„In der Debatte hat die pluralistische Gesellschaft ihre eigenen Prinzipien ein Stück weit verraten.“ Das war die starke Schlussthese von Werner Patzelt auf einer Veranstaltung im „Kleinen Haus“ des Staatsschauspiels Dresden? (15. März), bei der drei Dresdner Wissenschaftler der Philosophischen Fakultät der TU Dresden – neben dem Politikwissenschaftler Patzelt der Soziologe Karl-Siegbert Rehberg und der Kommunikationswissenschaftler Wolfgang Donsbach – ihre empirischen Befunde und die darauf fußenden Schlussfolgerungen präsentierten. Die differenzierten, wohl fundierten und formulierten Überlegungen der drei Kollegen wurden, wie gewöhnlich, medial sehr selektiv rezipiert. Gerade die von der Presse (Sächsische Zeitung v. 16. März, http://www.sz-online.de/nachrichten/pegida-treibt-schweissperlen-auf-dresdner-denkerstirnen-3059495.html) aufgegriffenen Äußerungen aber fordern zu entschiedenem Widerspruch heraus. Neben der Kritik von Patzelt an der „vorschnellen Verteufelung“ von Pegida, die im Eingangszitat gipfelte, muss hier auch die Einschätzung von Wolfgang Donsbach genannt werden zum Leitmotiv der „Lügenpresse“-Rufe, die die Demonstrationen bis heute begleiten. Zwar attestierte er den Akteuren durchaus eine verzerrte Wahrnehmung der Medienberichterstattung, hält ihre Kritik aber nicht für völlig unbegründet: „Der größte Teil des Dresdner Image-Schadens“, so zitiert ihn die Sächsische Zeitung, „ist nicht durch die Pegida-Demonstrationen entstanden, sondern durch die Art der Berichterstattung“. Diese beiden Äußerungen erscheinen mir ebenso problematisch wie symptomatisch für den Stand der Debatte, wie ich im Folgenden begründen möchte. Dass ich dafür keine im engeren Sinn fachwissenschaftliche Expertise beanspruchen will, sei der Redlichkeit halber vorweggeschickt.
Eine Rückblende: Als Pegida im Spätherbst auf dem Radar der politischen Öffentlichkeit auftauchte, war die Ablehnung als rechtsradikal, zumindest rechtspopulistisch, und ausländerfeindlich zunächst ziemlich einmütig, mal polemisch als „komische Mischpoke“ (Cem Özdemir), mal zurückgenommener, aber ebenso entschieden, als „Hetze und Verleumdung“, für die kein Platz in Deutschland sei (Angela Merkel). Die Politik und ebenso die kritische Berichterstattung der Medien reagierte damit insbesondere auf die Parolen, die die Dresdner Montagsdemonstrationen bis heute begleiten, von der „Lügenpresse“ über die Politiker als „Volksverräter“ bis hin zu den ausländerfeindlichen Slogans wie „Überfremdung“ und „Asylbetrüger“, ganz zu schweigen von den persönlichen Verunglimpfungen von Politiker(innen) bis hin zur Bundeskanzlerin oder von Drohungen aus den Reihen der Demonstranten gegenüber kritischen Journalisten (http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/pegida-demonstranten-machen-front-gegen-etablierte-medien-13345656.html). Die inkriminierten Facebook-Äußerungen von Lutz Bachmann über das „Viehzeug“ und „Gelumpe“ sind mithin keine isolierten Entgleisungen.
