning, Disability and Health heißt übersetzt: Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit. Mit ihr kann der funktionale Gesundheitszustand, die Behinderung, die soziale Beeinträchtigung und die relevanten Umgebungsfaktoren eines Menschen beschrieben werden.
[35] Die UN-BRK (Die Konvention über die Rechte behinderter Menschen) ist ein völkerrechtlicher Vertrag und es ist noch nicht klar, inwiefern der Inklusionsanspruch darin, individuelles Recht ableitet.
[36] Diese produzieren auch die sog. „Grenzgänger“. Menschen, die nicht eindeutig einem Anspruch zugeordnet werden können, weil die SGB-Paragrafen zu starr sind. Das betrifft z.B. Menschen, die Leistungen nach dem SGB XI oder XII erhalten können (Pflegemaßnahmen), oder auch Jugendliche, die per Definition „zwischen“ einer geistigen und psychischen Beeinträchtigung liegen (SGB VIII und IX).
[37] Wie zum Beispiel die Unterstützte Beschäftigung nach §38A, SGB IX.
[38] Dies geschieht nun anfänglich durch die Erarbeitung von Aktionsplänen in Bund und Ländern, freilich ohne Gesetzeskraft.