Krise der Humanität an den EU-Außengrenzen

Analyse

Die Bilder  von der türkisch-griechischen Grenze zeigen eine Krise der Humanität und der Menschenrechte. Sascha Schießl, Mitglied des Koordinationskreises von SEEBRÜCKE, analysiert die aktuellen Geschehnisse an den EU-Außengrenzen und ruft dazu auf, solidarische Städte und Kommunen in ihrem Engagement Geflüchtete aufzunehmen zu unterstützen.

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Seebrücke-Demo in Hamburg am 07.03.2020

Abschottungslogik und Grenzgewalt

Das, was die AfD in Deutschland 2015 noch erträumt hat und wofür die Partei damals heftig kritisiert wurde, wird mit rasender Geschwindigkeit Realität an den europäischen Außengrenzen: offene Schießbefehle, völkerrechtswidriges Zurückdrängen von Menschen auf der Flucht, Aussetzen des Rechts auf Asyl, Internierung von Schutzsuchenden und Abschiebung ohne rechtsstaatliches Verfahren. Mit drastischer Gewalt versuchen die griechische Grenzpolizei und selbstorganisierte Bürgerwehren seit Ende Februar Menschen von der Flucht über die türkisch-griechische Grenze abzuhalten, mehrere Schutzsuchende sind bereits gestorben. Im Abschottungswahn zerbröseln menschenrechtliche und rechtsstaatliche Grundsätze völlig. Die griechische Regierung hat das Asylrecht (vorläufig) abgeschafft. Schutzsuchende, die es bis Griechenland schaffen, werden interniert und sollen ohne Asylverfahren abgeschoben werden. Rechtsextreme Mobs wüten auf den griechischen Inseln und bedrohen Geflüchtete, Journalist*innen und NGOs.

Diese Formen der Abschottung entlang der EU-Außengrenze sind keineswegs neu. Der Unterschied ist nur, dass solche rechtswidrigen Praktiken bislang zumeist entweder klandestin durchgeführt und öffentlich bestritten oder an externe Akteur*innen ausgelagert wurden, die auf kodifizierte Rechte keine Rücksicht nehmen (müssen).

Griechenland hingegen setzt nun selbst völlig offen auf Gewalt und Pushbacks und wird dafür von der EU gelobt. Vertreter*innen von EU-Institutionen eilen feldherrengleich an die imaginierte Front, schicken Frontex-Unterstützung zur Abschreckung und Abschottung und Millionensummen zur „Grenzsicherung“, so als befände sich die EU in einem Krieg gegen Menschen auf der Flucht. Wegen einiger tausend vom türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan instrumentalisierten Menschen auf der Flucht verfallen EU-Institutionen und europäische Regierungen in Panik und begehen bzw. billigen noch kurz zuvor undenkbare Rechtsbrüche.

Wenn die Bundesregierung nun endlich beschließt, maximal 1.000 bis 1.500 Kinder aus den griechischen Elendslagern holen zu wollen, dann ist das kein Beitrag zur Lösung der Krise von Humanität und Menschenrechten an den EU-Außengrenzen. Vielmehr wird die Abschottungspolitik mit einem humanitär wirkenden Placebo flankiert: Das begrenzte Kontingent, über das erst einmal EU-intern verhandelt werden soll, verdeutlicht, dass die Bundesregierung die humanitäre Notlage für zehntausende Menschen auf den griechischen Inseln zementiert wissen will. Denn niemand sonst soll aufgenommen werden, nicht einmal Jugendliche, schwangere Frauen oder alte Männer. Zugleich schweigt die Regierung zur Gewalt an der Grenze und sichert Griechenland ihre „Unterstützung und Solidarität“ beim „Schutz“ der Außengrenzen zu, ganz so, als seien Menschen auf Flucht eine Bedrohung. Angesichts der offenen Gewalt und Rechtsbrüche der griechischen Behörden lässt sich das nur so verstehen, dass diese Unterstützung auch für Tränengasattacken auf Menschen, Schüsse an der Grenze, Abdrängen von Schlauchbooten mit Schutzsuchenden und das Aussetzen des Asylrechts gilt.