Unsicherheiten in der Bewertung
Je mehr Menschen in Dresden zu den Pegida-Demonstrationen kamen, desto mehr wuchsen dann aber das Unbehagen und der Erklärungsbedarf. Konnte es wirklich sein, dass Zehn- oder Zwanzigtausend Menschen rechtsradikalen Parolen hinterherliefen? Oder mochten sich nicht legitime Einstellungen und Bedürfnisse hinter der großen Mobilisierung verbergen? Es begann die Zeit der montäglichen Beobachtungen und Befragungen. Die öffentliche Präsentation der ersten empirischen Ergebnisse schienen tatsächlich viele der vermeintlichen Gewissheiten in Frage zu stellen. Nicht depravierte Verlierer vom Rande der Gesellschaft wurden als ein Kern der Bewegung ausgemacht, sondern sozial abgesicherte Berufstätige mittleren Alters und mittleren sozialen Status. Diese trotz aller methodischen Probleme im Kern durchaus plausiblen Beobachtungen führten nun allerdings zu einer fragwürdigen Wende in der politischen Bewertung. Mehr und mehr wurde Verständnis laut für die Ängste und Nöte der Menschen, für ihre „Anliegen“, die „ernst genommen“ werden müssten und nicht „in die rechte Ecke gestellt werden“ dürften. Politische Bildung und Politiker suchten das Gespräch mit den Pegida-Anhängern. Dieses Bild als legitime soziale Bewegung hat bis heute in Teilen der Öffentlichkeit Bestand und steht auch hinter den beiden zitierten Einschätzungen der Kollegen Donsbach und Patzelt: Zu trennen sei zwischen den unappetitlichen Gründerfiguren a la Lutz Bachmann, von denen man sich natürlich distanzieren müsse, und der breiten Masse der Pegida als Ausdruck der berechtigten Sorgen „normaler“ Bürger. Wie immer als begnadeter Zuspitzer auftretend formulierte Werner Patzelt bei der Diskussion im „Kleinen Haus“, die Figuren an der Spitze wie Bachmann seien ebenso austauschbar wie die Parolen – entscheidend ist nach dieser Interpretation das, was sich unter dieser Oberfläche verbirgt.
Empirische Beobachtungen und Befragungen zum Pegida-Phänomen sind natürlich prinzipiell, das sei ausdrücklich festgestellt, ebenso wenig verwerflich wie Gespräche mit Pegida-Mitläufern. Entscheidend ist, welche Schlüsse aus den empirischen Daten gezogen werden, und wie die Gespräche geführt werden. So ist verschiedentlich darauf hingewiesen worden, etwa von Gesine Schwan in der Fernsehrunde bei Günther Jauch (http://www.spiegel.de/kultur/tv/guenther-jauch-ard-talk-zu-pegida-mit-gesine-schwan-und-bernd-lucke-a-1008448.html), dass der Befund einer sozialen Mitte keineswegs gleichsam automatisch mit politischem Radikalismus unverträglich ist, dass etwa der Nationalsozialismus auf einer Art Radikalismus der Mitte basiert. Aber das soll hier nicht weiter vertieft werden. Vielmehr möchte ich den Blick wieder zurück auf die vermeintliche „Oberfläche“ lenken. Denn die Pegida-Debatte ist auch und sehr wesentlich eine Diskussion über die Grenzen des Sagbaren im öffentlichen Raum. Einerseits erscheint es als Binsenweisheit, dass eine Demokratie von der öffentlichen Auseinandersetzung darüber lebt, was dem Gemeinwesen nützt. Um überhaupt politische Kontroversen austragen zu können, müssen gegensätzliche Meinungen und Einschätzungen im öffentlichen Raum artikuliert werden dürfen, auch und gerade Minderheitsmeinungen. Wenn bestimmte Meinungen und Positionen dort keinen Raum finden und in eine vorpolitische Sphäre gebannt bleiben, kann ein gefährliches Vakuum entstehen, eine Diskrepanz zwischen politischem System und Lebenswelt, die ein Legitimitätsdefizit des Systems begründen kann. Konkret: Debatten über die Grenzen der Zuwanderung und über die Ausgestaltung des Asylrechts sind nicht per se illegitim, und sie werden ja auch immer wieder geführt, und das durchaus auch polemisch. Also keine Tabus? Doch! Die Ausgrenzung - wenn man so will: Tabuisierung! - bestimmter Formen von persönlicher Herabwürdigung, von Rassismus und Antihumanismus gehört genuin zur politischen Kultur einer lebendigen Demokratie; dabei sind die Grenzen zwischen dem Erlaubten und dem Tabuisierten ihrerseits natürlich wieder Gegenstand von Kontroversen und müssen immer wieder neu ausgehandelt werden. Jahrzehntelang lebte z. B. die westliche bundesrepublikanische Gesellschaft in der Nachfolge des Nationalsozialismus mit braunen Untertönen. Mehr und mehr wurden diese aber marginalisiert, in den vorpolitischen Raum (an die vielbeschworenen „Stammtische“) abgedrängt und in der öffentlichen Debatte delegitimiert; dabei verweisen die zwischenzeitlichen Wahlerfolge von NPD und anderen rechtsextremen Gruppierungen auf die Fortdauer entsprechender Einstellungen. Letztlich gehört die erfolgreiche Tabuisierung braunen Gedankengutes zur Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik, indem die Grenzen des Sagbaren eben auch die Grenzen des Machbaren und Möglichen bestimmten; ohne diese Tabuisierung dürfte die begrenzte Mobilierungsfähigkeit über eine kleine rechtsradikale Szene hinaus kaum zu erklären sein.
Wenn Sprache als Waffe gegen Minderheiten gerichtet wird
Nicht alles darf folglich gesagt werden. Dabei liegt die Grenze dort, wo die Sprache und ihre Bilder gewalttätig und als Waffe gegen Minderheiten gerichtet werden. Angst vor der Massierung zu vieler männlicher Asylbewerber in der Nähe der eigenen Wohnung zu formulieren, wie es während der genannten Diskussion geschah, mag vielen, die die Pflicht zur Humanität und zur Gastfreundschaft betonen, übertrieben oder verzerrend erscheinen, darf aber nicht tabuisiert werden, selbst dann nicht, wenn sich dahinter Stereotype über „die“ Ausländer, oder jedenfalls „die“ Muslime, die uns problematisch und grenzwertig erscheinen mögen, verbergen. Diese Stereotype müssen vielmehr diskursiviert, diskutiert und öffentlich in Frage gestellt werden. Wenn aber diese Zuschreibungen dann in rassistischer Weise mit herabwürdigenden Etiketten verbunden werden („Gelumpe“, „Fotze“ etc.), dann ist die Grenze des öffentlich Tolerierbaren überschritten und entschiedener Widerstand gefordert.
Pegida ist nun aber, von ihren montäglichen Erscheinungsformen her, keine bloße Bewegung besorgter Bürger, sondern eine Schmähgemeinschaft, eine sich immer wieder neu zusammenfindende Gruppe, für die herabwürdigende Parolen und Beleidigungen konstitutiv sind. Die ebenso scharfen wie diffusen Parolen geben gewissermaßen dieser Aktionsgemeinschaft erst ihre eigentliche Gestalt. Sie bilden den emotionalen Kitt, der Zusammenhalt stiftet, ebenso wie durch sie die Feindbilder beschworen werden (Presse, Politiker und Ausländer), gegen die es sich abzugrenzen gilt. Der scheinbar unschuldige Ruf „Wir sind das Volk“, von der Bürgerbewegung 1989 entwendet, markiert zugleich den Anspruch, dass die eigene Haltung die eigentliche Einstellung der „schweigenden Mehrheit“ repräsentiere und gleichsam die Mitte der Gesellschaft markiere. Dabei spielt Pegida insofern virtuos auf der Klaviatur der Mediengesellschaft, als sie dieser virtuellen Öffentlichkeit immer wieder harmlose Elemente präsentiert, die die Friedlichkeit und Toleranz der Bewegung erweisen sollen: das in der montäglichen Präsenzkultur keine Rolle spielende 19 Punkte Programm gehören ebenso in diesen Zusammenhang wie das Absingen von Weihnachtsliedern.