Solidarische Städte als Orte des Ankommens und Bleibens

Angesichts dieser politischen Entwicklungen sind das Engagement der Zivilgesellschaft und die Aufnahmebereitschaft so vieler Kommunen – in Deutschland wie Europa – wichtige Zeichen für die Mehrheitsfähigkeit einer solidarischen und humanitären Politik. Denn wir brauchen nicht Abschottung, sondern Solidarität mit und Aufnahme von Menschen auf der Flucht. Die Aufnahmebereitschaft ist in Deutschland und darüber hinaus auch vorhanden. In einer Umfrage von Infratest dimap sagten 57 Prozent der Befragten, die Menschen auf der Flucht sollten die türkisch-griechische Grenze überqueren dürfen und dann auf EU-Staaten verteilt werden. Bei der Forschungsgruppe Wahlen gaben ebenfalls 57 Prozent an, Deutschland könne „es verkraften, wenn wieder deutlich mehr Flüchtlinge kommen.“ Tausende Menschen gingen seit Anfang März bei über 60 Demonstrationen und Aktionen der SEEBRÜCKE gegen Abschottung, Gewalt und Rassismus auf die Straßen. Und auch die Kirchen mahnen Menschenrechte und das Recht auf Asyl an. Pastorin Annette Behnken sagte in der ARD im Wort zum Sonntag, angesichts der Gewalt und der Abschottung „sollte sich jedem einzelnen Europäer und jeder Europäerin Tag und Nacht der Magen umdrehen. Wir müssen auf die Straßen gehen. Wir müssen die Parlamente stürmen.“

#WirhabenPlatz Aktionstag am 08.02.2020, Berlin

Diese klaren Positionierungen finden ihren Widerhall in der wachsenden kommunalen Aufnahmebereitschaft. In den vergangenen eineinhalb Jahren haben sich rund 150 Kommunen in Deutschland – Großstädte, Landkreise, Kleinstädte und Gemeinden – zu Sicheren Häfen erklärt und ihre Aufnahmebereitschaft für Menschen auf der Flucht bekräftigt. Das von der SEEBRÜCKE angestoßene kommunale Bündnis „Städte Sicherer Häfen“, das mittlerweile 46 Städte umfasst und von der Stadt Potsdam koordiniert wird, erhöht den Druck auf die Bundesregierung.

Die Oberbürgermeister*innen von Köln, Düsseldorf, Potsdam, Hannover, Freiburg im Breisgau, Rottenburg am Neckar und Frankfurt (Oder) und der niedersächsische Innenminister appellierten in einer gemeinsamen – und parteiübergreifenden – Erklärung an die Bundesregierung, endlich die Aufnahme von Geflüchteten, zuallererst unbegleiteten minderjährigen Kindern und Jugendlichen, zu ermöglichen. Die entsprechenden Kapazitäten stünden in ihren Kommunen zur Verfügung. Thomas Hunsteger-Petermann, der CDU-Oberbürgermeister von Hamm, bekräftigte in den tagesthemen die Aufnahmebereitschaft seiner Stadt. Selbst wenn es ihn das Amt kosten würde, wolle er Geflüchtete in Hamm aufnehmen. Denn man müsse abends noch in den Spiegel schauen können. Ada Colau, die Bürgermeisterin von Barcelona, und Mohammed Boudra, Bürgermeister von Al Hoceima (Marokko), schrieben im Namen des globalen Städtenetzwerks UCLG an UN-Generalsekretär António Guterres, die Städte stünden bereit, den Menschenrechtsverletzungen an den Grenzen eine andere Politik entgegenzusetzen.