Das Deprimierende an der gegenwärtigen Lage ist nun, dass Pegida mit dieser Strategie erhebliche diskursive Geländegewinne erzielt hat. Man spricht nicht nur mit Angehörigen der Bewegung, sondern geht ideologisch erheblich auf sie zu. Unrühmlicher Höhepunkt in diesem Zusammenhang war die Feststellung des Ministerpräsidenten, der Islam gehöre nicht zu Sachsen (http://www.welt.de/politik/deutschland/article136740584/Der-Islam-gehoert-nicht-zu-Sachsen.html). Alle inhaltlichen Differenzierungen („Muslime sind in Deutschland willkommen“) führen nicht an der Tatsache vorbei, dass damit in einem symbolisch hoch aufgeladenen Feld normativer Aussagen ein Kontrapunkt gegen Wulff und Merkel gesetzt werden soll. Damit verschieben sich die Grenzen des normativ Wünschbaren. Natürlich zielte diese Aussage auf die symbolische Integration all jener „gemäßigten“ Pegida-Anhänger, die sich damit bestätigt fühlen dürften – Schmähungen zahlen sich aus! Und gleichzeitig wurde mit dieser Aussage die Ausgrenzung der in Sachsen lebenden Muslime in Kauf genommen, ebenso die Brüskierung aller Dresdner und Sachsen, die sich gerade im Gefolge der Pegida-Debatten für Weltoffenheit und Toleranz eingesetzt haben. Dass die Verschiebung der Diskursgrenzen ganz handfeste reale Auswirkungen hat, dass es nicht nur um bloße Symbole geht, lässt sich an der steigenden Zahl der Übergriffe auf Ausländer in den letzten Monaten ablesen, wobei die Änderung des alltäglichen Klimas, von der viele Bekannte berichten, dadurch noch nicht einmal abgebildet wird (http://www.zeit.de/gesellschaft/2015-01/fluechtlinge-rassismus-angriffe-sachsen).
Affirmative „Übersetzung“ überschreitet das „Verstehen“
Wissenschaftliche Ergebnisse und Interpretationen sollten nun nicht dazu dienen, diese Tendenzen mit einer szientistischen Aura zu versehen. Wer die öffentliche Performanz, die skandalösen Parolen ebenso wie die Personen der Führungsfiguren, zu einem bloßen Oberflächenphänomen erklärt, hinter dem die eigentlich ernst zu nehmende bürgerliche Mitte lauert, der droht ungewollte Steigbügeldienste für Pegida zu leisten. Werner Patzelt wird häufiger, und in abwertender Weise, als „Pegida-Versteher“ tituliert. Er hat sich dieses Epitheton in der genannten Diskussion emphatisch anverwandelt mit der Erklärung, „Verstehen“ sei schließlich die selbstverständliche Aufgabe des Wissenschaftlers. Im Umkehrschluss verweigerten sich alle Wissenschaftler, die Pegida nicht verstehen wollten, der Wirklichkeit. Das ist schlechterdings nicht bestreitbar. Tatsächlich aber hat das Etikett des „Pegida-Verstehers“ natürlich einen anderen Subtext, weil hier „verstehen“ mit „Verständnis haben“, ergo mit „Affirmation“ gleich gesetzt wird. Die problematische Seite von Patzelts Interpretationen ist nicht das „Verstehen“, sondern das „Übersetzen“ von Pegida. Im Prozess der Übersetzung transformiert sich Pegidavon einer Erscheinung mit massiven rassistischen und undemokratischen Grundtönen hin zu einer scheinbar demokratischen Bewegung besorgter Bürger. Eine solch dramatische Akzentverschiebung überschreitet die Grenze des bloßen „Verstehens“ deutlich. Insofern besteht m. E. für die Medien weniger Anlass zur Selbstkritik als es Donsbachs Einschätzung nahelegt. Vielmehr gilt es, Pegida in seiner Erscheinungsform als Schmähgemeinschaft mit rassistischen und undemokratischen Grundtönen ernst zu nehmen. Das schließt Gespräche und Integrationsversuche von Anhängern prinzipiell nicht aus. Aber wie es Karl-Siegbert Rehberg in der Dresdner Diskussion sinngemäß formulierte, ist jeder, der den aus allen Rohren schmähenden Rednern und Parolenschreiern der Pegida hinterherläuft, für diese verbalen Verletzungen mit verantwortlich. Das muss klar benannt werden, und ebenso klar muss öffentlich gegen die Bestrebungen der Pegida Stellung bezogen werden, die Grenzen des Sagbaren zu verschieben. „Man wird doch wohl noch sagen dürfen….“ Nein, eben nicht! Dies deutlich zu sagen, bedeutet keineswegs „Verrat“ (ohnehin eine mit Blick auf die „Volksverräter“-Rufe verfehlte Semantik!) an den Werten der pluralistischen Gesellschaft, sondern deren Verteidigung.