Angesichts der Elendslager auf den griechischen Inseln haben sich in den letzten Wochen auch zehn Bundesländer aufnahmebereit gezeigt. Diese Bekundungen weisen in die richtige Richtung, müssen nun aber unverzüglich zu einer entsprechenden politischen Praxis führen, also zur tatsächlichen Aufnahme von den griechischen Inseln. Hierfür haben die Bundesländer nach einem aktuellen Gutachten die eigenständigen rechtlichen Kompetenzen. Ein Einverständnis mit der Bundesregierung benötigen sie nicht. Gefragt ist also eine engagierte, sich kompromisslos für Menschenrechte und das Recht auf Asyl einsetzende Politik.

Das kommunale Engagement zeigt, dass immer mehr Städte, Gemeinden und Landkreise auch eine lokale Verantwortung für eine solidarische Flüchtlingspolitik anerkennen und sich gegen das Sterben an den europäischen Außengrenzen sowie die Kriminalisierung von NGOs und Unterstützer*innen engagieren. Hier gilt es anzusetzen und die Kommunen bei der Aufnahme von Menschen auf der Flucht zu unterstützen.

Kompromisslos für Menschenrechte und Solidarität

Woran es bislang allerdings mangelt im politischen Raum, sind unmissverständliche menschenrechtsorientierte Stimmen, die eine Vision davon entwickeln, wie die Aufnahme von Menschen auf der Flucht solidarisch umzusetzen ist, ohne zugleich ein konservatives bis rechtes Framing zu bedienen. So lädt die Überbetonung von vorgeblich notwendiger „Ordnung“ und „Kontrolle“ die „Grenze“ als gefährlichen und zu schützenden Raum auf. Unausgesprochen bleibt dabei: Warum sollen die Menschen auf der Flucht an der Grenze überhaupt kontrolliert und reglementiert werden? In der Folge erscheinen Menschen auf der Flucht nicht mehr als Schutzbedürftige, sondern als diejenigen, die Unordnung bringen, Chaos verursachen, Stabilität gefährden, mithin also eine Bedrohung darstellen, die möglichst minimiert werden müsse.

Diese vermeintliche Bedrohungslage dient dann als Rechtfertigung von Gewalt an den Grenzen – einerseits auf Seiten der europäischen Regierungen, andererseits auf Seiten rechtsextremer Mobs. Die Migrationsforscherin Valeria Hänsel stellt fest: „Das ewige Mantra, 2015 dürfe sich nicht wiederholen, hat sich so tief in die Köpfe eingebrannt, dass jede Eskalationsstufe recht ist, solange keine Flüchtlinge nach Europa kommen.“ In der Tat setzen EU und Regierungen in der Furcht vor einem angeblichen „Kontrollverlust“ einerseits und dem Abkippen der vermeintlich aufnahmeskeptischen „Mitte“ ins rechtsextreme Lager andererseits noch stärker als ohnehin schon auf Abschottung und Fluchtabwehr. Und zugleich trägt es zur Selbstermächtigung der radikalen Rechten bei, wenn nahezu alle Akteur*innen im Bund und in der EU mit bloß graduellen Unterschieden von vorgeblich notwendiger „Ordnung“, „Schutz der Grenzen“ und „Deals mit der Türkei“ sprechen.

Nicht zuletzt das Niederbrennen von One Happy Family, dem Gemeinschaftszentrum der gleichnamigen schweizerischen NGO für Geflüchtete auf Lesbos, muss all jene aufrütteln, die noch immer auf beschwichtigende Worte, zurückhaltende Konzepte und die Übernahme rechter Frames setzen, weil man vermeintlich nur so mehrheitsfähig sein könne. Die Antwort auf die Abschottungspolitik und die Bedrohungsdebatten kann nur eine unmissverständliche Politik der Solidarität und Aufnahme sein.

Plakat "Menschenrechte sind für alle da", Demo Hamburg am 14.11.2015

Aufnahme statt Abschottung: Kein neuer Deal mit der Türkei

Aus menschenrechtsorientierter Sicht kann eine Fortführung oder Neugestaltung des EU-Türkei-Deals keine Lösung der humanitären Krise der EU sein. Zwar kann die EU Gelder für die Versorgung der in der Türkei aufgenommenen Schutzsuchenden zur Verfügung stellen. Dafür darf die EU aber keine Gegenleistungen wie eine Abriegelung der Grenze durch die Türkei verlangen. Denn der EU-Türkei-Deal hat nicht zu Ordnung und rechtsstaatlichen Verfahren geführt, sondern die Rechte von Geflüchteten massiv ausgehöhlt. Es ist geradezu absurd, dass Gerald Knaus, der den krachend gescheiterten EU-Türkei-Deal maßgeblich entwickelt und angepriesen hat, bei Politik und Medien in der aktuellen Situation noch immer als Experte dient, der erklären soll, wie sich die von ihm mitverursachte Humanitätskrise an der griechisch-türkischen Grenze lösen ließe.

Tatsächlich sind all jene, die weiterhin auf Abschottung und Abkommen mit der Türkei setzen, in Erklärungsnot. Wie soll ein rechtsstaatliches Abkommen aussehen, das zunächst und fundamental die Rechte von Schutzsuchenden achtet? Warum ist es fair, dass die Türkei (80 Millionen Einwohner*innen) über 3 Millionen Geflüchtete versorgen soll, die EU (450 Millionen Einwohner*innen) aber möglichst wenige aufnehmen will? Welche Perspektive sollen Geflüchtete haben, die in der Türkei unter oftmals widrigsten Bedingungen und in ausbeuterischen Verhältnissen leben müssen? Wie will die EU hinsichtlich der türkischen Syrienpolitik oder der Verfolgung von Gegner*innen des Regimes Druck auf Erdoğan ausüben, wenn die Türkei nur ihre Kontrollen an der türkisch-griechischen Grenze lockern und einige tausend Asylsuchende zur Grenze bringen muss, um massive europäische Panik auszulösen? Mit einem Abkommen bliebe die EU erpressbar, nicht zuletzt hinsichtlich der von der Türkei eingeforderten Unterstützung für ihren Krieg in Syrien und die geplante Pufferzone in Nordsyrien, die zu weiteren Vertreibungen und Fluchtbewegungen führen würde.

Menschenrechte für alle

Menschenrechte gelten ausnahmslos für alle. Notwendig ist das klare Bekenntnis für ein offenes, solidarisches Europa statt eines Europas der Abschottung, der Grenzbefestigungen, des Stacheldrahts und der Abweisung. Denn die Abriegelung von Grenzen geht immer mit Gewalt einher, die, wie sich an den EU-Außengrenzen immer wieder zeigt, gerade die Schwächsten trifft und zu Toten führt. In diesem Sinne geht es darum, die auf den griechischen Inseln und an der türkisch-griechischen Grenze festsitzenden Menschen willkommen zu heißen und sie aufzunehmen. Dafür stehen die Sicheren Häfen bereit.

Dazu braucht es jetzt Folgendes:

  1. Sofortige Evakuierung aller Geflüchteten von den griechischen Inseln bzw. vom griechisch-türkischen Grenzgebiet und Verteilung auf EU-Staaten und aufnahmebereite Kommunen.
  2. Stopp der Gewalt an den europäischen Außengrenzen. Wir brauchen jetzt eine Rückkehr zu Humanität und Rechtsstaatlichkeit. Das Grundrecht auf Asyl muss wieder ohne Einschränkungen gelten.
  3. Keine Deals mit Diktatoren. Die EU darf sich nicht länger vom Despoten Erdoğan erpressen lassen und muss den EU-Türkei-Deal aufkündigen.

 

Dr. Sascha Schießl ist Historiker und arbeitet als Referent der Geschäftsführung beim Flüchtlingsrat Niedersachsen. Außerdem gehört er zum bundesweiten Koordinationskreis der SEEBRÜCKE-Bewegung. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören die europäische Abschottungspolitik, Lager als Orte der Ausgrenzung und die Aufnahmepolitik von unten.